E inen elenden Feigling schalt Benedikt sich, weil er sich auf dem Weg nach Vilseck wieder einmal über Gebühr viel Zeit gelassen hatte. Doch sosehr es ihn danach verlangt hatte, Beatrix einen Besuch abzustatten – er hatte sich zunächst einmal schlicht und ergreifend an den Gedanken gewöhnen müssen, dass er ein Kind gezeugt hatte. Eine Tochter, die er niemals kennenlernen würde. In der Nacht, nachdem er Gut Heidenstein verlassen hatte, war es ihm nicht möglich gewesen, auch nur für einen kurzen Moment die Augen zu schließen, ohne Bilder aus der Vergangenheit vor sich zu sehen, lange, lange vergessene Erinnerungen. Mit brutaler Gewalt hatten sie ihn heimgesucht, ihm den Schlaf geraubt und seiner Seele ungeahnte Qualen verursacht. Dabei hatte Mechthild im Grunde sogar recht. Warum sollte er um ein Kind trauern, selbst wenn es von seinem Blut war, von dessen Existenz er bis jetzt nicht einmal etwas geahnt hatte? Warum sollte es ihn bekümmern, dass diese Tochter nun gestorben war, ohne dass er mehr als ihren Namen kannte? Es widersprach jeglicher Vernunft, und dennoch war ihm, als habe jemand ihm das Herz herausgerissen. Zumindest den Teil, dessen er nicht schon bei seinem Weggang aus Koblenz verlustig gegangen war.
Was ihn daran am meisten beunruhigte, war womöglich die Tatsache, dass er sich der Existenz jenes Herzens bis vor nicht allzu langer Zeit nicht einmal bewusst gewesen war. In den langen, einsamen Stunden, die er auf dem Rücken seines Rappen der Stadt Vilseck entgegenritt, versuchte er sich darüber klar zu werden, woher diese plötzlichen tiefen Empfindungen kommen mochten. Er hatte sein Leben stets unter den Vorzeichen kühler Vernunft geführt. Etwas anderes war ihm nicht übrig geblieben, nachdem er in so jungen Jahren bereits allein auf sich gestellt gewesen war. Gefühle jedweder Art, gleich ob Furcht, Trauer, aber auch Freude und Liebe wären ihm in seinem Überlebenskampf nur hinderlich gewesen. So hatte er früh gelernt, alle Empfindungen zu unterdrücken, von sich zu schieben oder tief in seinem Inneren zu verschließen. War das vielleicht auch der Grund dafür, dass Palmiro nicht fähig gewesen war, sein Seelenlicht zu erkennen? Weil er selbst dafür gesorgt hatte, dass es erlosch?
Palmiro.
Nein! Mit aller Kraft, derer er fähig war, verdrängte er alle Gedanken an ihn, auch wenn das zu der bitteren Erkenntnis führte, dass er nunmehr schlichtweg alles verloren hatte, wofür es sich möglicherweise zu leben lohnte. Die Ironie, die dieser Erkenntnis innewohnte, stach ihm wie ein gemeiner Dorn ins Fleisch. Wäre er nicht damals weggelaufen, hätte er seine Tochter zumindest kennenlernen dürfen. Wäre er jedoch geblieben, was hätte es ihm gebracht? Die Wahrscheinlichkeit, dass man ihm erlaubt hätte, in seinem jugendlichen Alter dem Kind ein Vater zu sein, war verschwindend gering. Viel wahrscheinlicher wäre es gewesen, dass er die Kutte genommen hätte und, dem Wunsch seines Onkels gemäß, Karriere bei den Benediktinern gemacht hätte – wenn er denn dazu fähig gewesen wäre, denn er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass ein Leben eingesperrt hinter Klostermauern ihm nicht den Lebenswillen geraubt hätte. Also war seine Flucht unumgänglich gewesen, ebenso wie die Tatsache, dass er dadurch seine Tochter niemals zu Gesicht bekommen hatte.
Schmerz bereitete ihm noch eine weitere Frage, die er sich wieder und wieder stellte: Wäre er nicht jenes schicksalhaften Auftrags durch den Inquisitor Erasmus von London wegen nach Koblenz gereist und hätte dort Palmiro kennengelernt, der allein durch seine Existenz bereits seinen Blick auf die Welt auf den Kopf gestellt hatte, hätte er sich dann überhaupt jemals um Alin geschert? Wäre er nach Hause zurückgekehrt? Und selbst wenn er das getan hätte, wie hätte er sich verhalten?
Die Zeit in Koblenz an Palmiros Seite hatte ihn verändert. Er hatte sich dagegen gewehrt, nicht wahrhaben wollen, dass dieser außergewöhnliche Mann etwas Ungekanntes in ihm auslöste und scheinbar ohne Anstrengung fähig war, die Bastionsmauern, die sein Herz und seine Seele umgaben und die er für unüberwindlich gehalten hatte, mit einem einfachen Blick, einem Lächeln, einer frechen Bemerkung einzureißen.
Was wäre aus ihm geworden, wenn Erasmus ihn nicht nach Koblenz entsandt hätte, sondern irgendwo anders hin? Wenn er gar nicht erst in den Dienst des Inquisitors getreten wäre? Wohin hätte ihn sein Weg geführt? Und was, andersherum gedacht, hatte diese Begegnung hinsichtlich seines Schicksals bewirkt? Sein Herz, seine Seele, lagen bloß, tief verwundet und von einem Schmerz erfüllt, den sich vorzustellen er bis vor Kurzem nicht einmal in der Lage gewesen war. Dennoch war er nicht fähig, sich zu wünschen, Palmiro niemals begegnet zu sein. Lästiges Herz, verdammter Schmerz. Wenn er nicht schon vollständig der Verdammnis anheimgefallen war, konnte er doch zumindest herausfinden, ob er mit dem Rest seines jämmerlichen Daseins nicht zumindest Abbitte leisten können würde.
Zwar war er in seinem Leben erst ein einziges Mal in Vilseck gewesen, doch er brauchte nicht lange, um sich zu orientieren und das Anwesen Dietmars von Siebern ausfindig zu machen. Es handelte sich um ein schmales Haus mit zwei Obergeschossen, an das auf der hinteren rechten Seite ein Stall sowie eine Remise angebaut waren. Wenngleich kein sonderlich großes Anwesen, war eindeutig Wohlstand zu erkennen, denn die Fenster der oberen beiden Geschosse waren mit teuren Butzenglasscheiben versehen, die Fassade frisch geweißt, das Dach mit teuren Ziegeln gedeckt. Ganz offensichtlich hatte Beatrix es in materieller Hinsicht gut getroffen. Die Ehe mit dem um mehr als drei Jahrzehnte älteren Mann hatte sie offensichtlich nicht der Annehmlichkeiten beraubt, auf die sie von ihrem Stand her einen Anspruch gehabt hatte. Viele Frauen in einer ähnlichen Situation wie der, in die Beatrix geraten war, trafen es nicht so gut. Vermutlich sogar die meisten nicht. Auch was das anging, musste Benedikt Mechthild wohl oder übel recht geben. Herr Leonhard hatte offensichtlich sein Bestes getan, um alle Beteiligten vor dem Schlimmsten zu bewahren.
Alle Beteiligten außer ihn, Benedikt, der sich sowohl seinem Schicksal als auch seiner Strafe entzogen hatte.
Eine geraume Weile blieb er vor dem Haus stehen, nicht sicher, wie er das Gespräch mit Beatrix eröffnen sollte. So lebendig ihm die Erinnerungen vor Augen standen, so peinlich waren sie ihm mit einem Mal auch. Die Frage, was er sich damals wohl gedacht haben mochte, erübrigte sich, denn ein Bursche von nicht einmal vierzehn Jahren pflegte vermutlich so gut wie gar nicht nachzudenken, schon gar nicht, wenn in ihm aufgewühlte Körpersäfte brausten und eine hübsche und nur allzu willige Maid ihm Zugang zu der verbotenen Frucht gestattete. Erst wenige Monate vor diesem Ereignis hatte einer von Herrn Leonhards älteren Knappen, der kurz vor dem Ritterschlag gestanden hatte, ihn und Rudolf heimlich mit in ein Dirnenhaus in Amberg genommen. Zumindest hatte er furchtbar geheimnisvoll getan und ihnen beiden gegenüber behauptet, dass dieser Besuch bei den käuflichen Frauen geheim bleiben müsse. Nun fragte sich Benedikt nachgerade, ob nicht sogar sein Onkel dahintergesteckt hatte. Im Laufe der Jahre hatte er viele Männer wie seinen Onkel kennengelernt, und nicht wenige von ihnen hatten ihre Söhne und Knappen frühzeitig mit den Dirnen in Berührung gebracht, um sie besser lenken zu können und wohl auch, um solche Fehltritte wie den seinen von vornherein zu vermeiden.
Was also sollte er zu Beatrix sagen, wie sein Verschwinden rechtfertigen? Er hatte ganz sicher nicht vorgehabt, sie in Schwierigkeiten zu bringen, doch nun war es offensichtlich zu spät, sich darüber Gedanken zu machen.
Da er sich nicht länger selbst einen Feigling schimpfen wollte, trat er entschlossen auf die mit Blattwerk beschnitzte Haustür zu und betätigte den eisernen Klopfer.
Es dauerte nur wenige Atemzüge, bis die Tür von einem hochgewachsenen Knecht mit verwachsener Hasenscharte und dünnem schulterlangem braunem Haar geöffnet wurde. »Guten Tag, Herr«, nuschelte er und stieß beim Atmen ein pfeifendes Geräusch aus. »Ihr wünscht?«
Benedikt atmete tief durch. »Sei gegrüßt, Bursche. Ich möchte Frau Beatrix sprechen – und Herrn Dietmar, wenn es möglich ist«, setzte er rasch hinzu, als sich die Brauen des Knechts verblüfft hoben. »Ich bin ein … Wir kennen uns von früher, doch ich war lange Zeit in der Fremde.«
»Euer Name?« Es sah nicht so aus, als wolle der Knecht ihn so ohne Weiteres einlassen.
