S irr.
Erschrocken blickte Benedikt sich auf dem Vorplatz des beeindruckenden Straßburger Münsters um.
Sirr. Sirr.
»Was soll das?«, murmelte er ungehalten.
»Was meint Ihr?« Der schmale grauhaarige Mann mit den langen Schläfenlocken der Juden blickte fragend zu ihm auf.
Abwehrend schüttelte Benedikt den Kopf. »Nichts. Ich dachte nur, ich hätte etwas gehört. Eine Fliege womöglich.«
»Eine Fliege um diese Jahreszeit und noch dazu am Abend?«
Benedikt winkte ab. »Ich habe mich wohl getäuscht. Doch nun sagt mir, Samuel, was Ihr über mein Anliegen denkt.«
Nun war es an dem Juden, sich eingehend auf dem rege bevölkerten Vorplatz des Münsters umzusehen. Die Sonne war schon vor Stunden untergegangen, dennoch wuselten Knechte und Mägde und ein paar letzte Bauarbeiter um sie herum, die ein neues Bürgerhaus direkt dem mächtigen Gotteshaus gegenüber errichteten. Handwerker und Kaufleute befanden sich ebenfalls in der Menge, viele von ihnen vermutlich gerade auf dem Weg nach Hause, nachdem sie ihr Tagewerk beendet hatten, oder zu einer Abendeinladung, einer Zunftversammlung oder Ähnlichem. Nach einer gefühlten Ewigkeit des Schweigens ergriff Samuel schließlich das Wort: »Ich fürchte, Euch wird nicht gefallen, was ich dazu zu sagen habe, Herr Benedikt.«
»Ihr wollt mir also keinen Kredit geben.«
»Was ich will, ist in dieser Sache zweitrangig.« Bedächtig strich sich Samuel durch den langen Bart. »Ich muss sowohl an den mir in Aussicht stehenden Profit denken als auch an Euch als meinen Kunden, Herr Benedikt. Ihr seid derzeit nicht fest in irgendeinem Dienst, wenn ich es recht verstanden habe. Doch selbst wenn das der Fall wäre, es wäre unverantwortlich von mir, Euch eine Summe in der von Euch genannten Höhe zu leihen, weder auf bestimmte noch auf unbestimmte Zeit. Ich muss damit rechnen, dass Ihr nicht in der Lage sein werdet, allein nur die anfallenden Zinsen zu begleichen, geschweige denn den gesamten Betrag. Ich weiß nicht, ob Ihr es bereits andernorts versucht habt, aber wenn, dann werdet Ihr nirgendwo etwas anderes zu hören bekommen haben, nicht wahr? Falls ich Eure erste Anlaufstelle war, rate ich euch davon ab, es woanders zu versuchen, denn Ihr werdet kein Glück haben. Ich wünsche Euch nur das Beste und dass Euch Euer Ansinnen auf andere Weise gelingen möge. Doch unter den gegebenen Umständen sehe ich mich außerstande, Euch guten Gewissens auch nur einen Bruchteil der erforderlichen Summe gegen Zinslast auszuzahlen.« Väterlich klopfte Samuel ihm auf die Schulter. »Es ehrt Euch, Herr Benedikt, dass Ihr versucht, etwas für das Mädchen zu tun. Mich wiederum freut es selbstverständlich sehr, dass Ihr Euch, obgleich unsere Bekanntschaft schon so lange zurückliegt, an mich erinnert habt und genügend Vertrauen in mich setzt, um mich um Hilfe zu bitten. Doch wenn ich ehrlich sein soll, und das muss ich sein, kann ich nur noch einmal wiederholen, dass Ihr Euch etwas anderes überlegen müssen werdet.«
Nach einem kurzen Moment des Innehaltens fügte er hinzu: »Ich glaube kaum, dass es Euch irgendwo sonst nicht ebenso ergehen wird. Also versucht, Euer Problem auf andere Weise zu lösen. Geht alle Möglichkeiten durch, die Euch bleiben, sei es Familie, seien es alte oder neue Freunde oder Verbündete. Ich bin sicher, irgendetwas wird Euch einfallen, wenn euch wirklich so viel am Schicksal des Kindes liegt.«
