S orgsam schloss Graf Johann die Haustür ab, nachdem der letzte Weihnachtsgast sein Haus verlassen hatte. Die Stille, die ihn nun umgab, gellte in seinen Ohren. Rasch begab er sich mit Elisabeth zurück in die Stube, in der er zuvor noch mit seinen Kindern und deren Familien vergnügliche Stunden verbracht hatte. Nachdenklich betrachtete er das Durcheinander von Tellern, leeren Gebäckkörbchen und Schüsseln auf dem Tisch und vergessenem Kinderspielzeug am Boden. Reinhild und Conlin hatten Hannes und die kleine Ida mitgebracht, und nachdem er sich das noch nicht allzu lang vermählte Paar näher angesehen hatte, ging er stark davon aus, dass es nicht allzu lange dauern würde, bis sein Enkel einen Bruder oder eine Schwester erhalten würde. Was ihn aber noch mehr freute, war der Umstand, dass sogar Notker und seine frisch angetraute Braut entgegen seiner Befürchtung durchaus voneinander angetan zu sein schienen.
Ja, ganz sicher würde seine Familie in absehbarer Zeit weiter- wachsen. Ein wenig Sorge bereitet hatten ihm die beiden Turteltauben Frieder und Marie. Marie war erst vor wenigen Tagen von ihren Eltern aus Wied herübergebracht worden, um nun für etwa ein Jahr bei ihnen zu leben und sich auf ihr Dasein als Frieders Gemahlin vorzubereiten. Johann hatte in seinem Leben bereits die eine oder andere Erfahrung sammeln dürfen, die ihn nun veranlasste, auf diese beiden ein ganz besonders scharfes Auge zu halten. Glücklicherweise würde Frieder in einigen Wochen nach Wied gehen, um sich von Wulfhart in den Anbau von Wein einweisen zu lassen. Das würde Johann die Sorge um Jungfer Marie ein wenig nehmen. Wenn sie nämlich nicht achtgaben, würden diese beiden ganz sicher auf unschickliche Ideen kommen. Weiteres Aufsehen wollte er jedoch in Koblenz mit seiner Familie nicht erregen. Das vergangene halbe Jahr hatte in dieser Hinsicht eindeutig genügend Überraschungen für ihn bereitgehalten; an weiteren war er nicht interessiert.
»Ein Kind hat Herr Benedikt also«, brummelte er an Elisabeth gewandt, nachdem er sich auf seinen Platz am Tisch gesetzt hatte.
Auch Elisabeth ließ sich wieder auf ihrem Stuhl nieder. »Ein Enkelkind.«
»Verzeihung, Herrin.« Die scheue blonde Magd, die Luzia ihnen kürzlich überlassen hatte, damit Marie eine Gesellschafterin und Leibmagd bekam, steckte den Kopf zur Tür herein. »Soll ich ein wenig aufräumen?«
»Nicht jetzt.« Ungehalten wedelte Johann mit der Hand.
»Das kannst du auch später noch erledigen«, fügte Elisabeth in deutlich milderem Ton hinzu. »Im Augenblick wollen wir nicht gestört werden.«
»Sehr wohl, Herrin.« Die Magd verschwand wieder.
»Ein Enkelkind«, nahm Johann den Faden wieder auf. Um seine Mundwinkel zuckte es. »Das muss ihm erst einmal ein Mann nachtun.«
Auch Elisabeth schmunzelte. »Es war nicht ganz das, was ich erwartet hatte, als Palmiro uns erzählte, dass Herr Benedikt aus persönlichen Gründen die Stadt verlassen musste, das gebe ich zu. Du meine Güte, er war erst dreizehn Jahre alt, als er mit dieser edlen Jungfer ein Kind gezeugt hat. Unerhört.«
»Unerhört finde ich vielmehr, dass du tatsächlich glaubst, was die beiden dir als Grund für Benedikts Verschwinden aufgetischt haben.« Streng musterte Johann seine Gemahlin.