»Benedikt vom Heidenstein.«
»Henns? Wer ist denn da? Etwa schon wieder der Kesselflicker? Den habe ich doch erst vorgestern weggeschickt, weil er …« Die weibliche Stimme, die irgendwo aus dem Inneren des Hauses geschallt war, kam immer näher und brach dann jäh ab. »Nanu, doch nicht der Kesselflicker, sondern ein Edelmann? Wen haben wir denn da?« Dass es sich bei der Frau im rostbraunen Brokatkleid um Beatrix handelte, erkannte Benedikt sofort, obgleich sie seit damals um einiges rundlicher geworden war und ihr seidiges schwarzes Haar vollständig unter einer ebenfalls rostrot eingefärbten Leinenhaube verborgen trug. Doch ihr wacher Blick aus strahlend blauen Augen und die eigenwillig geschwungenen, vollen Lippen waren unverkennbar. Als sie nun an die Tür trat, machte der Knecht ihr hastig Platz. »Wen haben wir denn da?«, wiederholte sie und musterte Benedikt neugierig. Er konnte den Augenblick, da sie ihn erkannte, an ihrer Miene ablesen, die sich für einen kurzen Moment zu einem stummen Schrei verzog. »Bei der seligen Gottesmutter und allen Heiligen!« Sie bekreuzigte sich gleich zweimal hintereinander. »Benedikt?«
Der heiße Knoten in seinen Eingeweiden, der ihn schon im Haus seines Onkels geplagt hatte, machte sich erneut bemerkbar. »Sei gegrüßt, Beatrix.« Er versuchte sich an einem Lächeln, das ihm jedoch gründlich misslang. »Ich … erfuhr im Hause meines Onkels, dass du inzwischen hier lebst, und da dachte ich … Ich wollte …« Verärgert über sich selbst brach er ab.
»Liebe, heilige Gottesmutter«, brachte Beatrix gepresst heraus. Sie hatte beide Hände an die Wangen gelegt und starrte ihn ungläubig an. »Du lebst. Ich … Du lebst noch! Wie ist das möglich? Wo bist du all die Jahre gewesen?« Von einem Lidschlag zum nächsten fiel die Starre, die sie befallen zu haben schien, von ihr ab. Sie fasste ihn energisch am Arm und zog ihn ins Haus. »Herein, nur herein mit dir! Henns, lauf zu und bring Brot und Käse in die Stube und Wein, den guten! Sag deiner Schwester Bescheid, dass sie auch von den süßen Wecken aus der Vorratskammer holen soll und geräucherten Schinken. Unser Gast soll es bequem haben. Gewiss ist er hungrig nach dem Ritt. Du kommst direkt aus Amberg, nehme ich an? Dann war die Reise nicht sehr angenehm bei dem nasskalten Wetter, oder? Noch tauen die Schneeflocken, die ab und zu fallen, schnell wieder fort, aber es wird nicht lange dauern, bis sich das ändert. Auf verschneiten Straßen ist das Vorankommen kaum möglich. Denn wenn wir einmal Schnee bekommen, dann so richtig, dass einem die Wehen bis zum Knie oder gar bis zur Hüfte reichen. Allzu oft kommt das zwar nicht vor, aber wenn, dann tut man gut daran, die Vorratskammer gut gefüllt zu haben. Die letzten Winter waren recht mild und schneearm, aber dieses Jahr ist es anders, das spüre ich genau. Für das Wetter habe ich einen besonderen Sinn.« Während sie eifrig diese und andere Nichtigkeiten vor sich hin plapperte, führte sie Benedikt durch eine schmale Eingangsdiele in den rückwärtigen Teil des Hauses und stieß dort die Tür zur Wohnstube auf.
»Tritt nur ein, Benedikt, und nimm am großen Tisch Platz«, forderte sie ihn auf. Sie betrat hinter ihm den Raum und huschte sogleich an ihm vorbei nach links, wo in einem tiefen, gepolsterten Stuhl eine in sich zusammengesunkene Gestalt saß. »Herr Dietmar, seht einmal! Wir haben Besuch bekommen. Wollt Ihr ihn begrüßen und Euch für ein kurzes Weilchen zu uns an den Tisch setzen? Ich habe bereits nach Wein und einem ordentlichen Imbiss schicken lassen.« Sie hatte sich über die Gestalt gebeugt, während sie sprach. »Kommt, Herr Dietmar, stützt Euch auf meinen Arm.«
»Kann ich behilflich sein?« Hastig trat Benedikt ebenfalls an den ungewöhnlichen Polsterstuhl heran.
»Nein!«, fuhr Beatrix ihn überraschend rüde an. »Nein«, wiederholte sie in etwas gemäßigterem Tonfall. »Herr Dietmar lässt sich von niemandem außer mir helfen. Nun kommt, Herr Gemahl, erhebt Euch.« Mit Handgriffen, die sie offenbar schon viele, viele Male ausgeführt hatte, zog sie den gebrechlichen Greis auf die Füße und trug ihn beinahe schon mehr, als sie ihn führte bis zu seinem Platz am Kopfende des Tischs.
Verblüfft und unangenehm berührt sah Benedikt ihr dabei zu. Dietmar von Siebern war bereits einige Jahre über siebzig und höchstwahrscheinlich einmal ein kräftiger, breitschultriger Mann gewesen. Nun jedoch wirkte er, als bestünde er nur aus dünner, lederähnlicher gräulich brauner Haut, die sich straff über sein Gerippe spannte, und dünnem weißlichem Haar, das wohl einmal blond gewesen sein musste, denn es glänzte gelblich im Schein der Kerzen und Öllampen, die den Raum erhellten. Seine Bewegungen waren hölzern und ungelenk, und als er sich schwerfällig setzte und die Hände vor sich auf der Tischplatte ablegte, konnte Benedikt erkennen, dass sie ständig und offenbar unbeherrscht zitterten.
»Wwwer … sssdir?«, fragte Dietmar überraschend laut, gleichwohl jedoch so undeutlich, als habe er mindestens eine Nacht lang durchgezecht und mit den Folgen des Rausches zu kämpfen. »Wwwas www… diehier?«
»Mein Herr Gemahl möchte wissen …«, setzte Beatrix an, doch Benedikt hob beschwichtigend die Hand.
»Ich habe Herrn Dietmar ausgezeichnet verstanden«, sagte er an den alten Mann gerichtet und nickte ihm knapp zu. »Mein Name ist Benedikt vom Heidenstein.«
Er ließ den Namen einen Atemzug lang wirken, um zu sehen, ob der Alte in irgendeiner Form darauf reagieren würde. Als dieser ihn jedoch nur abwartend anblickte, fügte er hinzu: »Ich kenne Eure Gemahlin aus Kinder- und Jugendtagen.« Fragend blickte er Beatrix an, die jedoch nur nickte, ohne eine Miene zu verziehen. »Sie lebte zur gleichen Zeit als Edeljungfer auf dem Gut meines Onkels wie ich als Knappe.«
Der Mund des alten Mannes bewegte sich, als würde er auf etwas kauen. Seine Miene hatte sich zornig verzogen. »Alin?«, brachte er überraschend deutlich heraus.
»Ja, Herr Dietrich, die Ähnlichkeit ist enorm, nicht wahr?«, bestätigte Beatrix. »Ich bin so überrascht wie Ihr, denn wie Ihr und alle anderen ging ich davon aus, dass Herr Benedikt seit vielen Jahren tot ist.« Sie warf Benedikt einen langen Blick zu, doch der Ausdruck auf ihrem Gesicht war immer noch undeutbar.
Da in diesem Augenblick der Knecht Henns hereinkam und ein großes hölzernes Brett mit Schüsseln, Bechern und einem großen Krug Wein hereintrug und auf dem Tisch abstellte, sprach Beatrix zunächst nicht weiter.
Benedikt war nicht ganz wohl in seiner Haut, denn er konnte sehen, dass Dietmar von Siebern sichtlich verärgert war und die zitternden Hände zu Fäusten geballt hatte. Finstere Blicke schoss er auf Benedikt ab, war jedoch ganz offensichtlich nicht in der Lage, etwas anderes zu tun, als weiterhin diese heftigen Kaubewegungen auszuführen und dabei undefinierbare Laute auszustoßen.
Als Henns die Stube wieder verlassen hatte und die Tür hinter ihm zugefallen war, deutete Beatrix resolut auf einen Stuhl neben ihrem Gemahl. »Nimm Platz. Stör dich nicht an Herrn Dietmar. Er ist dieser Tage nicht mehr zu allzu viel nutze, nicht wahr, Herr Gemahl?« Sie lächelte dem alten Mann schmal zu. »Aber ich kümmere mich um ihn und tue alles, um ihm das bisschen Leben, das noch in ihm ist, so angenehm wie möglich zu machen, so wie es die heilige Pflicht einer braven Ehefrau ist.« Bitterkeit klang aus ihrem Tonfall heraus, ebenso wie eine eigentümlich kühle Zuneigung, die womöglich in dem Maße wuchs, in dem die Lebenskräfte Dietmar verließen.
Zwar folgte Benedikt ihrer Aufforderung, warf jedoch unsichere Blicke in Dietmars Richtung. »Ich kann ein andermal wiederkommen, wenn es Euch besser passt, Frau Beatrix.«
»Nein, nein, Unsinn.« Beatrix schüttelte energisch den Kopf und ließ sich ihm gegenüber am Tisch nieder. »Heute ist ein ebenso guter Tag wie jeder andere.« Unvermittelt griff sie über den Tisch hinweg nach seiner Hand und musterte ihn unverhohlen. »Wie ist es möglich, dass du noch lebst? Wo bist du all die Jahre gewesen? Man hat nach dir gesucht, sehr lange sogar. Irgendwann wurdest du für tot erklärt.«
»Ich bin gelaufen, so weit meine Füße mich in einer Nacht getragen haben«, erklärte er mit einem Achselzucken. »Danach habe ich mich mehrere Tage in einem Waldstück versteckt und bin dann weitergelaufen, zunächst gänzlich ohne Ziel außer dem, möglichst viel Entfernung zwischen mich und Gut Heidenstein zu bringen. Nach Norden zunächst, später nach Osten, bis ich sicher war, dass mich niemand mehr verfolgen würde. Nicht viel später schloss ich mich als Söldner einem Kriegsheer an, in den Jahren darauf einigen weiteren.«
»Du bist ein Söldner?« Beatrix bekreuzigte sich.
