27. Kapitel

W as ist denn hier los? Was ist geschehen?« Mathys’ erstaunte Stimme ließ Benedikt zusammenzucken.

»Nichts.« Benedikt ärgerte sich, denn diese Antwort war natürlich die unglaubwürdigste, die er hätte geben können. Sehr vorsichtig schob er Palmiro ein klein wenig von sich und blickte ihm prüfend ins Gesicht. »Besser?«

»Was ist mit ihm?« Besorgt trat Mathys näher.

»Ist schon wieder gut.« Palmiro drückte noch einmal Benedikts Oberarme, dann löste er sich von ihm. »So etwas ist mir schon eine ganze Weile nicht mehr widerfahren. Nicht seit …«

»Ulf Jager.« Benedikt nickte sorgenvoll. »Du hattest wieder so eine Vision, nicht wahr?«

»Eine Vision?« Verblüfft blickte Mathys zwischen den beiden hin und her. Dann runzelte er die Stirn. »Das Kruzifix?«

Palmiro zog es unter seinem Wams hervor. Es sirrte fast unmerklich, und um seine Ränder meinte er einen bläulichen Schimmer wahrzunehmen. »Ich weiß es nicht. Es ist möglich, dass es meine Gabe verstärkt hat.«

»Deine Gabe?« Mathys rieb sich über die Stirn. »Hast du etwa noch mehr von der Sorte?«

»Ganz offensichtlich.« Benedikt verzog sarkastisch die Lippen. »Was hast du gesehen, Palmiro?«

»Den Tod.« Palmiro schluckte hart. »Wir müssen sofort zum Gut Langenreth. Dort ist etwas Furchtbares geschehen. Oswald … Er … Ich weiß es nicht genau, aber ich glaube, er ist ertrunken.«

»Was?« Entgeistert packte Mathys ihn am Arm.

»Verflucht noch eins!« Benedikt wurde ganz übel bei dem Gedanken. »Ein Unfall?«

Palmiro blickte an ihm vorbei ins Leere. »Nein, ich glaube nicht. Es war so dunkel um ihn herum, um seine Seele. Ich konnte ihr Licht kaum noch spüren. Dann plötzlich wurde alles rot. Nicht wie Blut, sondern wie ein roter Nebel. Ich weiß es nicht genau. Dann hast du mich …« Er brach ab und blickte Benedikt nun direkt an. »Wir müssen los. Sofort.«

Benedikt nickte. »Ich gebe im Haus Bescheid. Mathys, hol die Sättel. Palmiro und ich brechen umgehend auf.«

Mathys nickte, schüttelte dann aber energisch den Kopf. »Ich komme mit euch.«

»Das ist nicht nötig«, wehrte Benedikt ab. »Das schaffen wir auch alleine. Außerdem muss hier jemand nach dem Rechten sehen.«

»Dann schließen wir Tür und Tor«, widersprach Mathys mit ungewohntem Nachdruck. »Ich reite mit euch. Die Familie vom Langenreth«, er fasste sich an die Stirn, »das ist nun auch meine Familie.« Ohne weiter auf Benedikt oder Palmiro zu achten, betrat er die Sattelkammer und kam gleich darauf mit Sattel und Zaumzeug von Benedikts Rappen wieder heraus.

Palmiro warf Benedikt einen eindringlichen Blick zu. »Beeil dich. Sag Eggebrecht, er soll überall abschließen. Bis du wieder hier bist, haben wir alle Pferde gesattelt.«

***

»Hilfe! Zu Hilfe, helft uns!« Genericus rannte, so schnell er konnte, durch das weit offen stehende Tor von Gut Langenreth. »Wilbert, Martel, wo steckt ihr? Heide! Alsbald! Kommt schnell her. Holt den Grafen, holt Conlin!« Wild sah er sich im verlassen daliegenden Hof um und atmete auf, als die beiden Knechte Martel und Wilbert aus dem Pferdestall gerannt kamen.