Bedächtig nahm Elisabeth eines der Brotkörbchen und drehte es in den Händen hin und her. »Du meinst, weil Palmiro nach Herrn Benedikts Fortgehen so tief betroffen war, es jedoch niemanden merken lassen wollte?«
»Der Bengel hat gelitten wie ein Hund.«
Elisabeth neigte leicht den Kopf. »Und nun glänzen seine Augen wieder wie funkelnde Sterne am Nachthimmel.« Sie stellte das Körbchen zurück auf den Tisch. »Die beiden mögen sich nicht im Mindesten ähnlich sein und einander bedauerlicherweise ständig in den Haaren liegen, doch als Herr Benedikt fort war, wusste ich sofort, dass Palmiro einen Seelenfreund verloren hatte – und dass er auf gar keinen Fall davon ausgegangen ist, dieser würde noch einmal zurückkehren.«
Johann schürzte die Lippen. »Und dennoch lässt du ihnen diese unsägliche Geschichte durchgehen, die weder Hand noch Fuß hat?«
»Du doch auch.«
Empört runzelte Johann die Stirn. »Ich habe mein Verhalten lediglich an dem deinen ausgerichtet.«
Elisabeth lächelte. »Dann sind wir uns offenbar einig, dass es uns nicht das Geringste angeht, was zwischen den beiden im Herbst vorgefallen ist. Selbst zwischen den engsten, liebenden Freunden kann es auf die eine oder andere Weise zum Zerwürfnis kommen. In diesem Fall tat es mir besonders leid, weil Palmiro erst kürzlich den Tod eines weiteren engen Freundes zu beklagen hatte. Gottes Wege sind nicht nur unergründlich, sondern manchmal auch äußerst schmerzhaft für diejenigen, die sie beschreiten. Ich bin nur froh, dass die beiden sich ganz offensichtlich wieder vertragen haben.«
Johann stieß ein amüsiertes Schnauben aus. »Das klingt aus deinem Mund, als ob zwei Kinder sich nach einem albernen Zank wieder versöhnt hätten. Hier hat doch ganz offensichtlich etwas weit Schwerwiegenderes dahintergesteckt.«
»Mag sein«, stimmte Elisabeth zu. »Doch hat nicht fast jedes Zerwürfnis in seinem Kern etwas von einem albernen Zank? Zumindest im Rückblick, wenn die Wogen sich geglättet haben? In den meisten Fällen wissen die Beteiligten nach einer gewissen Weile gar nicht mehr, weshalb sie sich gestritten haben.«
Nachdenklich nickte Johann und kam nun auf das Thema zu sprechen, das ihn weit mehr beschäftigte. »Du traust Benedikt vom Heidenstein also voll und ganz.«
Elisabeth suchte seinen Blick. »Palmiro traut ihm, und ich traue seinem Urteil. Du weißt, dass er in die Herzen und Seelen der Menschen blicken kann. Bisher hat er sich noch nie in einem Menschen getäuscht.«
»Und dennoch hat er monatelang, ohne es zu wissen, einen Spion der Inquisition bei sich beherbergt.« Johann ballte für einen Moment die Hände zu Fäusten. »Teufel auch, wenn ich gewusst hätte, wer Benedikt in Wahrheit ist, hätte ich ihm auf der Stelle den Garaus gemacht.«
»Hättest du das wirklich?«
»Zweifelst du etwa daran?« Aufgebracht starrte Johann seine Gemahlin an. »Die Inquisition! Damit ist nun wirklich nicht zu spaßen.« Für einen kurzen Moment schloss er die Augen, dann blickte er Elisabeth besorgt an. »Dieses vermaledeite Kruzifix! Was hat es uns nicht schon alles beschert. Wo soll das noch enden?«
Elisabeth seufzte. »So wie ich es sehe, hat es uns bislang stets beschützt und vor Unbill bewahrt. Warum sollte es jetzt plötzlich damit aufhören? Ich glaube, es gibt einen guten Grund, warum es zu uns zurückgekehrt ist. Es gehört zu uns. Wir haben ihm bisher stets vertraut, darin dürfen wir jetzt nicht nachlassen.«
»Nun gut, meinetwegen.« Missfällig verzog Johann die Miene. »Aber was tun wir, wenn dieser Inquisitor …«
»Ehemalige Inquisitor«, korrigierte Elisabeth bedächtig.