»Ich war einer, viele Jahre lang. Als ich das Töten für Geld satthatte, begab ich mich auf den Weg nach Rom. Es war weniger eine Pilgerreise denn die Neugier, ferne Orte zu sehen, die mich trieb. Bei meinem ersten Versuch gelangte ich jedoch nicht einmal über die Alpen, denn schon ein Stück zuvor erhielt ich das Angebot, mich erneut für einen Landesherrn zu verdingen, diesmal jedoch nicht als Söldner.«
»Als was denn dann?« Wie gebannt schien Beatrix an seinen Lippen zu hängen.
Da er keinen Grund sah, es zu verschweigen, antwortete er wahrheitsgemäß: »Als Spion.« Auf Beatrix’ befremdeten Blick hin erklärte er: »Ich half dabei, Betrüger, Mordbuben und allerlei weitere, wenig rechtschaffene Menschen auszukundschaften und Beweise gegen sie zu sammeln, die schließlich zu ihrer Verurteilung führten.«
»Heilige Muttergottes.« Beatrix’ Hand zuckte, doch diesmal bekreuzigte sie sich nicht noch einmal.
»Wieder einige Jahre später«, fuhr er fort, »trat ich erneut eine Reise an, deren Ziel Rom war, und diesmal erreichte ich es tatsächlich. Zu jenem Zeitpunkt befand ich mich nicht mehr im Dienste eines Herrn, doch mein Ruf eilte mir in gewissen Kreisen voraus, sodass ein bekannter Inquisitor auf mich aufmerksam wurde und mich in seinen Dienst nahm – ebenfalls als Kundschafter.«
Diesmal fuhr Beatrix erschrocken zurück und starrte ihn mit großen Augen an. »Die Inquisition?«
Er nickte knapp. »Mein erster Auftrag führte mich ins Rheinland, in die Handelsstadt Koblenz. Habt Ihr schon einmal davon gehört?«
Beatrix schüttelte den Kopf, hielt kurz inne, nickte dann vage. »Mag sein, dass ich diesen Ortsnamen schon einmal gehört habe, vielleicht aber auch nicht. Im Rheinland, sagst du?«
»Wenige Tagesreisen weiter nördlich befindet sich die Stadt Köln.«
Beatrix nickte, beäugte ihn jedoch immer noch mit einem gewissen Misstrauen. »Dieser Inquisitor hat dich dorthin geschickt? Zu welchem Zweck?«
»Um Ketzer ausfindig zu machen und zu überführen«, antwortete er lapidar. »Es war …« Er zögerte, unsicher, wie er sich weiter erklären sollte. »Der Grund ist nicht weiter wichtig, Beatrix. Gewisse … Umstände haben dazu geführt, dass ich Koblenz wieder verlassen musste, und dies nahm ich zum Anlass, mich meinem bisherigen Leben und meiner Vergangenheit zu stellen. Ich ging einst nicht ohne Grund von Amberg fort.« Er beugte sich ein klein wenig vor und suchte Beatrix’ Blick. »Ich wollte von meinem Onkel nicht in dieses Kloster abgeschoben werden. Sei versichert, wenn ich gewusst hätte …« Zögernd brach er ab, schüttelte über sich selbst den Kopf. »Nein, so darf ich es nicht ausdrücken. Ich weiß nicht, was ich getan hätte und was geschehen wäre, wenn ich gewusst hätte, dass ich … dass du … Ich wusste es nicht.«
Beatrix’ Miene verfinsterte sich eine Spur, gleichwohl schien sie sich etwas zu entspannen. Bedächtig faltete sie die Hände auf dem Tisch. »Selbstverständlich wusstest du es nicht. Wie auch, da ich es selbst erst herausfand, als du schon längst über alle Berge warst.« Ihr Blick wanderte hinüber zu ihrem Gemahl, der ein wenig in sich zusammengesunken auf seinem Stuhl saß und nach wie vor aussah, als kaue er auf einem besonders großen und harten Bissen Brot. Seine Hände waren noch immer zu Fäusten geballt und zitterten heftig und ununterbrochen.
Als sie ihren Blick wieder auf Benedikt richtete, erschien ein eigentümlich grimmiges Lächeln auf ihren Lippen. »Ich habe dir nie einen Vorwurf gemacht«, sagte sie mit gesenkter Stimme. »Was geschehen ist, war ebenso dein wie mein Fehler, wobei ich freimütig zugebe, dass mich deutlich mehr Schuld trifft als dich, Benedikt.«
»Beatrix«, setzte er zu einem Protest an, doch sie hob in einer abwehrenden Geste die Hand. »Doch, zweifelsohne war es so.« Das grimmige Lächeln auf ihren Lippen vertiefte sich noch eine Spur. »Ich war ein wildes Kind, glaub nicht, dass mir nicht bewusst war, wie sehr ich mit dem Feuer spielte. Obgleich du jünger warst als ich, hast du auf mich erwachsener gewirkt als die älteren Knappen. Du warst ernsthafter, machtest einen klügeren Eindruck, und ich wusste, dass ich dir gefiel.«
Wieder wanderte ihr Blick kurz zu Dietmar, dessen Kaubewegungen allmählich erlahmten. Sein Blick war starr auf seine Gemahlin gerichtet.
Davon offenbar unbeeindruckt, redete sie weiter: »Heute fällt es mir leicht, darüber zu sprechen, denn zu verlieren habe ich mithin nicht viel. Niemand kennt die Geschichte, einmal abgesehen von deiner Familie, und die schert sich schon lange nicht mehr um mich. Herrn Dietmar war es wohl gleich, denn er war recht schnell bereit, mich zu ehelichen, hat sich jedoch nie dafür interessiert, was genau der Grund dafür war, dass man mich ihm so unverhofft angeboten hat.« Diesmal traf Dietmar ein spöttischer Blick. »Nicht wahr, Herr Gemahl? Euch hat mein Schicksal wenig geschert und noch viel weniger, dass das Kind, das ich unter dem Herzen trug, nicht von Euch war. Außer natürlich, dass es kein Junge war.« Sie wandte sich wieder Benedikt zu. »Dies war das Einzige, was ich wirklich bedauert habe. Alin hat darunter leiden müssen, dass sie als Mädchen geboren wurde. Als Tochter war sie nicht erbberechtigt und deshalb nichts wert. Wie viel besser wäre es ihr gegangen, wenn sie männlichen Geschlechts gewesen wäre! Doch mit einem Mädchen konnte Herr Dietmar nichts anfangen, weshalb er, kaum dass sie das Licht der Welt erblickt hatte, bestrebt war, einen Sohn zu zeugen, was ihm denn wenig später auch gelang. Danach war Alins Schicksal jedoch erst recht besiegelt.« Kurz presste sie die Lippen aufeinander. »Selbstverständlich wurde Fredo ihr in allem vorgezogen, und sogar die Tochter, die ich kurz darauf ebenfalls gebar, hatte eine weniger harte Zukunft zu befürchten.« Ergeben hob sie die Schultern. »Dass Blut dicker als Wasser ist, ist mithin kein Geheimnis, nicht wahr?«
Sie atmete hörbar durch, und das grimmige Lächeln kehrte auf ihre Lippen zurück. »So weißt du denn nun auch, wie es mir ergangen ist. Ich habe ein gutes, sicheres Zuhause für meinen Fehltritt erhalten, was mehr ist, als ich verdient hatte.« Sie deutete auf die Speisen, die Henns aufgetischt hatte. Gleichzeitig griff sie nach dem Weinkrug und goss von der goldenen Flüssigkeit in die Zinnbecher. »Greif zu, Benedikt, lass es dir schmecken.«
Ohne darauf zu achten, ob er ihrer Aufforderung nachkam, schob sie einen Teller vor ihren Gemahl hin, legte ein Stück Schinken darauf und schnitt es in kleine, mundgerechte Stücke. Auch einen Wecken gab sie dazu und zupfte ihn auseinander. »Hier, Herr Dietmar, esst auch Ihr ein paar Bissen.« Sie tunkte ein Bröckchen des Weckens in Wein und schob es ihrem Gemahl einfach zwischen die Lippen.
Dietmar mümmelte darauf herum, wobei ihm ein Speichelfaden aus dem Mundwinkel rann. Beatrix wischte ihn mit dem Zipfel des Tischtuches fort und schob ihrem Gemahl gleich darauf ein Stückchen Schinken in den Mund. Dann nahm sie sich selbst etwas Brot, Käse und Schinken.
Obgleich er nicht im Geringsten hungrig war und der Anblick des sabbernden und wenig sorgsam gefütterten Hausherrn seinen Appetit nicht gerade förderte, nahm Benedikt sich ebenfalls etwas von dem Essen und würgte ein paar Bissen hinunter. Dabei fragte er sich insgeheim, was genau er sich von seinem Besuch hier wohl erwartet haben mochte. Beatrix hatte ihn zwar deutlich erfreuter willkommen geheißen als seine eigene Familie, dennoch blieb auch sie ihm seltsam fremd, so als sei all das, was sich zwischen ihnen einst abgespielt hatte, die Erinnerung aus einem anderen Leben.
Gewiss, es war sehr viel Zeit vergangen – mehr als zwei Jahrzehnte –, dennoch hatte er gedacht, sich ihr um einiges näher zu fühlen. Doch seine Gedanken kreisten nicht um sie.
»Willst du ihr Grab besuchen?«, durchbrach Beatrix’ Stimme die düsteren Gedanken, die erneut in seinem Kopf zu wabern begonnen hatten. »Ich zeige dir den Weg, aber wir sollten bald aufbrechen, bevor das Wetter noch schlechter wird.«
***
Ein eisiger Wind pfiff über den Kirchhof, der an die kleine, einfache Stadtkirche Sankt Ägidius angrenzte, und trieb die Schneeflocken beinahe waagerecht vor sich her. Der Kirchturm mochte bereits seit hundert Jahren oder mehr stoisch gen Himmel emporragen, doch viel her machte das Kirchlein nicht gerade. Verglichen mit anderen Kirchen fehlte ihm ein imposanter Chor, doch vielleicht würden spätere Generationen diesen Zustand irgendwann ändern. Im Augenblick schien den Bürgern von Vilseck ihr kleines, unspektakuläres Gotteshaus vollkommen auszureichen.
