A malia kochte vor Zorn. Dies war für sie ein ungewöhnlicher Gemütszustand, denn normalerweise zeichnete sie sich durch ein zurückhaltendes, ausgeglichenes Wesen aus. Nun jedoch hätte sie gerne geschrien, jemanden geschlagen oder irgendetwas Zerbrechliches in hundert kleine Teile zerschmettert. Doch all dies tat sie nicht, wissend, dass es zu nichts führen und auch nichts ändern würde. Stattdessen machte sie sich auf die Suche nach ihrem Gemahl, was sich als schwieriger herausstellte als gedacht. Treppauf, treppab lief sie im Wohnhaus, durchsuchte den Hof und die Stallungen, fragte jede Magd und jeden Knecht, doch niemand hatte Oswald vom Langenreth gesehen. Das Gut verlassen haben konnte er jedoch nicht, denn sein Pferd stand nach wie vor im Stall, und zu Fuß würde er seiner Lebtage niemals den Weg in die Stadt auf sich nehmen.
Der heiße Knoten, der sich in ihrer Magengrube gebildet hatte, begann sich allmählich aufzulösen, als sie erneut das Wohnhaus betrat und den letzten möglichen Ort aufsuchte, an dem Oswald sich, abgesehen vom Keller, verkrochen haben könnte: die kleine Familienkapelle im Ostflügel.
Ihr Zorn wallte sogleich wieder auf, als sie Oswald still und mit hängenden Schultern vor dem einfachen Altar aus dunkelgrauem Basalt knien sah. Mit wenigen Schritten war sie bei ihm, bekreuzigte sich gewohnheitsmäßig in Richtung des Kreuzes mit dem geschnitzten leidenden Jesus und verschränkte die Arme fest vor dem Leib. »Habt Ihr es gewusst?« Ihre Stimme hallte ein wenig in dem kargen Gewölbe wider.
»Nein.« Oswald sah sie nicht an, sondern hielt seinen Blick starr auf den Altar gerichtet.
»Aber es ist wahr? Hannes ist Euer Sohn?« Kurz schnürte sich ihr die Kehle zu, doch der Zorn in ihr war stärker als die Furcht vor der Wirkung ihrer Worte auf den Gemahl.
Sie hatte noch niemals ihre Stimme gegen ihn erhoben, doch nun konnte sie nicht einmal mit viel Willenskraft verhindern, dass ihr Ton lauter und mit jedem Wort schärfer wurde. »Ihr braucht nicht darauf zu antworten. Ich sehe Euch die Antwort an, und selbst wenn es nicht so wäre, könntet Ihr mich doch nicht hinters Licht führen. Ich habe das Muttermal gesehen, Herr Oswald. Es ist haargenau dasselbe, das Ihr tragt. Außerdem hat der Junge Eure Augen. Zuerst dachte ich, es seien vielleicht Herrn Conlins Augen, denn sie ähneln den Euren, doch ich lebe schon lange genug hier, um ihn mehr als einmal mit entblößtem Oberkörper gesehen zu haben.«
Nun fuhr Oswalds Kopf doch hoch, und er starrte sie mit einem undefinierbaren Gesichtsausdruck an.
Amalia schürzte die Lippen. »Wagt es ja nicht, mir oder vielmehr uns unschickliches Verhalten oder gar Schlimmeres vorzuwerfen, Oswald! Ich war Euch stets treu, und Euer Bruder hätte es niemals gewagt, auch nur einen Blick an mich zu verschwenden. Gelegenheiten gab es mithin dennoch genügend, mir ein Bild von dem zu machen, was sich unter seiner Kleidung befindet. Ihm fehlt dieses Mal, von dem Ihr mir einmal erzählt habt, es werde in der männlichen Linie Eurer Familie vererbt, jedoch nicht an alle Kinder gleichermaßen. Euer Bruder trägt es nicht, doch unser Sohn Walther besitzt es und ebenso unsere Tochter Adelheid, auch wenn dies Euch vielleicht überraschen oder sogar wenig gefallen dürfte. Warum sich dieses Mal entschlossen hat, in der uns nachfolgenden Generation auch ein weibliches Familienmitglied zu kennzeichnen, erschließt sich mir zwar nicht, doch es tut auch nicht weiter zur Sache. Ihr seid Hannes’ Vater.«
»Ich wusste es nicht.« Oswalds Stimme klang rau und brüchig, was so gar nicht zu seinem aufbrausenden Wesen passte und Amalia einen Schritt zurückweichen ließ, da sie jeden Augenblick einen Wutausbruch erwartete. In solchen Momenten musste sie nicht selten die Gewalt ihres Gemahls erleiden. Doch diesmal blieb er ganz ruhig stehen, ließ Schultern und Arme seltsam kraftlos hängen, und fast schien es ihr, als würde er sie gar nicht wahrnehmen, sondern durch sie hindurchblicken.