»Bruder Genericus, was ist geschehen?« Auch Heide tauchte in der Hintertür auf. Sie trug eine große Leinenschürze über ihrem braunen Kleid, und ihre Hände und Arme waren bis zu den Ellenbogen mit Mehl bedeckt. »Gab es ein Unglück?« Sie verschluckte sich fast und schlug die Hände vor den Mund, als sie die beiden geharnischten Geistlichen erblickte, die einen Esel am Strick führten, hinter dem ein kleiner Karren gespannt war. Auf dem Karren saß Erasmus neben Oswald, der jedoch in einen Berg Decken gehüllt war, sodass man ihn nicht erkennen konnte. »Heilige Muttergottes!« Die Magd bekreuzigte sich entsetzt. »Wen bringt Ihr uns denn da? Einen Toten?«

»Nein, Heide, gottlob ist er nicht tot«, beeilte Genericus sich zu erklären. »Such Graf Conlin oder Frau Reinhild! Oswald ist …« Er schluckte hart. »Oswald wäre beinahe ertrunken.«

»Oh Gott, oh Gott, oh Gott!« Die sonst eher behäbige Heide wirbelte um ihre eigene Achse und rannte zurück ins Haus. Ihr Rufen nach dem Herrn des Hauses und seiner Gemahlin war bis nach draußen zu hören.

Inzwischen hatten sich noch weitere Knechte und Mägde im Hof versammelt und scharten sich um den Eselskarren. Erasmus kletterte herunter und sah sich aufmerksam um. »Ihr müsst ihn sofort zu Bett bringen«, sagte er auf Latein zu Genericus. »Er muss warm gehalten werden und wenn möglich etwas trinken. Heißer Clairet wird am besten sein, möglichst mit vielen Kräutern, das belebt.«

Genericus nickte zustimmend und wandte sich Richtung Wohnhaus, aus dem in diesem Moment bereits Conlin, Reinhild und Amalia gestürzt kamen.

»Oswald, Herr Oswald!« Amalia war als Erste bei dem Karren und zerrte mit entgeisterter Miene die Decken fort. »Oswald …« Sie hob den Kopf und suchte Genericus’ Blick. »Was ist mit ihm geschehen?«

»Beim Herrn Jesus Christus und all seinen Aposteln.« Inzwischen hatte auch Conlin den Karren erreicht und beugte sich über seinen Bruder, der zwar nicht bewusstlos war, jedoch apathisch dalag und kein Wort herausbrachte. »Er ist ja nackt!« Ungläubig wandte er sich zu Genericus um. »Warum ist er nackt?«

»Wir mussten ihm seine Kleider ausziehen.« Genericus zupfte an den Hosen herum, die die beiden jungen Dominikaner ihm gegeben hatten. »Sie sind vollkommen durchnässt.« Da nun auch Reinhild dazugekommen war, holte er tief Luft. »Oswald wäre beinahe ertrunken.«

»Ertrunken?« Verständnislos starrte Conlin ihn an.

Amalia stieß einen entsetzten Schrei aus. »Ertrunken? Ist er … Hat er …?«

Genericus neigte unangenehm berührt den Kopf. »Er wollte sich in die Mosel stürzen, etwa eine halbe Stunde westlich der Weißerpforte.«

Amalia schlug die Hände vors Gesicht und keuchte. Rasch trat Genericus neben sie und zog sie an sich, ohne darauf zu achten, welches Bild das wohl abgeben mochte. Sie schlang die Arme um seinen Hals und begann zu weinen.

»Himmel Herrgott noch mal.« Conlin fasste sich an den Kopf. »Bist du sicher, dass er sich ersäufen wollte? Vielleicht war es auch nur ein …«

»Es war kein Unfall.« Genericus schüttelte den Kopf. »Ich habe alles genau gesehen. Ich …« Er zögerte kurz, doch für Schuldgefühle war jetzt kein Platz. »Ich bin ihm gefolgt, heute früh. Herr Oswald wollte zu Fuß und in seiner besten Kleidung das Gut verlassen.«

»Zu Fuß?« Conlin runzelte die Stirn.

»Oswald geht nicht zu Fuß.« Amalia hob den Kopf. Ihre Augen waren gerötet. »Niemals. Das hält er für unter seiner Würde.«

Genericus nickte zustimmend. »Deshalb kam es mir so seltsam vor. Als ich ihn darauf ansprach, hat er mich sehr brüsk zurück ins Haus geschickt.«

»Also seid Ihr ihm heimlich gefolgt.« Auch Reinhild war nun an den Karren getreten und legte Oswald eine Hand an die Wange. »Ihr habt ihm das Leben gerettet?«

Genericus trat einen Schritt beiseite und deutete auf die drei fremden Mönche. »Allein hätte ich es nicht geschafft. Glücklicherweise kam Bruder Erasmus zufällig vorbei und hat mir geholfen.« Er nickte dem Mönch zu, der daraufhin ein wenig vortrat. »Ohne ihn wären wir beide wahrscheinlich jetzt nicht mehr am Leben.«