Benedikt zog die Kapuze seines Mantels fester um seinen Kopf, als er neben Beatrix an das einfache, nur mit einem verwitterten Holzkreuz versehene Grab trat, in dem seine Tochter vor gut sieben Jahren beerdigt worden war. Einen Stein oder ein steinernes Grabkreuz hatte Dietmar Alin offensichtlich nicht zugestanden, jedoch war trotz der unwirtlichen Jahreszeit zu erkennen, dass jemand – vermutlich Beatrix – sich mit Liebe um den Grabschmuck kümmerte. Die rechteckige Fläche war sorgsam geharkt und mit niedrigen immergrünen Stauden bepflanzt, zwischen denen in der warmen Jahreszeit wohl auch bunte Blumen wuchsen. Das Blattwerk war noch deutlich zu erkennen, wenn auch durch Kälte, Regen und Schnee ein wenig mitgenommen. Direkt rechts vor dem Grabkreuz war eine steinerne Vase in den Boden eingelassen, in der ein Strauß Trockenblumen stand, der ob seiner noch bestehenden Üppigkeit wohl vor nicht allzu langer Zeit dort platziert worden war.
Beatrix sprach kein Wort, sondern trat einen Schritt beiseite, bekreuzigte sich und faltete die Hände wie zu einem stillen Gebet.
Eine geraume Weile starrte Benedikt still auf das Grab, unfähig, einen Gedanken oder auch ein Gebet zu formulieren. Er wusste nicht einmal, was er empfand, denn in ihm herrschte plötzlich eine eigenartige, hallende Leere. Hier lag sie also, seine Tochter, von deren Existenz er erst so kurz wusste und die er niemals sehen, niemals in die Arme schließen können würde. Dabei war er sich nicht einmal sicher, ob er das gewollt hätte. Sie war ihm fremd; wie wäre er ihr wohl gegenübergetreten, wenn sie noch am Leben wäre? Was hätte er ihr gegenüber wohl empfunden? Für einen Moment versuchte er sich vorzustellen, wie sie ausgesehen haben mochte. Es gelang ihm selbstverständlich nicht, was dazu führte, dass die Leere in ihm noch lauter widerhallte. Er hatte ein Kind verloren, doch konnte er um dieses Kind überhaupt trauern? Konnte man jemanden vermissen, den man überhaupt nicht gekannt hatte? War es nicht sinnlos, sich über ein Menschenleben Gedanken zu machen, das ihn nie berührt hatte?
»Sie hatte deine Augen«, ergriff Beatrix nun doch leise das Wort. Ihre Stimme klang deutlich sanfter als zuvor im Haus. »Deine Augen«, wiederholte sie, »mein schwarzes Haar. Sie sah dir sehr ähnlich, Benedikt. Ich weiß nicht, ob es den Leuten hier im Ort jetzt noch auffallen würde, sie ist schon so lange tot; aber wenn man euch beide zusammen in einem Raum gesehen hätte, wäre jedem Anwesenden ohne Zweifel klar gewesen, dass ihr Vater und Tochter seid.«
Kurz hielt sie inne, bevor sie fortfuhr: »Ich bilde mir gerne ein, dass sie auch viel von deinem Charakter hatte. Den meinen hat sie mithin nicht geerbt, denn sie war stets ein ruhiges, in sich gekehrtes Kind und gehorsam in allem, was man von ihr verlangte. Sie wusste nicht, warum der Mann, den sie als ihren Vater angesehen hat, sie mit so wenig Zuneigung bedacht und deutlich strenger als ihre Geschwister behandelt hat. Dennoch hat sie stets alles getan, um sein Wohlwollen zu erlangen, doch leider ist es ihr kaum geglückt. Herr Dietmar war schon immer ein kalter, hartherziger Mensch, der nie viel um die Befindlichkeiten seiner Familienmitglieder gegeben hat. Natürlich hat er die wenige Zuneigung, derer er fähig war, stets mehr auf seine leiblichen Kinder gerichtet. Er war nie wirklich grausam zu Alin, sie war ihm nur einfach vollkommen gleichgültig, und ich weiß nicht, ob es mir gelungen ist, dies mit Mutterliebe auszugleichen. Wenn sie sich nach Dietmars Wünschen verhalten und betragen hat, verhielt er sich ihr gegenüber gleichmütig, sodass ich davon ausgehe, dass er sie nicht gänzlich abgelehnt oder gar gehasst hat. Allerdings lag ihm viel daran, sie so bald wie möglich aus unserem Haus zu verbannen. Sie war kaum vierzehn Jahre alt, als er sie einem seiner vielen Freunde zur Ehe anbot. Ardo de Léraux stammt ursprünglich aus dem Elsässischen und ist nach Alins Tod auch wieder dorthin zurückgekehrt. Ursprünglich hatte Herr Dietmar wohl die Hoffnung gehegt, Ardo würde sich dauerhaft hier niederlassen und zusammen mit unserem Sohn Fredo die Geschicke Vilsecks maßgeblich mitbestimmen. Doch dann starb Alin bei der Geburt ihrer ersten Tochter …« Es sah aus, als wolle Beatrix sich wieder einmal bekreuzigen, doch stattdessen rieb sie sich fahrig über die Stirn. »Vermutlich kannst du dir Dietmars Enttäuschung vorstellen, ebenso wie Ardos. Natürlich hoffen Männer stets auf einen Sohn und Erben, und wenn dies nicht beim ersten Kind gleich eintritt, ist es die Schuld der Frau. Alin musste die Schmach und den Ärger ihres Gemahls jedoch nicht miterleben, denn sie starb so rasch nach der Geburt, dass keins von beidem sie erreichen konnte.« Beatrix seufzte. »Sie war viel zu jung, um verheiratet zu werden. Es mag Mädchen geben – solche wie mich –, die mit vierzehn oder fünfzehn bereits gänzlich fraulich ausgewachsen sind und denen eine so frühe Ehe und eine Schwangerschaft nicht schaden. Doch Alin war stets zart für ihr Alter und noch längst nicht gänzlich … erwachsen. Sie hätte noch zwei oder drei Jahre gebraucht, und es wäre klug von Herrn Dietmar gewesen, ihr diese Zeit zu geben. Doch wie gesagt, er war ungeduldig, wollte sie aus dem Haus haben. Bei ihrer Schwester war er klüger, vielleicht auch gnädiger, wer weiß das schon? Doch Gesine …« Sie brach ab, schüttelte betrübt den Kopf.
Als sie ihn wieder hob, lag ein zugleich flehentlicher und entschlossener Blick in ihren Augen. Unvermittelt trat sie dicht an Benedikt heran und ergriff seine Hände. »Ich bitte dich, Benedikt, hör mich an. Ich habe bereits zwei Töchter verloren. Bitte sorge dafür, dass es wenigstens Marie-Jeanne nicht genauso ergeht wie ihrer Mutter.«
Überrascht blickte Benedikt auf seine Hände hinab, die Beatrix regelrecht umklammert hielt.
»Sie ist immerhin deine … unsere Enkeltochter.«
Bei diesem Wort fühlte sich Benedikt gänzlich elend. Er hatte eine Enkeltochter, ganz gleich wie seltsam die Umstände auch sein mochten. So weit hatte er bislang noch gar nicht gedacht, denn er brachte es ja nicht einmal fertig, sich vorzustellen, dass er eine Tochter gehabt hatte. »Marie-Jeanne«, wiederholte er wie betäubt. »Wo ist sie?«
»Ardo nahm sie nicht mit, als er in seine Heimat zurückgekehrt ist.« Beatrix rang die Hände. »Er hat sie in meine Obhut geben wollen, doch mein Gemahl mochte sie nicht im Haus haben. Deshalb haben wir sie auf Ardos Befehl in einem Beginenhof untergebracht. Die frommen Frauen kümmern sich gut um sie, doch ich weiß genau, dass Ardo diese Lösung missfällt. Sobald sie das heiratsfähige Alter erreicht, wird er mit irgendeinem seiner Freunde einen Ehevertrag aushandeln, dessen bin ich mir sicher. Natürlich hat er als ihr Vater alles Recht dazu, sie nach seinen Wünschen sinnvoll zu verheiraten, aber er wird es wie Dietmar handhaben und sie zum frühestmöglichen Zeitpunkt in eine Ehe drängen.« Jäh drehte Beatrix sich um und ging ein paar Schritte von ihm fort, dann blieb sie wieder stehen. »Ich ertrage den Gedanken nicht, dass es ihr wie Alin ergehen könnte. Wie hätte ich mir gewünscht, dass Ardo etwas geduldiger ist, dass er sie vielleicht liebt, obwohl sie ein Mädchen ist. Es gibt Väter, die ihre Töchter lieben, da besteht kein Zweifel. Mein Vater hat mich geliebt, das weiß ich genau, denn andernfalls wäre er nicht so wütend und entsetzt gewesen, als sich herausgestellt hat, dass ich schwanger bin. Ob er mir je verziehen hat, weiß ich nicht, denn seit meiner Hochzeit habe ich ihn nicht wiedergesehen, und inzwischen ist er verstorben.« Ihre Haltung hatte sich versteift, und sie zog den Kopf zwischen die Schultern. »Ardo hat Alin nur geheiratet, weil er sich einen Vorteil davon versprochen hat. Natürlich sind Ehen schon aus geringeren Gründen geschlossen worden, aber für eine Bastardtochter, auch wenn sie nicht offiziell als solche gilt, ist das Leben umso viel schwerer! Ich glaube nicht, dass Dietmar gegenüber Ardo jemals verlauten ließ, dass Alin nicht seine leibliche Tochter ist, doch allein der Umstand, dass er sie so früh und rasch verheiratet hat, noch dazu ohne ihr je die geringste Zuneigung entgegenbracht zu haben, sprach für sich. Ardo wird sich seinen Teil gedacht haben, auch weil Alin Dietmar nicht einmal ansatzweise ähnlich sah. Selbst zu mir bestand so gut wie keine Ähnlichkeit, sieht man einmal von der Haarfarbe ab.« Unvermittelt wandte sie sich wieder zu Benedikt um, trat erneut auf ihn zu. »Ich habe leider keinerlei Einfluss auf das Geschick unserer Enkelin. Mehr, als sie regelmäßig zu besuchen, kann ich kaum tun, deshalb hatte ich die Hoffnung beinahe aufgegeben, ihr in irgendeiner Form zu einer Zukunft zu verhelfen, die weniger unglücklich als die ihrer Mutter und Großmutter ist. Dass du lebst, Benedikt, erscheint mir wie ein Wink des Himmels. Ich weiß nicht, was für ein Leben du geführt hast; aus dem Wenigen, was du vorhin erzählt hast, kann ich mir zusammenreimen, dass es wenig gottgefällig gewesen sein muss. Und auch wenn du jetzt erst von deiner Tochter erfahren hast, sie nie kennenlernen durftest, so hoffe ich doch, dass sich in deinem Herzen ein Funken Güte findet, der es dir ermöglicht, etwas für Marie-Jeanne zu tun.«
Diesmal war es an Benedikt, sich abzuwenden und sich ein paar Schritte vom Grab seiner Tochter zu entfernen. Ratlos sah er sich auf dem einfachen, in trübes Novemberlicht getauchten Kirchhof um.