Benedikt nickte resigniert. »Ich hatte mir bereits gedacht, dass mein Ansinnen fruchtlos bleiben würde, Samuel. Doch Ihr werdet verstehen … Ich musste es zumindest versuchen.«
Der Jude nickte und klopfte ihm noch einmal väterlich auf die Schulter. »Gewiss, mein Freund, gewiss. Glaubt bitte nicht, dass es mir leichtfällt, Euch diese Absage zu erteilen. Nicht nach allem, was Ihr damals für mich und meine Familie getan habt, als wir von diesem wütenden Mob überfallen wurden. Dafür stehe ich auf ewig in Eurer Schuld, aber ich kann sie, so leid es mir tut, nicht begleichen, indem ich den Grundsätzen meines Gewerbes zuwiderhandle und Euch sehenden Auges Geld leihe, von dem ich annehmen muss, dass Ihr es nicht zurückzahlen können werdet. Zumindest nicht, solange Ihr nicht irgendeinen materiellen Gegenwert und eine feste Anstellung aufbieten könnt. Damit schütze ich nicht nur mich, sondern auch Euch. Sollte sich an Euren Voraussetzungen etwas ändern, etwa durch ein Erbe … Nein? Ich verstehe, das ist wohl ausgeschlossen. Aber dennoch: Sollte sich an Eurer Situation etwas ändern, zögert nicht, Euch erneut an mich zu wenden.«
Verständnisvoll neigte Benedikt den Kopf. Natürlich war ihm bewusst gewesen, dass die Wahrscheinlichkeit, von irgendjemandem einen Kredit in solch schwindelerregender Höhe zu erhalten, verschwindend gering war. »Ich danke Euch dennoch, dass Ihr Euch die Zeit genommen habt, mich anzuhören, Samuel.«
»Jederzeit, Herr Benedikt, jederzeit – um unserer alten Freundschaft willen.« Der Jude nickte ihm freundlich zu, hob im nächsten Augenblick aber den Kopf, als ganz aus der Nähe, vermutlich vom südlichen, noch unvollendeten Turm des Münsters herab, ein signalartiger Hörnerschall ertönte. Plötzlich hatte er es sichtlich eilig. »Das ist das Grüselhorn! Ich habe gar nicht bemerkt, wie spät es schon ist. Leider muss ich mich jetzt entschuldigen, damit ich noch rechtzeitig das Stadttor erreiche, bevor die Stadtwachen mich aufgreifen.« Er nickte Benedikt noch einmal wohlwollend zu. »Gehabt Euch wohl und viel Glück bei Eurem Unterfangen, wohledler Herr.«
»Gott zum Gruße«, antwortete Benedikt. »Richtet Eurer Gemahlin meine besten Wünsche aus.«
»Das werde ich gerne tun, Herr Benedikt.« Zum Abschied hob Samuel noch einmal kurz die Hand, dann eilte er mit großen Schritten davon.
Noch einmal stieß der Turmwächter kurz, aber unüberhörbar in das Grüselhorn. Seit man vor gut dreißig Jahren während der großen Pestkatastrophe mindestens zweitausend Juden in Straßburg ermordet und verbrannt hatte, gab es eine städtische Verfügung, die besagte, dass jeder Jude bis zu einer bestimmten Zeit am Abend das Gebiet innerhalb der Stadtmauern zu verlassen hatte. Andernfalls erwartete ihn eine empfindliche Strafe. Einer der Nachtwächter blies jeden Abend zu Sonnenuntergang das Grüselhorn, um daran zu gemahnen. Deshalb würde Samuel sich nun auf direktem Wege hinüber nach Bischofsheim begeben, ein Dorf nicht weit vor der Stadtmauer, in dem sich seit jenen grausamen Tagen eine erkleckliche jüdische Gemeinde niedergelassen hatte.