»Wie auch immer.« Johann verschränkte die Arme vor der Brust. »Was tun wir, wenn dieser Erasmus tatsächlich hier auftaucht und versucht, einen Prozess gegen Palmiro und Conlin anzuzetteln? Du weißt selbst, wie schnell man heutzutage in Verruf geraten kann. Wir können uns weder solch einen Skandal leisten noch riskieren, dass ein Mitglied unserer Familie der Ketzerei bezichtigt wird. Ist dir bewusst, was das bedeuten würde?«
»Ich will es mir gar nicht vorstellen«, gab Elisabeth seufzend zu. »Aber Johann, wir haben in unserem Leben schon so vieles bewältigt, also werden wir auch hierfür eine Lösung finden. Abgesehen davon sind Conlin und Palmiro ja nicht schutzlos. Conlin ist von Adel und darüber hinaus Amtmann des Schultheißen! Du bist der Bürgermeister der Stadt Koblenz und hast in dieser Eigenschaft eine Menge Einfluss. Sollte dieser Erasmus tatsächlich versuchen, einen der beiden oder gar beide in Misskredit zu bringen, wird er damit nicht weit kommen.«
»Dennoch …« Johann erhob sich und ging unruhig in der Stube auf und ab. »Wie konnte ich nur darauf verfallen, einen Spion der Inquisition als Wachhauptmann anzuheuern? Wie konnte ich mich nur derart in ihm täuschen?«
Elisabeth faltete die Hände auf dem Tisch. »Wie gesagt, ich vertraue auf Palmiros Urteil. Wenn er sich nicht in Benedikt getäuscht hat, dann du auch nicht. Er ist ein guter Mann, das will ich einfach glauben. Es war mithin äußerst mutig, uns dies alles zu gestehen. Wenn er tatsächlich etwas im Schilde führen würde, hätte er sich doch nicht zu erkennen gegeben.«
»Es sei denn, er verfolgt einen wirklich perfiden Plan«, knurrte Johann.
»Glaubst du das wirklich?« Energisch schüttelte Elisabeth den Kopf. »Nein, Johann. Ich habe ihn heute ganz genau beobachtet – und nicht nur heute, sondern auch schon zu früheren Gelegenheiten ist mir aufgefallen, wie er Palmiro ansieht und wie die beiden miteinander umgehen. Auch wenn sie sich beileibe längst nicht immer einig sind, kann man doch die tiefe, liebende Freundschaft, die zwischen ihnen entstanden ist, genau erkennen. So etwas kann man nicht vorspielen, Johann. Palmiro ist ein Mensch, der andere Menschen anzieht, weil er stets das Gute in ihnen zu erkennen vermag. Auch in Benedikt vom Heidenstein hat er etwas Gutes erkannt, vielleicht etwas, dass diesem Mann selbst gar nicht bewusst war. Doch nun hat es sich offenbar Bahn gebrochen, deshalb bin ich willens, ihm ebenso zu vertrauen, wie Palmiro es tut.« Sie lächelte leicht. »Ich nehme an, das ordentliche Donnerwetter, das du auf die beiden und insbesondere auf Herrn Benedikt hast herabregnen lassen, hat ihm dennoch nicht geschadet. Im Gegenteil! Eure Auseinandersetzung und die Art und Weise, in der er sich verteidigt und dabei stets vor Palmiro gestellt hat, reicht in meinen Augen bereits aus, um ihm mein Vertrauen zu sichern.«
Johann seufzte abgrundtief. »Mir war vom ersten Moment an klar, als Anton uns Palmiro ins Haus brachte, dass uns der Bengel eine Menge Sorgen bereiten wird.«
»Und dennoch – oder vielleicht gerade deswegen? – liebst du ihn wie dein eigen Fleisch und Blut, oder etwa nicht?«
»Verflucht, ja. Aber verdient hat er es nicht.« Johann rang die Hände. »Was hältst du von seinem Ansinnen, das Mädchen in seinen Haushalt aufzunehmen, damit es in Herrn Benedikts Nähe aufwachsen kann, und später, wenn sie etwas älter ist, bei Anton und Enneleyn standes- und zweckmäßig ausbilden zu lassen?«
Elisabeth griff erneut nach dem Brotkörbchen und spielte damit herum. »Was soll ich schon davon halten? Du hast diesem Ansinnen doch bereits zugestimmt.«