Sie schauderte, verschränkte die Arme noch fester, wie um sich selbst Halt zu geben. Wieder brodelte eine Welle des Zorns in ihr hoch. »Wie konntet Ihr das tun?« Der scharfe, eisige Ton ihrer Stimme erschreckte sie selbst ein wenig.
Zwischen Oswalds Augen erschien eine steile Falte, seine Miene verhärtete sich. »Ich sagte doch, Frau, ich wusste nichts davon. Wenn ich es gewusst hätte …«
»Wenn Ihr davon gewusst hättet?«, unterbrach sie ihn und trat nun doch wieder einen Schritt auf ihn zu. »Was dann? Hättet Ihr sie statt meiner zur Frau genommen? Glaubt nicht, dass ich dieser einfachen Rechenoperation nicht fähig bin. Der Junge ist kurz vor Adelheid zur Welt gekommen. Das lässt mich leicht nachvollziehen, wann seine Zeugung stattgefunden haben muss. Sagt, waren wir zu diesem Zeitpunkt schon verlobt oder habt Ihr Euch nur wenig später dazu entschlossen, um meine Hand anzuhalten?«
Er holte Luft, weil er offenbar etwas darauf erwidern wollte, doch sie hob in einer entschiedenen Geste die Hand. »Wie konntet Ihr es wagen?«
Oswalds Miene versteinerte noch mehr, doch um seinen Mund herum grub sich ein verzerrter Zug ein, und ganz kurz vermeinte sie, sein Kinn würde zittern. Seine Stimme tat das hörbar, als er antwortete: »Sie hat mir nichts davon gesagt. Wie hätte ich ahnen sollen …? Der Ehevertrag mit deinem Vater war bereits gesiegelt, der Hochzeitstermin festgesetzt. Ich weiß nicht, warum sie mir verschwiegen hat, dass sie … dass wir … Es war etliche Wochen später und schon nach unserer Trauung, als Graf Johann verlautbaren ließ, dass Reinhild diese Witzfigur, den Winneburger, ehelichen würde. Als sie nur etwa sieben Monate später mit dem Jungen niederkam, ging ich davon aus, dass sie einfach …«
»Einfach was?« Amalia schlug die Hand vor den Mund, um sich daran zu hindern, ihrem Gemahl ins Gesicht zu spucken. »Dass sie zweimal kurz hintereinander mit zwei verschiedenen Männern Unzucht getrieben hatte? Reinhild? Die wohlbehütete Tochter des Grafen Johann von Manten, die noch dazu für ihr zurückhaltendes, tugendhaftes Wesen weithin bekannt war – und immer noch ist? Dachtet Ihr wirklich, sie würde so etwas tun? Für wie schlecht haltet Ihr uns Frauen eigentlich? Oder seid Ihr wirklich so …« Sie schluckte hart. »Dumm?« Sie sah, wie Oswald zusammenzuckte, und wich sicherheitshalber doch wieder ein wenig vor ihm zurück. Doch ihre Worte konnte sie nicht aufhalten. »Ich frage Euch noch einmal: Wie konntet Ihr das tun?«
Oswald ballte die Hände zu Fäusten, regte sich jedoch nicht. »Das hatte nichts mit dir oder unserer Ehe zu tun. Ich war …«
»Nein!« Fuchsteufelswild starrte sie ihn an. »Es geht hier nicht um mich. Mit Eurer Untreue habe ich zu leben gelernt. Doch wie konntet Ihr dies Reinhild antun? Wie sie verführen und dann ohne Reue ihrem Schicksal überlassen? Sie muss Euch sehr zugetan gewesen sein, anders kann ich mir nicht erklären, wie sie sich überhaupt zu so etwas hat überreden lassen. Und dann habt Ihr nicht einmal den Anstand und die Ehre besessen, sie umgehend um ihre Hand zu bitten? Selbst wenn sie nicht schwanger geworden wäre, Ihr habt ihr die Tugend genommen, den größten Wert, den eine Jungfer besitzt. Allein diese Tatsache hätte Euch veranlassen müssen, auf der Stelle zu Graf Johann zu gehen und ihn um Erlaubnis