Sirr. Sirr.
»Verdammt noch eins! Was willst du von mir?«, knurrte Benedikt in sich hinein.
Sirr.
Er wurde noch verrückt, wenn dieses Gesumme nicht allmählich aufhörte. Himmelherrgott noch mal, es war nicht einmal in seiner Nähe! Es befand sich in Koblenz. Warum nur belästigte es ihn ständig?
Sirr.
Vielleicht würde es helfen, wenn er nach langer Zeit einmal wieder einen Gottesdienst besuchte. Heute Abend fand freilich keiner mehr statt, doch gleich morgen früh würde er die Messe im Liebfrauenmünster anhören.
Sirr.
»Das gefällt dir, was?« Missmutig verzog er die Lippen.
Sirr.
Entnervt stieß er die Luft aus und blickte an dem Gemäuer des imposanten Gotteshauses empor. Er war in seinem Leben weit herumgekommen und hatte bereits zahlreiche Kirchen gesehen. Diese hier gehörte eindeutig zu den beeindruckendsten, an die er sich erinnern konnte. Himmelhoch strebten die beiden Türme, noch unvollendet, und auch Apsis, Chor, Querhalle und Langhaus zeigten beeindruckende Dimensionen. Es erstaunte ihn immer wieder, zu welch großartigen Bauwerken der Mensch fähig war. Unvermittelt beschloss Benedikt, sich für einen Moment der Einkehr in das Münster zu begeben.
Das Innere des Gotteshauses war von unzähligen Kerzen sowie zahlreichen Kienspänen in Wandhalterungen erleuchtet. Der Gesang eines Chores, vermutlich Augustiner- oder Benediktinermönche, schallte ihm entgegen. Ebenso wie auf dem Vorplatz wuselten auch im Inneren der Kirche zahlreiche Menschen umher, unterhielten sich, schlossen Geschäfte ab, manche beteten an einem der vielen Seitenaltäre. Benedikt begab sich zielstrebig in die Halle des südlichen Querschiffs bis zu deren hoher Mittelstütze, im Volksmund Engelspfeiler genannt. Sinnierend blickte er daran empor. Dieser Pfeiler hatte ihn schon immer seltsam angezogen. Steinmetze hatten auf ihm in recht eigenwilliger Art ein Figurenensemble verewigt, das das Jüngste Gericht darstellte. Die Kunstfertigkeit in der Ausführung jedes einzelnen Details fesselte ihn immer wieder, ebenso wie er stets die lebensechten Gesichter bewunderte, mit denen die einzelnen Engelsfiguren versehen waren. Wer auch immer dieses Kunstwerk erschaffen hatte, er hatte sich damit ganz sicher mindestens einen Stehplatz in den himmlischen Gefilden zur Rechten des allmächtigen Vaters gesichert.
Sirr.
Verärgert verzog Benedikt die Lippen. »Was ist denn nun schon wieder? Kannst du mich nicht einmal in meiner Andacht in Ruhe lassen?«
Sirr.
Ein eigenartiges Prickeln stieg seinen Nacken empor, das er normalerweise nur empfand, wenn er sich beobachtet fühlte. Alarmiert sah er sich um, konnte jedoch nichts und niemand Auffälliges entdecken. Da er sich lächerlich vorkam, auf ein imaginäres Surren zu hören, das von einem Kruzifix ausging, welches in Hunderten Meilen Entfernung um Palmiros Hals hing, wandte er sich schließlich entschlossen von dem Pfeiler ab und strebte der Katharinenkapelle zu, einem Anbau von beachtlichen zwei Joch Länge zwischen südlichem Querhaus und Seitenschiff. Hier war es ruhiger als in den übrigen Bereichen des Gotteshauses, wenn auch der Gesang der Mönche bis hier herüberdrang. Vor dem Altar in der Kapelle kniete nur ein einzelner Dominikanermönch, offensichtlich in tiefe Andacht versunken. Rechts und links des Zugangs zur Kapelle standen zwei weitere Dominikaner, geharnischt allerdings, mit verschränkten Armen, die Blicke auf den Betenden gerichtet.