Als er sich wieder zu Beatrix umdrehte, hob er hilflos die Hände. »Was erwartest du von mir? Was soll ich tun? Glaubst du vielleicht, Alins Witwer wird auch nur einen Deut darum geben, was ich zu sagen habe? Wie soll ich überhaupt erklären, wer ich bin, ohne das kleine Mädchen in größte Schwierigkeiten zu bringen? Wenn ich zugebe, Alins leiblicher Vater zu sein, was wird das dann für ihre Tochter bedeuten? Was für Alins Ruf? Du sagst, sie galt offiziell als ehelich geboren, als Dietmars Tochter. Willst du es wirklich wagen, deine tote Tochter ihres Standes zu berauben? Was würde das für ein Licht auf dich selbst werfen?«
»Lass meinen Ruf meine Sorge sein«, erwiderte Beatrix erbost. »Glaubst du etwa nicht, dass hinter meinem Rücken schon immer getuschelt wurde? Eine edle Jungfer, die mit fünfzehn einem mehr als dreißig Jahre älteren Mann praktisch bei Nacht und Nebel anverheiratet wird, fordert den Tratsch der Leute doch geradezu heraus. Noch dazu, wenn sie nach nur sieben Monaten Schwangerschaft mit einem Kind niederkommt, obgleich ihr Gemahl bereits zwei Ehefrauen kinderlos zu Grabe getragen hat. Vielleicht waren dies unglückselige Zufälle, vielleicht lag es tatsächlich an den Frauen, denn bei Gott, Fredo und Gesine wurden von Herrn Dietmar gezeugt. Ich kann von Glück sagen, dass die beiden eine deutliche Ähnlichkeit zu ihm aufgewiesen haben; Fredo ist ihm gar gänzlich aus dem Gesicht geschnitten. Doch Alin … Wie gesagt, wenn man sie jemals zusammen mit dir gesehen hätte, wäre selbst dem einfältigsten Tropf die Ähnlichkeit aufgefallen.« Auffordernd ergriff sie seinen Arm. »Bitte, Benedikt! Es muss einen Weg geben. Wenn dieser bedeutet, dass du Ardo die Wahrheit über Alins Herkunft eröffnen musst, dann tu es, solange er nur bereit ist zu warten, bis sie sechzehn oder siebzehn Jahre alt ist, bevor sie verheiratet wird. Ich will sie einfach nicht der Gefahr einer Schwangerschaft in zu jungen Jahren aussetzen. Noch ist sie freilich zu jung, als dass man erkennen könnte, in welchem Alter sie … nun ja«, sie hob verlegen die Schultern, »fraulich gereift ist, denn sie ist ja gerade einmal sieben Jahre alt. Sollte sie nach Alin geraten, dann wird vierzehn noch viel, viel zu früh sein. Und wenn Ardo vielleicht sogar beschließt, sie noch früher zu verheiraten, dann fürchte ich, werden wir sie verlieren.«
Nachdenklich blickte Benedikt erneut auf das Grab seiner Tochter. »Bist du dir denn wirklich sicher, dass Marie-Jeannes Vater vorhat, sie derart früh in eine Ehe zu drängen?«
»Das glaube ich, ja.« Beatrix nickte. »Dietmar hat es ihm sogar nahegelegt, wohl wissend, dass Ardo ihm ähnlich ist und keinerlei Interesse an einer Tochter hat. Alin war kaum ein halbes Jahr tot, als Ardo sich erneut verheiratet hat«, fügte sie hinzu. »Wahrscheinlich kann ich von Glück sagen, dass Dietmar nicht darauf verfallen ist, ihm an Alins statt Gesine zu geben. Ardo hat sich eine der beiden Edeljungfern ausgesucht, die damals in unserem Haushalt lebten. Mit ihr hatte er mehr Glück, so möchte man es aus seiner Sicht wohl benennen, denn sie hat ihm inzwischen gleich drei Söhne geboren und nicht eine einzige Tochter. Doch sie tat sich mit dem ersten Kind schwer, war nach der Geburt lange Zeit zu nichts zu gebrauchen.« Eindringlich suchte sie Benedikts Blick. »Auch sie war erst fünfzehn bei der Hochzeit. Ich weiß nicht, was Männer immer wieder dazu treibt, ihre Töchter so früh zu verheiraten. Als hätte die Erfahrung von Generationen nicht längst gezeigt, dass so etwas besonders häufig im Übel endet. Doch was soll man da als Frau und Mutter – oder Großmutter – schon ausrichten? Die Priester bezeichnen es als Gottes Wille, und kaum jemand fühlt sich bemüßigt, es als das zu benennen, was es in Wahrheit ist: reine Dummheit, aus Gleichgültigkeit und oft auch Machtgier geboren.« Sie hatte sich in Rage geredet, auf ihren Wangen zeigte sich eine zornige Röte. »Sag mir, Benedikt, was denkst du darüber? Rede und rede und rede ich mich hier um Kopf und Kragen, weil du genauso denkst wie Dietmar und Ardo? Oder besitzt du mehr Verstand – und Herz?«
Benedikt wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Mit allem Möglichen hatte er gerechnet, nicht jedoch damit, dass Beatrix eine derart ungeheuerliche Bitte an ihn richten würde. Da sie ihn abwartend ansah, neigte er schließlich den Kopf. »Darüber muss ich nachdenken, Beatrix. Ich weiß nicht, ob es für dieses Problem überhaupt eine Lösung geben kann, und noch weniger, ob mein Zutun dieser Lösung zuträglich sein wird. Ich besitze kein Land, habe mich eben erst erneut von meiner Familie losgesagt. Von dort ist in dieser Hinsicht nicht mit Hilfe zu rechnen. Auch Geld besitze ich nicht so viel, dass ich damit großen Einfluss ausüben könnte. Es reicht gerade so dafür, mich selbst einigermaßen angenehm am Leben zu halten. Ich werde zeit meines Lebens ein Söldner sein, auf die eine oder andere Weise. Was glaubst du denn, was für ein Leben ich Marie-Jeanne bieten könnte? Selbst wenn ich mich erneut in den Dienst irgendeines Herrn oder einer Stadt begebe, werde ich doch kaum in der Lage sein, ein Kind aufzuziehen, geschweige denn einem Mädchen eine angemessene und ihrem Stand entsprechende Erziehung angedeihen zu lassen. Du wiederum hast selbst gesagt, dass sie in deinem Haus nicht leben darf, zumindest nicht, solange dein Gemahl noch lebt. Soll sie also für immer bei den Beginen bleiben? Hältst du das für eine auf Dauer sinnvolle Lösung?«
Beatrix senkte den Kopf. »Nein, natürlich nicht. Die Beginen sind gute Frauen, aber sie sind arm und können nichts für Marie-Jeanne tun, außer sich gütig und mit christlicher Nächstenliebe um sie zu kümmern. Doch dort ist das Kind zumindest vorläufig in sicherer Obhut, bis ich eine bessere Lösung gefunden habe. Ich will doch nur, dass ihr Alins Schicksal erspart bleibt, nicht mehr und nicht weniger. Kannst du das nicht begreifen?«
»Das begreife ich sehr wohl.« Er schüttelte leicht seinen Mantel aus, da mittlerweile die Schneeflocken immer dichter fielen. »Wir werden hier und jetzt keinen Ausweg finden, Beatrix. Ich danke dir, dass du mich zu Alins Grab begleitet hast. Doch nun sollten wir allmählich zurückkehren.«
»Möchtest du sie sehen?« Beatrix eilte an seine Seite, als er sich abwandte und mit ausholenden Schritten den Kirchhof verließ. »Ich könnte morgen bei den Beginen vorsprechen und ihnen unseren Besuch ankündigen.«
Der heiße Knoten in seinen Eingeweiden versengte ihn beinahe. »Was versprichst du dir davon? Als wen willst du mich ihr vorstellen?«
Beatrix gab keine Antwort darauf.
***
Da sie darauf bestanden hatte, war Benedikt Beatrix’ Einladung gefolgt und hatte sein Quartier in ihrer Gästekammer aufgeschlagen. Er fühlte sich jedoch alles andere als wohl in seiner Haut. Seine Gastgeberin war damit beschäftigt, ihren Gemahl bei Laune zu halten und sich um die alltäglichen Aufgaben im Haushalt zu kümmern, deshalb hatte er sich bereits kurz nach dem frühen Abendmahl zurückgezogen, um niemandem im Weg zu sein und seine Gedanken zu sortieren. Mittlerweile war der Abend weit vorangeschritten, die Mitternacht nicht mehr allzu fern. Im Haus war es ruhig geworden, lediglich hin und wieder vernahm Benedikt von irgendwoher leise Stimmen, Schritte oder das Knarren der Deckenbalken. Inzwischen hatte er sich entkleidet und unter die wärmenden Wolldecken geschoben, die Beatrix für ihn bereitgelegt hatte.