»Weil ich Palmiro und Conlin recht geben muss. Wenn Benedikt sich das Geld, das dieser Ardo von ihm verlangt, von einem Juden leiht, wird er seines Lebens nicht mehr froh. Stellen wir ihm das Geld zur Verfügung, erhalten wir dafür wenigstens einen treuen, zuverlässigen und vor allen Dingen fähigen Wachhauptmann. Wenn Palmiros Geschäft in dem Maße wächst wie offenbar seine Ambitionen, haben wir einen solchen Mann bitter nötig.«
»Es ist ihm schwergefallen, unsere Hilfe anzunehmen«, warf Elisabeth ein. »Herr Benedikt ist ein stolzer Mann; ich glaube kaum, dass er sich darauf eingelassen hätte, wenn Palmiro ihn nicht gedrängt hätte.«
»Warum sonst ist er wohl hierher zurückgekommen?«, gab Johann zu bedenken. »War das nicht bereits ein Hilferuf?«
»Womöglich war es das.« Elisabeth sammelte zwei weitere Brotkörbchen vom Tisch ein und stellte sie ineinander. »Doch so weit, sich das Ausmaß seiner Hilfsbedürftigkeit einzugestehen, war er ganz sicher noch nicht. Von meiner Warte aus betrachtet ist er einfach dorthin zurückgekehrt, wo er sich wohl und sicher gefühlt hat. Dass das bei seiner Familie nicht der Fall gewesen ist, scheint mir mehr als offensichtlich zu sein. Niemand läuft als Junge von zu Hause fort und findet als Erwachsener in der Fremde genau das, was er ursprünglich vermisst hat.«
»Sicherheit.«
»Liebe.« Elisabeth lächelte verhalten. »Und ein Zuhause.«
***
Liebe und ein Zuhause waren zwei Dinge, die Erasmus von London schon so lange in seinem Leben vermisste, dass er mittlerweile vergessen zu haben glaubte, dass beides überhaupt existierte. Die einzige Ausnahme war selbstverständlich seine uneingeschränkte Liebe zu Gott, dem allmächtigen Vater. Doch selbst sie kam ihm gelegentlich schal und öd vor, wenn er wie am heutigen Tage einsam und allein vor dem Altar einer Kirche kniete und mechanisch die Gebete und Psalmen herunterleierte, die man ihm schon im zarten Alter von sieben Jahren eingetrichtert hatte. Die lateinischen Worte kamen ihm über die Lippen, ohne dass er weiter darüber nachdenken musste. Im Gegenteil, sie hatten sich so sehr eingeprägt, dass seine Gedanken abschweifen konnten, ohne dass es den Wortlaut beeinträchtigte.
Selbstverständlich war dies eine herbe Missachtung der heiligen Worte, die zum Lobpreis des allmächtigen Vaters im Himmel gedacht waren und als solche mit Inbrunst und ungeteilter Aufmerksamkeit hätten vorgebracht werden müssen. Doch Erasmus’ Gedanken kreisten beständig um seinen Plan, die Ketzer zu fassen, zu überführen und bei der Gelegenheit den wertvollen, wundersamen Gralsschatz zu entdecken.
Seltsamerweise schlug sein Herz in letzter Zeit nicht einmal mehr höher, wenn er sich jene Entdeckung und den Triumph vorzustellen versuchte. Je weiter er sich von Rom entfernte und seinem Heimatland näherte, desto schwerer fiel es ihm, überhaupt noch einen Schritt vor den anderen zu setzen. An manchen Tagen wollte er am liebsten gar nicht aufstehen, sondern sich die muffige Wolldecke, die er im Gepäck trug, über die Ohren ziehen, um nichts mehr zu hören oder zu sehen.
Auch das war selbstverständlich ein Unding! Schwermut war ein verachtenswerter Zustand, den man tunlichst überwand, um sich nicht gegen sich selbst und den Herrn zu versündigen. Als er noch jünger gewesen war, gerade in Rom angekommen, hatte er oft glühende Predigten über die Sündhaftigkeit der Schwermütigen gehalten und sogar ein Pamphlet darüber verfasst, wie man Betroffene durch Askese und strenge Bußübungen von diesem unsäglichen Gemütszustand abbringen konnte und musste.