Benedikt beachtete weder die beiden Geharnischten noch den betenden Mönch weiter. Er lehnte sich gegen den Strebepfeiler, der zusammen mit drei Arkaden die Kapelle vom Altar und Chorraum trennte, und ließ seinen Blick hinauf zu den bunten Bleiglasfenstern schweifen, die um diese Uhrzeit trotz des Kerzenscheins weitgehend in einem mystischen Dunkel lagen. Je länger er dort hinaufblickte, desto mehr beruhigte sich sein Inneres, und seine Gedanken begannen sich zu klären.
Er war mit Ardo zu einer Übereinkunft gelangt, ganz wie Véronique es vorausgesagt hatte. Das Problem war nur, dass er seinen Teil der Abmachung nicht würde erfüllen können. Wie auch, besaß er zwar durchaus ein ordentliches Polster an geldwerten Wechseln und dem, was er sich von seinem Sold über die Jahre erspart hatte, doch reichte dies nicht einmal ansatzweise, um die geradezu unverschämten Forderungen zu begleichen, die Alins Witwer an ihn stellte. Schon gar nicht, nachdem er nun seinen letzten Auftrag für den römischen Inquisitor nicht ausgeführt hatte und deshalb wohl auch kaum mit der Vergütung desselben zu rechnen hatte. Ganz zu schweigen davon, dass es fraglich war, ob er überhaupt mit einem Sold hätte rechnen können, nachdem er ja vor einiger Zeit durch Zufall erfahren hatte, dass man Erasmus aus Rom verjagt hatte.
Ihm blieb also nur eine Möglichkeit: Er musste sich einem neuen Dienstherrn anschließen, möglichst bald, und es musste eine Stellung sein, die ihn in die Lage versetzte, möglichst rasch größere Geldbeträge aufzutreiben. Viele Möglichkeiten blieben ihm deshalb nicht. Am ehesten würde ihm dies gelingen, wenn er sich jemandem wie dem Wildgrafen von Kleve anschloss, der eine Horde von Plackerern und Strauchrittern um sich scharte, die durchreisende Handelskarawanen überfielen und die Beute entweder unter sich aufteilten oder gemeinsam weiterverschacherten. Auch wenn es ihm zutiefst widerstrebte, sich solchem Gesindel anzuschließen, gab es vermutlich kaum eine andere Möglichkeit, wenn er Marie-Jeanne von ihrem Vater loskaufen wollte.
Sirr.
Er zuckte innerlich zusammen. Ich weiß , dachte er grimmig bei sich. Es geht gegen meine Ehre, doch was anderes bleibt mir übrig?
Sirr.
Anders werde ich ein solches Vermögen nicht auftreiben können, und selbst wenn es mir gelingen sollte, mich einer Gruppe Strauchritter anzuschließen, wird es möglicherweise Jahre dauern, bis ich genug Geld beisammenhabe.
Sirr. Sirr.
Ärger stieg in ihm auf. Du hast nicht über meine Entscheidungen zu befinden!
Sirr. Sirr. Sirr.
Er zuckte zusammen, weil das Summen in seinen Ohren plötzlich regelrecht schrill geworden war. Abwehrend drehte er sich zur Seite und rieb sich heftig mit der Hand über sein rechtes Ohr. »Verflucht noch eins«, murmelte er verdrießlich. »Was soll denn das nun schon wieder?« Als er sich aufrichtete, fiel sein Blick erneut auf den Dominikaner vor dem Altar, der sich gerade erhob und noch einmal bekreuzigte. Als er sich umwandte und gemessenen Schrittes auf die beiden geharnischten Geistlichen zuging, hätte Benedikt sich vor Verblüffung beinahe verschluckt. Es handelte sich um niemand anderen als Erasmus von London!