zu bitten, Reinhild zu heiraten. Ihr hättet den Ehevertrag mit meinem Vater auflösen können. Das hätte Euch zwar einiges an Geld gekostet, doch Ihr hättet Euch wie ein wahrer Ehrenmann verhalten. Stattdessen habt Ihr vermutlich nicht einen weiteren Gedanken an die arme Reinhild verschwendet und seid überdies in abscheulicher Weise auch noch davon ausgegangen, dass sie nichts Besseres zu tun hatte, als sich gleich darauf von einem anderen Mann ein Kind machen zu lassen, obwohl sie wusste, dass dies bestenfalls zu viel Gerede führen und schlimmstenfalls ihren Ruf und den ihrer Familie für immer schädigen würde.« Über die fassungslose Miene, mit der er sie anstarrte, konnte sie nur den Kopf schütteln. »Ich hätte Euch wirklich für klüger gehalten.«
Sie wandte sich ab und ließ sich, ohne ihn noch eines weiteren Blickes zu würdigen, auf einer der drei unbequemen, schmucklosen hölzernen Bänke nieder. »Sagt, Herr Oswald, wie wollt Ihr dieses Unrecht jemals wiedergutmachen?«
Sie erhielt darauf keine Antwort. Stattdessen hörte sie, wie Oswald geräuschvoll die Luft ausstieß und dann seine Schritte auf dem kalten, steinernen Boden, die sich von ihr entfernten. Ergeben schloss sie die Augen, schüttelte erneut den Kopf. Dann begann sie zu weinen.
***
Bruder Genericus wich hastig zur Seite, als Oswald die Kapelle verließ und, offenbar ohne ihn zu bemerken, das Weite suchte. Für einen Moment blickte er ihm nach, unsicher, wie er sich verhalten und ob er Oswald nicht vielleicht sicherheitshalber folgen sollte. Doch er entschied sich dagegen, als er Amalias leises Schluchzen aus dem Inneren der Kapelle vernahm. Er hatte die beiden nicht absichtlich belauscht, sondern war nur durch Zufall Zeuge dieser recht einseitigen Auseinandersetzung geworden, weil er sich nebenan in der winzigen Schreibstube aufgehalten hatte, die man ihm in seiner Eigenschaft als familieneigener Beichtvater zugestanden hatte. Es war lediglich ein karges Kämmerchen mit Stuhl, Schreibpult und einigen Truhen und Laden sowie einem schmalen Regal, in dem sich Abschriften von theologischen Abhandlungen aneinanderdrängten, die offenbar vor vielen Jahren einmal sein Vorgänger, Bruder Fidelmus, angefertigt hatte. Genericus, unter dem weltlichen Namen Gerold vor nicht ganz einunddreißig Jahren als Sohn des jüngeren Bruders von Graf Walther vom Langenreth geboren, war auf Wunsch seines Vaters bereits als Junge von zwölf Jahren in den Orden der Dominikaner eingetreten und hatte sechs Jahre später die ewigen Gelübde abgelegt und die Priesterweihe empfangen. Viele Jahre lang hatte er im Dominikanerkonvent in Köln gelebt und dem Herrn, dem Allmächtigen, gedient. Erst vor Kurzem war er von dort hierher in seine Heimatstadt und auf das Gut seiner Familie zurückentsandt worden. Entsandt, so musste er reumütig bei sich selbst zugeben, war hierbei eine viel zu schmeichelhafte Umschreibung dessen, was tatsächlich geschehen war. Man hatte ihn in Köln schlicht und ergreifend loswerden wollen, und dazu war dem stellvertretenden Prior, Bruder Thomasius, der Umstand gerade recht gekommen, dass Oswald ihn, Genericus, während eines Besuchs im Kloster in einem Anflug geistiger Verwirrung so schwer verprügelt hatte, dass er einige Tage auf der Krankenstation hatte verbringen müssen.