Wie aus weiter Ferne vermeinte er ein leises, beharrliches Sirren zu vernehmen. Es fuchste ihn, dass er dieses unangenehme Geräusch einfach nicht loszuwerden imstande war. Warum verfolgte es ihn? Reichte es nicht, dass ihn die Reise in seine Vergangenheit allmählich den Verstand kostete? Musste sich dieses vermaledeite Kruzifix nun auch noch über ihn lustig machen? Himmel, wie weit war es schon mit ihm gekommen? Nun begann er auch schon, in dem silbernen Kreuz ein lebendes, womöglich sogar denkendes Wesen erkennen zu wollen! Es fehlte nicht viel, so konstatierte er bei sich, und er würde tatsächlich überschnappen.
Immer und immer wieder kreisten seine Gedanken um die Ereignisse des Tages und ganz besonders um den Besuch am Grab seiner Tochter. Es fiel ihm nach wie vor schwer, sich damit abzufinden, dass er sie verloren hatte, ohne sie kennengelernt oder auch nur von ihrer Existenz gewusst zu haben. Noch mehr jedoch als der Verlust setzte ihm die Frage zu, die er sich immer wieder stellte: Hätte er sich um sie geschert, wenn er von ihr gewusst hätte? Er hoffte es, war sich jedoch beileibe nicht sicher. Gefühle und Bindungen jeglicher Art waren ihm in den mehr als zwei Jahrzehnten, die er durch die Lande gereist war und die er teilweise auf Schlachtfeldern verbracht hatte, fremd geworden und sogar gänzlich abhandengekommen.
Erst seit er nach Koblenz gekommen war, hatte etwas sich in ihm verändert. Nein, jemand hatte etwas in ihm erweckt. Er wollte diesen Gedanken nicht zulassen, doch je mehr er sich dagegen wehrte, desto nachdrücklicher drängte sich Palmiros Antlitz vor sein inneres Auge. Was hatte dieser elendige Grünschnabel nur an sich, dass er ihm einfach nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte? Wie hatte er von allen Menschen auf dieser Welt es fertiggebracht, ihm Gedanken und Gefühle zu entlocken, die er noch niemals – nicht einmal als Junge – gedacht oder gefühlt hatte? Nun konnte er sich dieser Gedanken und Gefühle einfach nicht mehr erwehren, sie durchdrangen und peinigten sein waidwundes Herz. Das Leben war um einiges einfacher gewesen, als er weder Schmerz noch Glück noch Freude noch Sehnsucht empfunden hatte! Nun quälten ihn unzweideutige Träume, folterten ihn unzählige lästige Gefühle, und obendrein wollte sich nun auch noch ein unwillkommenes Verantwortungsgefühl gegenüber Beatrix in die Unordnung schleichen, die sein Dasein mittlerweile ausmachte.
Er versuchte, die Angelegenheit möglichst objektiv und emotionslos zu betrachten. Beatrix’ Wunsch, ihre Enkelin vor einem Schicksal wie Alins zu schützen, war denkbar verständlich. Die Aussicht, dass er etwas dagegen ausrichten können würde, ebenso denkbar gering. Selbst wenn er Alins Witwer dazu brächte, Marie-Jeanne freizugeben und gänzlich in der Obhut ihrer Großmutter zu belassen – Herr Dietmar wollte das Kind nicht im Haus haben. Also würde die Kleine wohl oder übel weiterhin bei den Beginen bleiben müssen, was zwar an sich nicht die schlechteste Lösung war, das Problem jedoch nur aufschob.
Ardo, von dem Benedikt inzwischen erfahren hatte, dass er aus Colmar stammte und wieder dort lebte, hatte nun einmal als Vater das alleinige Recht, mit seiner Tochter zu verfahren, wie es ihm beliebte. Wenn er sie frühestmöglich an den Meistbietenden zu verscherbeln trachtete, dann durfte er das tun, denn es gab nichts und niemanden, schon gar kein Gesetz, das ihn daran hindern könnte. Selbstverständlich konnte auch Benedikt den Gedanken nicht gutheißen, dass dieses Mädchen viel zu jung an irgendeinen vermutlich deutlich älteren Mann verheiratet wurde, der weder willens noch vernünftig genug war, seiner kindlichen Braut die Zeit zu geben, die diese benötigte, um für ihn zu einer vollwertigen, erwachsenen Gemahlin heranzuwachsen.
Machthunger, Ungeduld und die fehlende Einsicht, dass auch Ehen, die aus reinem Kalkül geschlossen wurden, einer gewissen Sorgfalt bedurften, um zu gelingen, führten nicht selten dazu, dass junge Frauen in die prekäre Lage gerieten, als reines Sachgut, als Ware betrachtet und gehandelt zu werden. Bislang hatte Benedikt sich nie viele Gedanken darüber gemacht, da er selbst nie den Wunsch nach einer Ehe und einer Familie gehegt hatte. Die Welt war nun einmal, wie sie war, ihre Gesetzmäßigkeiten gottgegeben. Zumindest behaupteten das die Priester und Kleriker und natürlich alle, die einen Vorteil daraus zogen.
Auch in dieser Hinsicht hatte Palmiro dazu beigetragen, dass sich in Benedikts Kopf völlig neue, unerhörte Gedanken und Ideen formten. Schuld daran war das Gerede über Flügel, die Palmiro sich wünschte, um davonzufliegen, und über die Freiheit für jeden Menschen, so zu leben, wie es ihm beliebte, und nicht wie Gott oder der Stand, in den man hineingeboren war, es vorschrieben. Er musste aufhören, diese Gedanken zuzulassen, denn sie waren gefährlich, ketzerisch geradezu. Ärgerlicherweise schlugen sie jedoch in ihm eine Saite an, die, seit er sie an sich entdeckt hatte, nicht mehr aufhören wollte zu schwingen.
Ungehalten, weil er schon seit Stunden immer und immer wieder dieselben gedanklichen Kreise zog, schlug Benedikt die Wolldecken zurück und wollte gerade aufspringen, um die Fensterläden aufzureißen und sich vom aufkommenden Wintersturm die trübseligen Empfindungen hinfortpusten zu lassen, als ein leises Kratzen an der Tür ihn aufhorchen und innehalten ließ. Stirnrunzelnd beobachtete er, wie sich die Tür zu seiner Kammer erst einen Spalt, dann rasch immer weiter öffnete und schließlich Beatrix den Raum betrat. Sie trug einen dunkelbraunen Hausmantel aus pelzbesetztem Samt und eine flackernde Öllampe in der Hand, die sie, nachdem sie die Tür ebenso rasch wie leise ins Schloss geschoben hatte, auf der Truhe neben dem Bett abstellte, sodass sie dem Lämpchen Gesellschaft leistete, das Benedikt den ganzen Abend schon ein diffuses Licht spendete.
Stirnrunzelnd beobachtete Benedikt, wie Beatrix sich auf der Bettkante niederließ. »Was um alles in der Welt tust du hier?«
»Ich dachte mir, dass du noch nicht schläfst.« Sie nestelte an dem Gürtel ihres Hausmantels. »Ich konnte den Lichtschein unter der Tür erkennen.«
»Und die Tatsache, dass es bereits spät ist, hat dich ebenso wenig davon abgehalten, mich in meiner Kammer aufzusuchen, wie der Umstand, dass du eine verheiratete Frau bist und ich als unverheirateter Mann deine Gastfreundschaft angenommen habe?« Ihn flog die Befürchtung an, dass jenes wilde junge Mädchen von damals noch mehr in Beatrix lebendig war, als es äußerlich den Anschein hatte.
»Wer soll sich denn daran stören?« Die Befürchtung bewahrheitete sich, als Beatrix, während sie sprach, in einer einzigen geschmeidigen Bewegung den schweren Hausmantel abschüttelte und zu Boden gleiten ließ und damit den Blick auf ihren üppigen, vollkommen nackten Körper freigab. Ehe Benedikt sichs versah, schob sie sich bereits zu ihm unter die Decke; ihre rechte Hand legte sich schwer auf seinen Oberschenkel. »Dietmar wird uns ganz sicher nicht auflauern, denn wie du weißt, ist er gar nicht mehr in der Lage, allein einen Fuß vor den anderen zu setzen. Außerdem schläft er längst.« Sehr langsam wanderte ihre Hand auf seinem Schenkel aufwärts. »Das Gesinde interessiert sich ebenfalls nicht dafür.«
Gerade, bevor ihre Hand sich unter den Stoff seiner kurzen Bruoch stehlen konnte, hielt er sie auf. »Das Gesinde vielleicht nicht, ich aber sehr wohl. Was soll das, Beatrix? Wie kommst du darauf, ich könnte … wir könnten …« Er vollendete den Satz nicht, sondern schüttelte energisch den Kopf. »Das geht nicht. Es ist Irrsinn.«
»Nein.« Energisch entzog Beatrix ihm ihre Hand. »Irrsinn ist, dass ich mit einem sabbernden Greis verheiratet bin, der nicht einmal in seinen besten Tagen vermochte, mir unsere Ehe angenehm zu machen. Dass ich meine Pflicht als Ehefrau erfülle, darauf hat er stets und sehr regelmäßig bestanden, sogar noch bis vor etwas mehr als einem Jahr.« Ein bitterer Unterton schlich sich in ihre Stimme. »Dann ist er eines Morgens aufgewacht und war so wie jetzt, nur nicht ganz so dürr. Glaubt nicht, dass ich ihn darben lasse, nein, er isst und isst und wird doch jeden Tag dünner. Und selbst jetzt noch, wo er allein und ohne Hilfe zu rein gar nichts mehr nütze und in der Lage ist, muss ich ihn regelmäßig jeden Tag morgens und abends … waschen.« Das Wort klang, als wolle sie ausspucken. »Und ordentlich durchwalken, bis ihm … du weißt schon, die Natur kommt.« Sie schnaubte abfällig. »Soll das der einzige Daseinszweck sein, der mir noch geblieben ist, bis der Gottseibeiuns ihn eines Tages zu sich holt? Und was dann? Eine Witwe von annähernd vierzig Jahren kann ihren Leib noch so sehr mit Sorgfalt pflegen, kein Mann wird sie mehr wollen, zumindest nicht in allen Ehren und mit ernsten Absichten. Warum also sollte ich nicht selbst die Gelegenheit ergreifen, wenn sie sich bietet, und dir einen angenehmen Zeitvertreib für die Nacht anbieten?« Schon wanderte ihre Hand erneut unter die Decke und seinen Schenkel hinauf, doch diesmal war er nicht schnell genug, sie aufzuhalten, als ihre Finger sich unter den Leinenstoff seiner Bruoch stahlen und sich durchaus kundig an seiner Männlichkeit zu schaffen machten. Mit der anderen Hand ergriff sie seine und führte sie an ihre weiche, volle Brust. Mehr aus einem Reflex heraus, denn willentlich griff er zu; sein Körper antwortete unwillkürlich auf den Reiz, was Beatrix wiederum ermutigte, ihn noch etwas energischer zu umfassen. »Komm zu mir«, gurrte sie lockend und schob sich äußerst flink dicht an seinen Körper.