Hastig zog Benedikt die Kapuze seines Mantels über den Kopf und tief in seine Stirn, doch der ehemalige Inquisitor hatte ihn gar nicht beachtet und wandte ihm inzwischen den Rücken zu. Er wechselte ein paar leise Worte mit den beiden anderen Dominikanern, dann verließen alle drei die Kapelle.
Sirr.
Wieder zuckte Benedikt zusammen. »War es das, was du mir mitteilen wolltest?« Allmählich verlor er wohl tatsächlich den Verstand, denn jetzt redete er schon mit einer Reliquie, die gar nicht da war.
Sirr.
Vorsichtig schob sich Benedikt um den Strebepfeiler herum und linste durch das halbhohe Schmuckgitter, das sich zwischen dem Pfeiler und der sich daran anschließenden Arkade befand, und beobachtete, wie Erasmus, dicht gefolgt von seinen beiden Wächtern, das Kirchenschiff in Richtung des Hauptportals durchquerte.
Was nun?
Sirr.
Benedikt verdrehte die Augen, stieß sich vom Pfeiler ab und nahm die Verfolgung auf.
***
Langsam, gemessenen Schrittes und hocherhobenen Hauptes, die Hände in die Ärmel seines Habits geschoben, durchquerte Erasmus von London das imposante Kirchenschiff des Straßburger Münsters. Er ließ sich Zeit, weil er wusste, dass er, sobald sie das Gotteshaus verlassen hatten, dem Wohl und Wehe seiner beiden Begleiter ausgesetzt war. Solange er sich in einer Kirche befand und betete, ließen sie ihn in Ruhe. Doch da sie vom Heiligen Vater höchstselbst die Order erhalten hatten, ihn auf dem schnellsten und einfachsten Weg in sein Mutterkloster in England zu geleiten, trieben sie ihn, sobald er den geheiligten Boden verließ, unbarmherzig an. Er wusste, dass es ihnen zuwider war, einem in Ungnade gefallenen Inquisitor quer durch das Heilige Römische Reich zu folgen und dabei sicherzustellen, dass er sich nicht heimlich aus dem Staub machte.
Anfangs hatte er diese Möglichkeit durchaus in Betracht gezogen. Er war voll des Zorns, weil man ihn, vollkommen ungerechtfertigt, all seiner Privilegien beraubt hatte, nur weil seine Jagd auf die Nachfahren der Tempelritter und alle ketzerisch Verblendeten, die sich ihnen angeschlossen hatten, ein wenig länger dauerte und aufwendiger war, als er ursprünglich geplant hatte. Er hatte noch versucht, zumindest den Kardinälen begreiflich zu machen, welch große Bedeutung die endgültige Eliminierung dieser Häretiker für die Christenheit hatte, gar nicht zu reden von dem unermesslich wertvollen Gralsschatz, den zu entdecken er sich erhofft hatte.
Er war so kurz davor gewesen! So dicht! Die Entdeckung dieser beiden Männer aus dem Rheinland, die den Gralswächtern im Heiligen Land beigestanden hatten, war ein Geschenk des Himmels gewesen – ein Wink Gottes. Zumindest hatte er das geglaubt, und daran wollte er auch jetzt noch weiter festhalten. Denn was blieb ihm am Ende noch, wenn er diesen Glauben verlor? Er hatte vor vielen, vielen Jahren für sich erkannt und beschlossen, dass es seine Berufung war, der Heiligen Mutter Kirche zu dienen, jedoch nicht nur als einfacher Mönch, der unerkannt in irgendeinem abgelegenen Kloster Abschriften der Heiligen Schrift anfertigte. Nein, er hatte mehr gewollt, gewusst, dass er zu weit mehr imstande war. Er hatte die Welt sehen und sie vom Geschwür der Ketzerei befreien wollen.