Selbstverständlich hatte das Kloster Anklage gegen Oswald erhoben, der daraufhin in den Kölner Frankenturm gesperrt worden war. Um der Bestrafung in Form einer beträchtlichen Geldforderung seitens der Dominikaner zu entgehen, hatte Oswalds jüngerer Bruder Conlin eingewilligt, Genericus als Familienbeichtvater auf Gut Langenreth aufzunehmen. Doch nicht nur ihn, sondern auch den personifizierten Grund für die Abneigung, die die Dominikaner mehr oder weniger offen gegen Genericus hegten: seine siebenjährige Tochter Ida.
Er war ganz sicher nicht stolz auf die Tatsache, dass er einst während der Ausübung seiner Tätigkeit als Schulmeister in einer angesehenen Kölner Bürgerfamilie schwach geworden und der Versuchung in Person einer der liebreizenden Töchter des Hauses erlegen war. Körperstrafen, Kasteiung und viele, viele Stunden kniend auf dem kalten Steinboden der Kirche des Dominikanerklosters hatte er klaglos und voller Reue über sich ergehen lassen und keine Einwände erhoben, als die Familie von Idas Mutter das Kind gleich, nachdem es von seiner Amme entwöhnt worden war, in die Obhut der Kölner Dominikanerinnen gegeben hatte. Was hätte er auch dagegen ausrichten sollen? Die Nonnen, so viel wusste er zumindest, hatten sich des Mädchens mit liebevoller Strenge angenommen, während Elsa, Idas Mutter, wenig später mit einem auswärtigen Kaufmann vermählt worden war und die Stadt verlassen hatte. Er hatte sie niemals wiedergesehen, jedoch die Erlaubnis erhalten, sich als Idas Onkel ausgeben zu dürfen und in dieser Eigenschaft als ihr Vormund zu agieren. Warum man ihm den Kontakt zu seiner Tochter nicht vollends verboten hatte, hatte er lange Zeit nicht begriffen. Erst als er Idas Großvater rein zufällig einmal in der Stadt begegnet war, hatte dieser ihm mit harschen Worten klargemacht, dass er die Frucht der Unzucht seiner Tochter unter keinen Umständen mit seiner Familie in Verbindung gebracht haben wollte. Deshalb hatte er verfügt, noch dazu gegen eine erkleckliche Geldzahlung, dass die Vormundschaft über das kleine, unschuldige Mädchen an Genericus übertragen wurde.
Nun lebte sie seit wenigen Monaten mit ihm zusammen auf Gut Langenreth. Genericus war den Frauen der Familie unendlich dankbar, dass sie sich ohne ersichtliche Vorbehalte des Mädchens angenommen hatten und es nun gemeinsam mit Oswalds und Amalias Kindern sowie dem kleinen Hannes umsorgten und erzogen.
Eine der Auflagen bei seinem Fortgang aus dem Konvent bestand darin, dass er dem Prior sowie dem Abt in regelmäßigen Abständen schrieb, um ihnen seine Tätigkeiten als Beichtvater darzulegen. In diesen Briefen hielt er sich bewusst stets vage, denn einerseits wollte er seine Verwandten unter keinen Umständen in irgendeiner Form bloßstellen oder gar deren Geheimnisse verlautbaren, und andererseits hoffte er, dass die Kölner Dominikaner über kurz oder lang das Interesse an ihm verlieren und seine Berichte womöglich gar nicht mehr lesen oder nur am Rande wahrnehmen würden. Es kam nicht infrage, dass er mit irgendwelchen unbedachten Äußerungen oder Formulierungen schlafende Hunde weckte.