Askese und Buße hatte er in den letzten Wochen und Monaten hinreichend geübt, und er war willens, dies auch weiterhin zu tun, um seinen Geist und seine Seele von allem Übel zu reinigen. Gegen den Zorn über die Ungerechtigkeit, die ihm in Rom widerfahren war, half dies allerdings wenig. Man hatte ihn seiner Berufung und seines Lebensinhalts beraubt, indem man ihn aus dem Amt als Inquisitor der Heiligen Römischen Inquisition entfernt hatte. Was war er nun noch? Ein elender Wurm, der demütig und ohne vorzeigbare Erfolge an den Ort zurückkehren musste, den er einst so hoffnungsvoll und tatendurstig verlassen hatte. Er hatte es in der geistlichen Welt zu etwas bringen wollen, doch obgleich er nicht gänzlich ohne Erfolg geblieben war, würde man sich doch nur an sein Versagen erinnern und ihn an seinem Misserfolg messen. Deshalb blieb ihm gar nichts anderes übrig, als diesen Misserfolg durch einen letzten wahren Triumph zu tilgen.
Er bekreuzigte und erhob sich schwerfällig, die Schmerzen in seinen Kniegelenken tapfer ignorierend, als er den Klang von Stiefelsohlen auf dem Steinfußboden hinter sich vernahm. Bruder Rafael, einer seiner beiden wehrhaften Begleiter, tauchte neben ihm auf. »Bruder Erasmus, es wird Zeit. Bruder Elmo hat das Kloster der Dominikaner gefunden. Es befindet sich ganz im Westen der Stadt beim Ochsenturm und der Koixpforte«, sprach er ihn auf Latein an. »Der Vater Abt, Bruder Stephanus, gewährt uns freundlicherweise für einige Tage Obdach, bis das Wetter sich wieder bessert und das Hochwasser an Rhein und Mosel zurückgeht, sodass der Schiffsverkehr wieder möglich wird.«
Erasmus nickte nur schweigend. Ein paar Tage hatte er also hier in Koblenz. Er konnte nur hoffen, dass sie ausreichen würden, um seine Pläne in die Tat umzusetzen.
***
Mit geübten Griffen zurrte Benedikt höchstselbst Bündel und Satteltaschen des berittenen Boten fest, während der Fuchswallach ein wenig hin und her tänzelte. Dann reichte er dem Mann die Umhängetasche mit den Dokumenten, die an Ardo überstellt werden sollten. »Gib gut darauf acht, Rudger. Lass diese Tasche nicht aus den Augen, bis du sie Ardo de Léraux übergeben hast. Richte ihm aus, dass er Marie-Jeanne innerhalb der kommenden sechs Wochen nach Koblenz zu entsenden hat. Anderenfalls wird er vertragsbrüchig, denn dies ist die Absprache, die wir getroffen haben, auch wenn er vermutlich nicht geglaubt hat, dass ich seine Forderungen so rasch erfüllen können werde.«
»Ihr könnt Euch auf mich verlassen, Herr Benedikt.« Rudger, ein kräftiger grauhaariger Mann um die fünfzig, schwang sich behände auf sein Pferd und nahm die Zügel auf. »Ich stehe schon seit vielen, vielen Jahren in Graf Johanns Diensten und weiß, wie man mit solchen Männern umgehen muss. Sollte Herr Ardo sich zieren, habe ich von Graf Johann die Order, ihm ordentlich die Hölle heißzumachen.« Er bekreuzigte sich grinsend. »Macht Euch also keine Sorgen, Ihr könnt mir vertrauen. Ich werde höchstpersönlich dafür sorgen, dass das Kind hierhergebracht wird, und den Geleitschutz übernehmen. Auch darauf hat Graf Johann bestanden.«
»Danke.« Benedikt nickte Rudger noch einmal knapp zu und trat zwei Schritte zurück, damit dieser Platz hatte, um durch das Tor zu reiten. Rudger hob noch einmal zum Abschied die Hand und trieb das Pferd zu einem flotten Trab an.
Neben Benedikt tauchte Palmiro auf und blickte ebenfalls in die Richtung, in die Rudger verschwunden war. »Er ist ein guter Mann. Ich kenne ihn schon, seit Don Antonio mich damals hierhergebracht hat. Er wird alles so ausführen, wie es ihm aufgetragen wurde, und Marie-Jeanne, wenn es nötig sein sollte, mit seinem Leben verteidigen.«
Benedikt nickte nur schweigend. Widerstreitende Gefühle kämpften in ihm um die Oberhand, und keines davon löste Wohlbehagen in ihm aus.