Ketzerei. Das größte Übel der Menschheit, da war er sich sicher. Sie konnte jeden befallen, denn der Teufel nutzte jede Einfallspforte mit Hinterlist und Tücke. Sogar er selbst war einst nicht gänzlich davor gefeit gewesen, doch er hatte im letzten Augenblick begriffen, auf welch gotteslästerlichen Abwegen er sich befunden hatte. Seit jenem Tag hatte er sich der Ausrottung der Ketzerei verschrieben, jener Wurzel allen Übels, die spross, wohin man auch blickte.
Vielleicht, so dachte er bei sich, konnte er den Heiligen Stuhl doch noch davon überzeugen, dass er recht gehabt hatte. Jeden Tag betete er um Kraft, die beschwerliche Reise zu überstehen. Mit seinen annähernd fünfundfünfzig Jahren war er beileibe nicht mehr der Jüngste, und der weite Fußweg von Rom aus bis zu dem einzigen großen Alpenpass, den sie um diese Jahreszeit noch problemlos hatten überqueren können, hatte an ihm gezehrt. Nicht zuletzt natürlich, weil seine beiden Begleiter, beide nur halb so alt wie er, dafür gesorgt hatten, dass er kaum jemals eine längere Pause hatte einlegen können. Lediglich wenn sie durch Städte kamen, in denen sich der Besuch einer bekannten Kirche anbot, gestatteten sie ihm einen etwas längeren Aufenthalt. So wie hier in Straßburg. Dabei war es reines Glück gewesen, dass das Handelsschiff, welches sie kurz nach der Überquerung des Alpenpasses in Konstanz bestiegen hatten, hier einen Zwischenhalt eingelegt hatte, um neue Handelswaren aufzunehmen und die örtlichen Kaufleute zu beliefern. Andernfalls wären sie wahrscheinlich ohne weiteren Aufenthalt bis nach Mainz gefahren. Wenngleich auch der dortige Dom eines Besuches unbedingt wert war – und Erasmus gedachte nicht, diesen auszulassen, ganz gleich, was seine beiden Begleiter davon halten mochten –, war es ihm doch ein Anliegen gewesen, das Straßburger Münster noch einmal aufzusuchen. Damals, vor langer Zeit, war er schon einmal hier gewesen, als er sich auf dem Weg nach Rom befand, den festen Entschluss im Gepäck, es dort zu etwas zu bringen.
Wenn seine Zeit im Schatten des Heiligen Stuhls nicht gänzlich vergebens gewesen sein sollte, blieb ihm wohl nichts anderes übrig, als sich selbst auf die Suche nach den beiden mutmaßlichen Ketzern zu begeben, sie zu überführen und, falls möglich, den verantwortlichen Kirchenbehörden zu überantworten. Diese würden, da war er sich sicher, seinen Namen wohlwollend gegenüber dem Kardinalsgremium in Rom erwähnen, wenn sie ihnen, in seiner Begleitung selbstverständlich, die Delinquenten überbrachten, ebenso wie die Information darüber, wo sich dieser unglaubliche Reliquienschatz befand.
Kurz vor dem Portal blieb er stehen, drehte sich noch einmal um, ließ den Blick durch das Kirchenschiff wandern. Der Abend war bereits fortgeschritten, die Schar der Besucher hatte sich gelichtet, und auch die Chorgesänge waren mittlerweile verklungen.
Er würde seinen Plan vollenden. Irgendwie würde es ihm gelingen, die Ketzer zu überführen und den Gralsschatz zu entdecken – und wenn es das Letzte war, was er in seinem jämmerlichen Leben vollbrachte.