Ihm wurde unnatürlich warm, als er ihre weichen Rundungen überall zu spüren bekam. Er wollte protestieren, denn auch wenn sein Körper sich überaus eifrig daran erinnerte, wie er auf ein solches Angebot zu reagieren hatte, verspürte er doch ein heftiges Unwohlsein, dass sich tief aus seiner Magengrube hinauf bis in seine Kehle empordrängte. Doch da küsste sie ihn bereits begierig, ließ zwar von seinem aufgerichteten Gemächt ab, jedoch nur, um ihn bei den Schultern zu fassen und mit sich zu ziehen, als sie sich auf den Rücken drehte, sodass er auf ihr und zwischen ihren einladend gespreizten Schenkeln lag.
»Komm zu mir«, raunte sie dicht an seinem Mund und schob ihm auffordernd ihr Becken entgegen, sodass er beinahe wie von selbst in sie hineinglitt. Sie empfing ihn mit feuchter Hitze und stöhnte lustvoll auf, als er sie schließlich gänzlich ausfüllte. »Ja, genau so muss es sein«, keuchte sie mit einem beglückten Lächeln auf den Lippen.
Das Unbehagen tief in seinem Inneren steigerte sich noch, obwohl er gleichzeitig eine gewisse naturgegebene Erregung empfand. Da Beatrix sich fordernd unter ihm wand, begann er ebenso reflexartig in sie zu stoßen, wie er zuvor ihre Brust umfasst hatte. Seine Erregung steigerte sich im gleichen Maße, wie eine unerklärliche Übelkeit in ihm aufstieg und das Blut in seinen Ohren rauschte. Was war mit ihm? Er war zwar kein Mann, der sich häufig der Wollust hingab, doch noch niemals hatte sie ihn derart gepeinigt. Nicht einmal, als er Palmiro beigelegen hatte und unaussprechliche Dinge mit ihm getan hatte, hatte er einen derartigen Widerwillen verspürt und solche widerstreitenden Gefühle.
Palmiro.
Das wohlgeratene Gesicht des um acht Jahre jüngeren, schwarzlockigen Mannes schob sich vor sein inneres Auge und ließ ihm den Schweiß ausbrechen. Hinfort mit dir! , dachte er verzweifelt. Hinfort! In dem hoffnungsvollen Versuch, die Bilder zu vertreiben, stieß er fester zu, schneller und steigerte damit ganz offensichtlich Beatrix’ Lust, denn sie stöhnte auf, fuhr mit ihren Fingern in sein Haar, kratzte über seine Kopfhaut, dann seinen Nacken hinab und über seinen Rücken.
Dies war purer Irrsinn! Palmiros Gesicht wollte und wollte nicht von seinem inneren Auge weichen. Schlimmer noch: Je intensiver Benedikt an ihn dachte, an seinen festen männlichen Körper, die harten Muskeln unter glatter, straffer Haut, desto mehr wuchs seine Erregung. Das war so gänzlich falsch, dass ihn eine neue Welle der Übelkeit erfasste. Mit aller Kraft versuchte er, seine Aufmerksamkeit gänzlich auf die Frau zu richten, die mittlerweile für sein Dafürhalten viel zu laut in dem Rhythmus keuchte und stöhnte, den er ihr vorgab. Dies musste ein Ende haben! Nicht nur versündigte er sich gerade gegen das heilige Sakrament der Ehe, sondern er tat weder Beatrix noch sich selbst einen Gefallen damit. Doch ihre Worte hallten in ihm wider, mit einem Mal stand ihm ihr Leben vor Augen. Ein Leben voller Entbehrungen, dem seinen nicht ganz unähnlich, wenn auch auf gänzlich andere Art und Weise. Der Schmerz, den dieser Gedanke bei ihm auslöste, half ihm dabei, sich mehr dem Hier und Jetzt, ihrem Körper zuzuwenden. Was schadete es, wenn er ihr diesen Wunsch erfüllte? Er war ohnehin bereits des Teufels.
Als sie seinen Kopf zu sich herabzog, ließ er zu, dass ihre Münder erneut aufeinandertrafen, und nun erinnerte sein Körper sich auch noch an einige weitere Dinge, mit denen er die weibliche Lust vorantreiben konnte. Die eine oder andere kundige Dirne hatte ihn dereinst in ein, zwei Geheimnisse eingeweiht, ganz sicher nicht ohne einen gewissen Eigennutz.
Warum aber, warum nur fiel es ihm so schwer, diese überaus leidenschaftliche Zusammenkunft selbst mehr zu genießen? Auch wenn er nicht oft einer Frau beiwohnte, konnte er sich doch nicht daran erinnern, jemals selbst so wenig Lust dabei empfunden zu haben. Oder täuschte er sich gerade selbst? Hatte er nur einfach nie den wahren Unterschied zwischen der Befriedigung eines rein körperlichen Bedürfnisses und wahrer Leidenschaft erkannt?
Auch wenn es ihm eine neue Welle des Unwohlseins bescherte, gab er schließlich dem irrwitzigen Verlangen nach, seine Gedanken erneut zu jener Nacht in der Scheune zurückwandern zu lassen, zu innigen Küssen, heißer Haut, kundigen Männerhänden. Verzweiflung stieg in ihm auf und noch etwas, das er, wenn er es sich gestattet hätte, als Sehnsucht erkennen musste. Zugleich spürte er, wie Beatrix sich unter ihm immer mehr anspannte, ihn bei jedem harten Stoß begierig willkommen hieß, bis sie schließlich einen kaum unterdrückten Schrei ausstieß und wenig später spürbar von beglückenden Lustwellen heimgesucht wurde.
In Benedikt hatte sich inzwischen ebenfalls ein kaum zu bändigender Druck aufgebaut, dem er schließlich mit einigen weiteren Stößen und einem letzten Gedanken an wesentlich sündhafteres Tun nachgab. Mit einem hilflosen Keuchen zog er sich gerade noch rechtzeitig aus Beatrix zurück und verausgabte sich schwer atmend auf dem zerwühlten Laken.
Obgleich Beatrix außer Atem war, stieß sie ein gurrendes Lachen aus. »Mir scheint, du hast in den vergangenen zweiundzwanzig Jahren einiges dazugelernt. Und sag, ist dies nicht ein überaus angenehmer Zeitvertreib?« Sie ließ es zu, dass er sich zur Seite rollte, bis er auf dem Rücken lag, doch ihre Hand tastete ungeniert weiter über seinen Leib. »Wenn dir danach ist, braucht es auch nicht bei diesem einen Mal zu bleiben. Niemand wird mich heute Nacht in meinem eigenen Bett vermissen. Wir können also …«
»Verflucht, Beatrix, nein!« Energisch umfasste er ihr Handgelenk. Eine unheilvolle Leere befiel ihn, verdüsterte seine Seele und ließ sein Herz schwer wie einen Felsblock in seiner Brust pochen. »Das werden wir nicht tun. Du hast deinen Willen bekommen, aber meiner Treu, wiederholen werden wir dies nicht.«
»Warum nicht?« Sie drehte sich auf die Seite, ohne darauf zu achten, dass ihr dabei die Decke bis zur Hüfte hinabrutschte. »Dietmars wegen brauchst du dir wirklich keine Sorgen zu machen. Er schläft wie ein Stein, und selbst wenn er erwachen würde, könnte er doch nichts tun. Auch wird er mich wohl kaum verstoßen, denn er vermag sich mittlerweile nicht mehr verständlich zu machen. Kaum jemand außer mir versteht, was er noch vor sich hin brabbelt.«
»Darum geht es doch gar nicht«, begehrte er auf, schränkte dann jedoch ein: »Oder doch, selbstverständlich geht es darum. Wir haben soeben Ehebruch begangen, und auch wenn dir das offensichtlich gleichgültig ist, womöglich sogar aus verständlichen Gründen, will ich diese Schuld doch nicht wiederholt auf mich laden. Ganz davon abgesehen …« Er brach ab. Nein, auf gar keinen Fall würde er ihr offenbaren, wie es innerlich um ihn stand. Weder ging es sie etwas an, noch würde sie es verstehen. Wie sollte sie auch, wenn er nicht einmal selbst begriff, was in ihm vorging. Er deutete auf den Hausmantel, der bis ans Fußende des Bettes gerutscht war. »Bedecke dich, Beatrix, in Gottes Namen!«
Befremdet und offensichtlich enttäuscht gehorchte sie, zog den Mantel zu sich heran und hüllte sich darin ein, blieb jedoch weiterhin neben ihm im Bett liegen.
Für eine geraume Weile musterte sie ihn schweigend und eingehend. »Meinetwegen brauchst du kein schlechtes Gewissen zu haben.« Sie schürzte die Lippen. »Doch womöglich deinetwegen? Was ist es? Hast du irgendwo ein Weib zurückgelassen? Ich dachte, du seist nicht verheiratet.«
»Bin ich auch nicht.« Die Übelkeit meldete sich einmal mehr zurück.