Genericus war nicht aus Neigung Priester geworden, dennoch nahm er seine Aufgabe als Familiengeistlicher und Beichtvater sehr ernst. Er war gerne Seelsorger und auch recht gut darin, sodass er nun vorsichtig an die Bank herantrat, auf der Amalia mit gesenktem Haupt schluchzend saß, und räusperte sich verhalten.
Ihr Kopf hob sich ruckartig, und als sie ihn erkannte, weiteten sich ihre Augen erschrocken; zugleich breitete sich eine verlegene Röte auf ihren Wangen aus. Fahrig wischte sie mit dem weiten Ärmel ihres rostbraunen, schon etwas abgeschabten Samtkleides über Augen und Gesicht und fasste sich mit der anderen Hand ordnend an die helle, mit bunten Ornamenten bestickte Leinenhaube, die ihr braunes Haar größtenteils bedeckte. »Bruder Genericus.« Ihre Stimme schwankte leicht. »Ich habe Euch gar nicht hereinkommen hören.« Ein argwöhnischer Ausdruck trat in ihre grauen Augen, der erkennen ließ, dass sie sich fragte, wie viel von dem, was zuvor in der Kapelle geredet worden war, an sein Ohr gedrungen sein könnte.
»Verzeiht, Frau Amalia, ich wollte mich nicht anschleichen.« Genericus ging um die Bank herum und ließ sich neben ihr nieder. Da er nicht vorhatte, sie zu belügen, sprach er rasch und in ruhigem Ton weiter: »Ich war bis eben in meiner Schreibstube beschäftigt. Jedes Wort, dass hier in der Kapelle gesprochen wird, dringt klar und deutlich dort hinüber. Das liegt wahrscheinlich an der Bauweise der Kapelle. Das Gewölbe trägt den Schall außerordentlich weit.«
Amalias Blick flackerte, gleich darauf senkte sie den Kopf wieder. Er konnte sehen, dass sie um Fassung rang, und auch, dass ihr erneut Tränen über die Wangen rannen.
Der Anblick rührte sein mitfühlendes Herz. Zwar wusste er beim besten Willen nicht, was er sagen oder wie er ihr Trost spenden sollte, doch zumindest ergriff er vorsichtig ihre Hand und drückte sie leicht. »Der Herr, der allmächtige Vater, erlegt uns zuweilen schwere Prüfungen auf. Ihr seid verständlicherweise aufgewühlt über die Ereignisse, und ich kann Euren rechtschaffenen Zorn gut verstehen.«
Erneut hob Amalia ruckartig den Kopf, blickte ihn stirnrunzelnd an und dann auf ihre Hand in der seinen. Ihre Finger zuckten leicht, doch sie entzog sie ihm nicht. »Wollt Ihr mir nun darlegen, dass es einer braven christlichen Ehefrau wohl ansteht, alle Grillen und Fehltritte ihres Gemahls demütig hinzunehmen?«
Genericus bemühte sich standhaft, ein Lächeln zu unterdrücken. Er kannte Amalia nur als demütige, sogar unterwürfige Gemahlin, die sich stets möglichst unauffällig verhielt, ohne jeden Widerspruch alles tat, was Oswald von ihr verlangte, und die offenbar gelernt hatte, dass es zu ihrem Vorteil gereichte, wenn sie unscheinbar blieb und möglichst von niemandem wahrgenommen wurde. Doch nun blitzte zum ersten Mal so etwas wie Widerspruch in ihren Augen auf, und der, so konstatierte er bei sich, stand ihr ausgesprochen gut. »Um ehrlich zu sein«, gab er deshalb zu, »erstaunt es mich, dass Ihr ihm nicht ins Gesicht gesprungen seid.«
Verblüfft merkte sie auf. »Hättet Ihr das denn gutgeheißen?«