Palmiro drehte den Kopf leicht und blickte ihn forschend von der Seite an. »Du wärst lieber selbst geritten.«
Sarkastisch verzog Benedikt die Lippen. »Ich stünde viel lieber nicht bis zum Hals und für eine verdammte Ewigkeit in eurer Schuld.« Er wandte sich ab, um hinüber zum Lagerhaus zu gehen, doch Palmiro hielt ihn auf, indem er ihm eine Hand auf den Arm legte und sich ihm in den Weg stellte. »Du hast das Richtige getan.«
Die Berührung verstärkte eines der in ihm tobenden Gefühle so sehr, dass er sich gezwungen sah, Palmiro den Arm mit einem Ruck zu entreißen. »Das macht meine Lage nicht besser. Wie würdest du dich fühlen, wenn du wüsstest, dass du dir selbst auf Lebenszeit Fesseln angelegt hast? Ganz gleich, wie ich es drehe oder wende, ich bin gefangen, Palmiro.« Er legte den Kopf in den Nacken und blickte zum wolkenverhangenen Himmel hinauf. »Das Schlimmste ist, dass ich es jederzeit wieder tun würde … für Marie-Jeanne.«
Ohne auf seine Gegenwehr zu achten, legte Palmiro ihm erneut eine Hand auf den Arm. »So wie ich das sehe, ist es mitnichten das Schlimmste, sondern das Beste, Großherzigste, was man von einem Menschen erwarten kann. Sieh es nicht als Gefängnis an, Benedikt. Wir legen dir keine Fesseln an; du hast hier so viele Möglichkeiten …«
»Nein, Palmiro, meine Möglichkeiten sind äußerst begrenzt, denn du weißt so gut wie ich, dass ich die Schuld gegenüber dir, deinem Vater und Graf Johann in diesem Leben nicht mehr werde begleichen können, ganz gleich wie treu ich euch diene.«
Palmiro senkte betroffen den Kopf. »Es lag nicht in meiner Absicht, dir den Eindruck zu vermitteln, wir hätten dich aus niederen oder hinterhältigen Gründen geködert. Du musst wissen«, er drückte Benedikts Arm und hob den Blick wieder, »dass ich das niemals tun würde. Ich habe dich einmal freigegeben, und ich würde es immer wieder tun. Wenn du jetzt oder irgendwann später glaubst, gehen zu müssen, dann tu, was dein Herz dir befiehlt.« Ein schiefes Grinsen huschte über seine Lippen, machte aber gleich wieder seiner ernsten Miene Platz. »Mit Graf Johann werde ich schon fertig.«
»Ich werde nicht gehen.« Mit einer schroffen Bewegung fuhr Benedikt sich übers Kinn. »Verdammt noch mal!« Voll unbegreiflichen Zorns, der unvermittelt in ihm aufstieg, starrte er Palmiro an. »Du begreifst es nicht, oder? Ich kann nicht gehen. Ich habe mein Wort gegeben, und selbst wenn es nicht so wäre oder wenn Graf Johann mir jegliche Schuld erlassen würde – ich bin und bleibe ein Gefangener.« Erneut löste er sich jäh aus Palmiros Griff und ging um ihn herum mit ausholenden Schritten auf das Lagerhaus zu.
»Benedikt!«
Er blieb stehen, wandte sich jedoch nicht um.
»Ich weiß, wie es ist, sich gefangen zu fühlen.« Palmiros Stimme klang sanft und so traurig, dass es ihm geradezu körperliche Schmerzen verursachte. »Du weißt, warum und dass auch ich nichts an meiner Situation ändern kann. Ich weiß nicht einmal mehr, ob ich sie ändern wollte, wenn es zur Folge hätte, dass dadurch einige … Dinge, einige Ereignisse … ungeschehen gemacht würden. Was das angeht, sind wir beide Gefangene. Nur vielleicht mit dem Unterschied, dass ich mir niemanden vorstellen kann, mit dem ich die Zelle lieber teilen würde als mit dir, alter Mann .« Den letzten Teil hatte er mit einem herausfordernden, regelrecht heiteren Unterton gesagt und erreichte damit – leider – genau das, was er wohl bezweckt hatte.
