Die Kraft des Zauberers

Verzweifelt klammerte Tom sich am Nacken des Biests fest. Da sah er Elenna, die begann, sich im Schnee zu regen. Sie wachte auf und hob den Kopf. Als sie sah, in welcher Gefahr Tom schwebte, riss sie vor Schreck die Augen weit auf.

„Hol das Fläschchen!“, rief Tom. „Tunke einen Pfeil in die grüne Flüssigkeit und schieße ihn auf das Biest!“

Elenna kroch durch den Schnee und griff nach dem Fläschchen. Um nicht von den mächtigen Pfoten des Biests zertrampelt zu werden, rollte sie sich geschickt zur Seite. Schnell sprang sie wieder auf die Füße, zog einen Pfeil hervor und tauchte die Spitze in die Flasche. Sie legte den Pfeil auf die Bogensehne und zielte auf den Kopf des Biests.

Tom sah, dass sie Tränen in den Augen hatte. Sie starrte in das verzerrte Gesicht des Biests, das einst ihr bester Freund Silver gewesen war.

„Du schaffst das“, rief Tom ihr zu. „Du musst es tun! Das ist für Silver die einzige Möglichkeit, sich zurückzuverwandeln.“

„Aber wenn ich ihn verfehle, könnte der Pfeil dich treffen!“, rief Elenna.

„Mach dir darüber keine Gedanken“, schrie Tom. „Schieß! Schnell!“

„Es tut mir leid, Silver“, sagte Elenna. Sie zielte zwischen die Augen des Biests und ließ den Pfeil von der Sehne zischen. Er flog schnell und gerade und traf das Biest mitten auf der Stirn.

Das Biest brüllte vor Schmerz und richtete sich auf die Hinterbeine. Dann zuckte es und kippte zur Seite. Krachend landete es im Schnee. Tom wurde abgeworfen.

„Silver!“, schrie Elenna. „Oh nein! Was habe ich getan?“

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Reglos lag das Biest im Schnee. Der Pfeil ragte aus seinem Kopf. Tom rappelte sich auf und traute sich kaum zu atmen. War Silver tot?

Doch als sich die Freunde dem Körper des Biests näherten, fiel der Pfeil zu Boden. Der massige Körper begann zu schrumpfen. Elenna schluchzte vor Freude laut auf. Die Stacheln auf dem Rücken fielen auseinander. Die Schnauze und die Kiefer verformten sich, bis schließlich wieder die vertrauten Züge ihres treuen Wolfs zu erkennen waren.

Silver richtete sich wackelig auf und schüttelte den Kopf, um sein Gleichgewicht zu finden.

„Silver!“, schluchzte Elenna erleichtert auf. „Ich dachte schon, ich hätte dich getötet!“

Elennas Wolf tapste schwankend auf sie zu. Er öffnete das Maul und schleckte ihr über die Hand.

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Elenna schlang die Arme um Silvers Hals und vergrub ihr Gesicht in seinem Fell.

Da ertönte eine zornige Stimme. „Ihr habt also ein weiteres meiner Biester überwältigt!“

Tom wirbelte herum. Hinter ihm stand Malvel. Seine Augen blitzten böse und sein Zauberstab deutete auf Toms Herz. Der Zauberstab verströmte einen entsetzlichen Gestank. Angeekelt betrachtete Tom die Zähne, die im Holz des Stabs steckten, und die fellbedeckten Lederriemen, die daran hingen.

„Du wirst mich nicht noch einmal besiegen!“, drohte der Zauberer. Grüner Rauch quoll aus dem Zauberstab und schoss auf Tom zu. Schnell hob er den Schild und konnte das Schlimmste abwehren, aber ein Teil des Rauchs waberte um den Schild herum und drang ihm stinkend in Hals und Nase. Der grüne Rauch verfolgte ihn, auch als er zur Seite sprang.

„Hast du noch nicht genug angerichtet, Malvel?“, rief Tom. „Lass dieses Land in Frieden.“

„Niemals!“, schrie der Zauberer. „Ich bin nach Seraph gekommen, um die größtmögliche Macht zu erlangen. Und ich werde nicht gehen, bevor ich sie nicht habe.“

Plötzlich explodierte der Himmel über ihren Köpfen. Tom taumelte keuchend zurück. Es war die Ewige Flamme von Seraph. Sie leuchtete auf der Bergspitze vor ihnen und tauchte Schnee und Eis in ein helles Licht.

Mit einem triumphierenden Glänzen in den Augen starrte Malvel zu der Flamme hoch. Er rannte zu Toms Schlitten. „Lauft, ihr elenden Köter!“, schrie er den Hunden zu. „Steht auf! Ich befehle es euch! Bringt mich zur Ewigen Flamme!“

Tom lief los, aber der Schlitten war zu schnell. Er würde ihn nie im Leben einholen. Da hörte er Hufe durch den Schnee galoppieren.

„Tom, pass auf!“, rief Elenna. „Da ist Petra!“

Tom sprang zur Seite, als die Hexe auf ihrem Einhorn vorbeidonnerte. Das Einhorn begleitete Petra, seit Tom sie das erste Mal in Seraph getroffen hatte. Das zahme Tier war verwandelt worden und nun böse.

„Malvel!“, rief Petra mit bettelnder Stimme. „Warte! Lass mich nicht zurück.“

Tom sah zu, wie das Einhorn schneller wurde und sich in die Luft erhob. Petra hatte den rasenden Schlitten beinahe eingeholt. Gleich würde sie aufspringen können.

Doch als sie sich nach dem Schlitten streckte, drehte Malvel sich um und hieb mit der Peitsche nach ihr. Petra schrie erschrocken auf und stürzte kopfüber von dem fliegenden Einhorn. Sie landete im Schnee.

„Nein!“ Sie rappelte sich auf und schrie verzweifelt, denn der Schlitten verschwand hinter dem Horizont und das Einhorn mit ihm. Heulend ließ sie sich auf die Knie fallen.

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Tom schüttelte den Kopf. Malvel hatte nicht nur Elenna und ihn zurückgelassen, sondern auch die Hexe sich selbst überlassen.