»In meiner Eigenschaft als Priester und Seelsorger?« Nun lächelte er doch verhalten. »Schwerlich. Doch verstanden hätte ich es mithin sehr wohl. Wie gesagt, es ist nicht einfach, die Prüfungen und Bürden, die der Herrgott uns auferlegt, stets mit Gleichmut zu erdulden. Ich glaube nicht, dass er Euch dafür zürnen wird, wenn Ihr Eurem Ärger hin und wieder Luft macht.«
»Dieser Ansicht seid Ihr?« Erstaunt musterte sie ihn. »Solche Worte hört man gemeinhin nicht von einem Geistlichen, schon gar nicht, wenn sie sich an eine Frau richten. Wollt Ihr mir nicht nahelegen, mich zu beruhigen und meinem Gemahl seine irrwitzige Dummheit zu verzeihen?«
»Mir scheint«, formulierte er vorsichtig, »eine gewisse Dosis jenes rechtschaffenen Zorns tut Euch ganz gut, Frau Amalia. Euer Geist scheint davon belebt zu werden, was zumindest Eurem ansonsten für mein Dafürhalten viel zu blassen Antlitz zum Vorteil gereicht. Ihr seht, wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf, nicht gesund aus. Man sieht es nicht nur an der Blässe auf Euren Wangen, sondern auch an der Tatsache, dass Eure Kleider Euch zu weit geworden sind. Natürlich ist mir zu Ohren gekommen, dass Ihr vor einiger Zeit ein Kind verloren habt, und die Trauer darüber in Eurem Herzen vermag ich mir kaum vorzustellen.« Als sie hart schluckte, verfluchte er sich beinahe für seine Worte, fuhr aber dennoch entschlossen fort: »Dieses Kind wird dereinst ins ewige Himmelreich aufgenommen werden, dessen bin ich mir sicher, da man mir berichtete, es sei noch rechtzeitig getauft worden. Dies mag Euch jetzt noch kein Trost sein, doch vielleicht hilft es Euch eines Tages, den Verlust zu verschmerzen. Um Eurer selbst willen und im Hinblick auf Eure lebenden Kinder und Eure Familie, solltet Ihr jedoch versuchen, Euch weniger auf den Verlust, sondern vielmehr auf das Leben zu konzentrieren. Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Es ist kein anderes Gebot größer als dieses. So steht es in der Heiligen Schrift geschrieben. So nehmt dieses Gebot denn auch wörtlich und liebt die Menschen, die Euch nahestehen, aber auch Euch selbst.« Um seine Worte zu bekräftigen, drückte er noch einmal leicht ihre Hand.
»Mich selbst?« Als wäre ihr die Bedeutung jenes Gebots noch niemals vollumfänglich aufgegangen, runzelte sie die Stirn. »Ist das Euer Ernst, Bruder Genericus?«
Er neigte den Kopf leicht zur Seite und lächelte erneut verhalten. »Mit dem Wort Gottes pflege ich keine Scherze zu treiben, Frau Amalia.« Als sich ihre Blicke begegneten, verhakten sie sich für einen langen Moment ineinander. Ein schmerzlicher, Unheil verkündender Stich durchzuckte ihn, sodass er rasch ihre Hand losließ und ein wenig von ihr abrückte. Sein Herzschlag hatte sich ein klein wenig beschleunigt, alarmierend und angenehm belebend zugleich.
Amalia wirkte verletzt und ungehalten darüber, dass er ihr diesen Beistand, seine Hand, entzogen hatte. »Ich weiß nicht einmal, wie ich das anstellen soll«, murmelte sie. »Mich selbst lieben? Das erscheint mir so …«
»Falsch?«, half er vorsichtig nach. »Es ist ein Gebot Gottes, Amalia, wenn auch eines, das kaum jemals beachtet und erst recht nicht begriffen wird.«
»Und was soll ich jetzt tun?« Ehe er darauf antworten konnte oder auch nur einen klaren Gedanken fassen, warf Amalia sich ihm in die Arme, presste ihr Gesicht in den weißen Stoff seines Habits und begann erneut zu weinen.