Sehr langsam drehte Benedikt sich zu ihm um. »Wie hast du mich gerade genannt?« Er trat einen Schritt auf Palmiro zu und fügte grimmig hinzu: »Grünschnabel? «
»Du hast mich offenbar sehr gut verstanden.« Beiläufig legte Palmiro seine Hand auf den Griff seines Kurzschwerts. In seinen Augen funkelte es herausfordernd. »Und wenn du noch so grimmig dreinschaust, ich bleibe dabei. Denn nur ein alter, träger, behäbiger Greis«, nun grinste er breit, »bejammert sein Schicksal, anstatt sich aufzuraffen und das Beste daraus zu machen.«
Benedikt schürzte die Lippen. »Greis?« Auch seine Hand wanderte an den Schwertgriff.
»Alt, träge und behäbig hast du vergessen. Aber vielleicht hast du ja tatsächlich kein Leben mehr in dir – keinen Kampfgeist.« Provokant tippte Palmiro mehrmals abwechselnd mit den Fingerspitzen an den Griff seiner Waffe, bevor er ihn erneut umfasste.
Verflucht, wie schaffte es dieser Kerl nur, ihn mit wenigen Worten so sehr zu ärgern, dass er einen geradezu dankbaren Zorn verspürte? »Nur zu, beleidige mich weiter«, knurrte Benedikt. »Du wirst schon sehen, was du davon hast.«
»Leere Drohungen, nichts als leere Drohungen.« Palmiro zog sein Schwert, trat auf ihn zu und berührte ihn mit der Spitze spielerisch am Wams.
»Das war keine Drohung, sondern eine Feststellung.« Gelassen blickte Benedikt auf die Schwertklinge hinab, mit der Palmiro nach wie vor aufreizend an seiner Brust entlangfuhr. »Mit einem Kerlchen wie dir, das nicht einmal trocken hinter den Ohren ist, werde ich selbst noch einarmig und im Schlaf fertig.« Flink zog er selbst sein Schwert, gleich darauf trafen die Klingen klirrend aufeinander.
Palmiro schien in Benedikts Abwesenheit geübt zu haben, denn er parierte dessen Angriff deutlich behänder als noch beim letzten Mal, als sie miteinander gekämpft hatten. Und er ging schneller zum Angriff über, als Benedikt es erwartet hatte. Kenntnisreich trieb er Benedikt einmal quer über den Hof, sodass dieser zunächst nichts anderes tun konnte, als zu parieren und zu kontern. Wieder und wieder trafen die Schwertklingen hart aufeinander, und wie schon einmal versammelte sich das Gesinde im Hof, um ihnen zuzusehen. Doch obgleich sie einander nichts schenkten und durchaus verbissen ihre jeweilige Position verteidigten, war diesmal etwas anders. Diesmal wusste Benedikt ganz genau, worauf dieser Ausbruch von aufgestautem Zorn gründete und wohin er führen konnte. Er wusste, er könnte es beenden, indem er einfach aufgab; das einzig Vernünftige tat und sich zurückzog. Doch er tat es nicht, im Gegenteil! Er drehte den Spieß um, griff seinerseits erneut an, trieb Palmiro ebenfalls einmal quer über den Hof, bis er ihn mit dem Rücken gegen die Stallwand gedrängt und ihm den Fluchtweg mit seinem Körper verstellt hatte. Mit geübtem Griff – Himmel, ja, er war dem Grünschnabel immer noch haushoch überlegen! – entwaffnete er Palmiro und warf dessen Schwert achtlos hinter sich. »Gib auf«, forderte er heiser.
»Im Leben nicht.« Obgleich seine Situation ausweglos war, setzte Palmiro sich weiterhin vehement zur Wehr. In seinem dunklen Blick, diesen beinahe schwarzen Augen, las Benedikt jenen ungebrochenen Kampfgeist, den Palmiro auch von ihm verlangt hatte. Mut und noch etwas, das ihn zutiefst erschrecken müsste. Doch inzwischen wusste er längst, in welcher Hölle er sich befand und dass es daraus kein Entrinnen gab. Er war ein Gefangener. Nein, nicht er. Sein Herz war es.
»Na also«, vernahm er überraschend Mintas Stimme dicht neben sich. Sie trug gerade zusammen mit Nilda einen großen Weidenkorb voller Wäsche an ihnen vorüber und nickte ihm amüsiert zu. »Nun ist ja alles wieder beim Alten.«