»Was dann? Eine Herzallerliebste?«
»Nein.«
»Bist du sicher? Dann liegt etwas anderes dir auf der Seele. Ich kann mir nur gerade nichts vorstellen, was einen Mann deiner Art vom Beischlaf abhalten könnte, wenn nicht eine hübsche Maid – oder ein Gelübde.« Argwöhnisch runzelte sie die Stirn. »Du hast gesagt, du seist ein Spion der Inquisition. Musstest du dafür in einen Orden eintreten? Das Gelübde der Keuschheit ablegen?«
Womöglich wäre es einfacher gewesen, dies als Ausrede zu benutzen, doch er hatte bereits den Kopf geschüttelt, bevor ein solcher Gedanke in ihm Fuß fassen konnte. »Nein.« Er seufzte unterdrückt. »Ich kann und will nicht weiter darüber reden, also lass es auf sich beruhen, Beatrix. Dies war eine einmalige Sache, und wenn ich dir damit einen Gefallen tun und dir in deinem sicherlich schwierigen Leben einen Augenblick der Freude verschaffen konnte, dann soll es mir recht sein. Doch wie gesagt, wiederholen werden wir nichts dergleichen. Nicht heute, nicht morgen, nicht irgendwann.«
Wieder musste er eine geraume Weile ihre eingehende Musterung über sich ergehen lassen. Schließlich nickte sie zögernd. »Also gut, ich kann dich wohl kaum dazu zwingen.«
Er stieß ein halb bitteres, halb sarkastisches Schnauben aus. »Doch, das könntest du wohl, denn andernfalls wäre dies eben gar nicht erst geschehen.«
Überraschung spiegelte sich in ihrem Gesicht. »Dass ein Mann eine Frau zwingen kann, ist unbestritten, aber dass auch eine Frau den Mann zum Beischlaf zwingen kann, ist mir neu. Natürlich kann sie ihn verführen, aber Zwang ausüben?«
»Glaub mir, es ist möglich.« Er richtete sich ein wenig auf und lehnte sich gegen das Kopfteil des Bettes. »Es ist jedoch dem Mann ebenso wenig willkommen, wie es der Frau sein dürfte, wenn sie gezwungen wird.«
»Auch wenn er dabei Lust empfindet?« Die Furchen auf Beatrix’ Stirn vertieften sich. »Denn glaub mir, bei einer Frau ist dies kaum jemals der Fall, wenn ein Mann sich ihr aufdrängt.«
Darüber dachte nun wiederum Benedikt eine Weile nach. »Möglicherweise sind Männer in dieser Hinsicht von Gott etwas anders geschaffen worden, dennoch besteht ein großer Unterschied darin, ob es sich um die reine Lust des Bedürfnisses handelt, das die Frau mittels Zwangs hervorgerufen hat, oder um die Wollust, die, wenn sie ausgelebt und befriedigt wird, dem betreffenden Mann nicht Widerwillen, ein Gefühl der Leere, Schuldgefühle oder ähnliche Empfindungen beschert.«
»Und all diese Empfindungen treffen auf dich zu?«
Benedikt ging nicht darauf ein. »Es wäre besser, wenn du jetzt gehst.«
Beatrix nickte, rührte sich jedoch nicht von der Stelle. »Darf ich dir von meiner zweiten Tochter erzählen?«
Überrascht beugte er sich vor. »Was ist mit ihr?«
»Ich habe auch sie verloren.« Nun setzte auch Beatrix sich auf und lehnte sich gegen das Kopfteil. »Sie ist nicht tot … Zumindest bete ich jeden Tag zur Gottesmutter und zum Herrn, dass sie noch lebt und irgendwo ihr Glück gefunden hat.«
Kurz hielt sie inne.
»Es war vor etwa zweieinhalb Jahren, sie stand vor ihrem sechzehnten Geburtstag, und Dietmar hatte für sie bereits einen Ehevertrag ausgehandelt und den Hochzeitstermin festgesetzt.« Sie lächelte bitter. »Bei ihr hat er mein Flehen erhört, sie nicht zu früh zu verheiraten. Wir hatten sie seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr bei einer befreundeten Familie in Nürnberg untergebracht, doch für ihren Geburtstag und die Hochzeitsvorbereitungen sollte sie zu uns nach Hause zurückkehren.«
Sie stockte, schluckte, kniff für einen Moment Augen und Lippen fest zusammen, bevor sie fortfuhr: »Es war auf dem Weg hierher; Dietmar und Fredo waren gemeinsam nach Nürnberg gereist, um sie abzuholen. Doch sie konnten nicht verhindern …« Wieder schluckte sie hart. »Sie wurden von Wegelagerern überfallen.«
Benedikt senkte betroffen den Blick und wehrte sich diesmal nicht, als sie nach seiner Hand griff.
»Dietmar, Fredo und die beiden Waffenknechte, die sie begleiteten, haben alles versucht, doch es waren zu viele. Sie haben ihnen alles Geld, Gepäck und Wertsachen geraubt und Gesine …« Nun glänzten Tränen in ihren Augen. »Sie konnten das Schlimmste verhindern, Dietmar und Fredo, doch meine geliebte Tochter wurde schwer verletzt. Barmherzige Anwohner aus einem der Dörfer fanden die drei und halfen ihnen. Die beiden Waffenknechte hatten ihr Leben gelassen. Am schlimmsten stand es um Gesine, denn sie hatte eine schlimme Kopfverletzung.« Fahrig wischte Beatrix die Tränen fort, die ihr über die Wangen rannen. »Gottlob erholten sich alle drei wieder, doch Gesines Seele … Sie war schwer gezeichnet, auch wenn diese Unholde sie nicht geschändet hatten. Leider konnten wir sie nun auch nicht mehr verheiraten, denn obwohl wir es stets bestritten, glaubten viele, dass man ihr womöglich doch Gewalt angetan hatte.«
»Beatrix …« Benedikt wusste nicht, was er darauf erwidern sollte.
»Selbst in den Klöstern wollte man sie nicht haben.« Ein bitterer Unterton schlich sich in ihre Stimme. »Nur die Beginen erklärten sich schließlich bereit, sie aufzunehmen; doch der Priester, der sie betreute, beharrte darauf, dass sie zuvor lange und ausgiebig ihre Sünden bereuen müsse.« Sie stieß einen bitteren Laut aus. »Ihre Sünden! Kannst du dir das vorstellen? Dabei hatte sie doch überhaupt nichts verbrochen. Großer Gott.« Energisch rieb sie sich über die Wangen. »Aber das war nicht einmal das Schlimmste.«
Fragend musterte er sie. »Was kann noch schlimmer sein?«
Hilflos hob Beatrix die Schultern. »Das arme Kind hatte jegliche Erinnerung an die scheußlichen Ereignisse verloren. Nun mag man vielleicht denken, das sei in gewisser Weise eine Gnade des Herrn, doch nicht nur den Überfall hatte sie vergessen, sondern auch … sich selbst.«
Verwirrt starrte er sie an. »Sich selbst? Wie soll ich das verstehen?«
»Sie konnte sich nicht an ihren Namen erinnern noch daran, wer ihre Eltern waren, ihr Bruder, irgendjemand. Sie wusste auch nicht, wo sie wohnte. Sie besaß nicht die kleinste Erinnerung daran, wer sie war und wie ihr Leben verlaufen ist. Es war, als sei sie nicht mehr meine Tochter und ich nicht mehr ihre Mutter. Sie betrachtete uns nicht nur als Fremde, sie vertraute uns auch nicht. Dietmar wollte sie schon einsperren oder in den Turm bringen lassen, weil er glaubte, sie habe den Verstand verloren. Das hatte sie nicht. Sie war immer noch die gut erzogene und ordentlich ausgebildete Jungfer von früher; sie hatte lediglich all ihre Erinnerungen verloren.«
Benedikt schüttelte den Kopf. »Wie kann ein Mensch seine Erinnerung verlieren? So etwas habe ich noch nie gehört.«
»Ich weiß es auch nicht.« Unglücklich blickte Beatrix auf ihre Hände. »Der Medicus, den wir hinzugezogen haben, hat behauptet, so etwas könne eintreten, wenn jemand einen Schlag auf den Kopf bekommen hat. Manchmal dauert es eine Weile, bis die Erinnerung zurückkehrt, manchmal geschieht dies aber auch niemals.«
»Und wo ist Gesine jetzt?«, hakte er vorsichtig nach.
Beatrix schlug die Hände vors Gesicht. »Wir wissen es nicht. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, sie auch noch ihrer Freiheit zu berauben, doch hätte ich auf Dietmar gehört, wäre sie jetzt nicht fort.« Verzagt ließ sie die Hände wieder sinken. »Sie hat uns nicht vertraut. Niemandem hat sie getraut. Ich habe alles versucht … Eines Tages war sie verschwunden. Sie muss sich bei Nacht und Nebel davongestohlen haben, und obgleich wir Männer in alle Himmelsrichtungen ausgesendet haben, die sie suchen sollten, blieb sie unauffindbar.« Mit bitterem Blick sah sie ihn an. »Fast so wie du, nur mit dem Unterschied, dass du ganz genau wusstest, wer du warst. Ich mag mir gar nicht vorstellen, was aus meinem Kind geworden sein mag. Sie ist in die Welt hinausgegangen, ohne Erinnerungen und nur mit dem, was sie am Leib trug. Sie muss tot sein. Ich kann es nicht glauben, will es nicht wahrhaben, doch die Wahrscheinlichkeit, dass sie noch lebt, ist denkbar gering.«
Unvermittelt griff sie noch einmal nach seiner Hand. »Kannst du nun begreifen, warum ich den Gedanken nicht ertrage, auch noch Marie-Jeanne zu verlieren? Wenn es nach dem Willen ihres Vaters geht – und letztlich wird es so geschehen –, dann wird sie höchstwahrscheinlich niemals eine erwachsene Frau werden.« Jäh ließ sie seine Hand wieder los, erhob sich und wickelte den Hausmantel fest um ihren Leib. »Ich würde dich nicht darum bitten, wenn ich nicht sicher wäre, dass du der Einzige bist, der sich diesem Schicksal vielleicht noch in den Weg stellen kann.« Damit wandte sie sich ab und verließ die Schlafkammer.
Betroffen und von vollkommener Ratlosigkeit erfasst, starrte Benedikt auf die Tür, die sich mit einem vernehmlichen Klappen hinter ihr schloss.