»Dem Himmel sei Dank!« Reinhild wandte sich Erasmus zu und ergriff dessen Hände. »Wie sollen wir Euch das je danken?«

»Erasmus?« Conlin legte Reinhild eine Hand schwer auf die Schulter. Misstrauisch musterte er den Dominikaner. »Etwa Erasmus von London?«

Der Mönch runzelte die Stirn. Zwar war er der deutschen Sprache nicht mächtig, doch seinen Namen hatte er offenbar sehr wohl verstanden. Er wandte sich an Genericus und sprach ihn erneut auf Latein an: »Sagt der Frau, dass ein Dank nicht vonnöten ist. Der Dank des Herrn ist mir genug, denn er weiß, dass ich diesen Mann daran gehindert habe, eine Todsünde zu begehen.«

Genericus übersetzte für Reinhild, woraufhin diese jedoch heftig den Kopf schüttelte. »Ihr habt Oswald das Leben gerettet«, redete sie auf Erasmus ein, ohne darauf zu achten, dass Conlin sie immer noch an der Schulter gefasst hielt und sich mehrmals vernehmlich räusperte. »Ihm und auch Euch, Bruder Genericus, das werden wir Euch ganz sicher niemals vergessen.«

Rasch übersetzte Genericus ihre Worte für Erasmus, woraufhin dieser zwar leicht den Kopf schüttelte, jedoch nicht widersprach.

Conlin ließ Reinhild los und fasste Genericus am Handgelenk. Energisch zog er ihn ein Stück beiseite. »Ist das wirklich dieser Erasmus von London?«, raunte er ihm zu, sodass nur Genericus es verstand. »Das kann doch wohl nicht wahr sein, oder?«

Genericus hob ratlos die Schultern. »Er war zufällig in der Nähe, wie ich schon sagte«, raunte er zurück. »Offenbar befand er sich auf einem Spaziergang. Ohne ihn wäre Oswald jetzt nicht mehr – und ich wahrscheinlich ebenfalls nicht.« Unwillkürlich wanderte sein Blick zu Amalia, die hinüber zum Haus geeilt war, da soeben auch ihre Schwiegermutter Christine aus dem Obergeschoss herabgekommen war und nun mit großen Schritten auf den Eselskarren zueilte. Im gleichen Moment kam Heide ebenfalls aus der Hintertür gerannt. »Wir machen Wasser heiß«, rief sie. »In der Schlafkammer haben wir jede Menge Decken hingelegt. Bringt ihn hinauf, Ihr guten Männer.« Sie deutete auf die beiden geharnischten Geistlichen, die zwar ebenfalls kein Wort verstanden haben dürften, jedoch begriffen, was die Magd von ihnen verlangte. Sie hoben Oswald von dem Karren herunter und wollten ihn gerade hinüber zum Haus schleppen, als vom Tor her Hufgetrappel laut wurde. Drei Reiter sprengten in den Hof, sodass kleine Steinchen unter den Hufen der Pferde aufgewirbelt wurden.

»Oswald!« Palmiro war behände von seinem Reittier herabgesprungen und rannte auf die beiden Geistlichen zu, zwischen denen Oswald wie ein nasser Sack hing. »Lebt er? Gottlob!« Er bekreuzigte sich. »Er lebt noch.« Jäh wandte er sich zu den beiden anderen Reitern um, die inzwischen auch von ihren Pferden abgestiegen waren. »Er lebt noch, Benedikt. Er lebt!« Seine Stimme klang dermaßen erleichtert, dass Genericus unwillkürlich auf ihn zutrat und seinen Arm fasste. »Don Palmiro, was tut Ihr hier? Woher wusstet Ihr, dass Oswald … dass er …« Verlegen brach er ab.

Palmiro war dicht vor Oswald getreten, der sich kaum auf den Beinen halten konnte und von den beiden Mönchen weiterhin schwer gestützt wurde. Vorsichtig berührte er Oswalds Brust, dann seine Wange. Mit der anderen Hand hielt er das silberne Kruzifix umfasst. »Ihr lebt.« Seine Stimme klang brüchig. »Ich dachte schon, ich hätte Euren Tod gesehen. Eure Seele …« Er ließ seine Hand an Oswalds Wange ruhen. »Sie ist von so viel Dunkelheit umgeben. Ich wünschte, ich könnte die Schatten vertreiben.«

»Nun bringt ihn erst einmal hinauf in seine Schlafkammer«, befahl Conlin und schob Palmiro ein wenig beiseite, damit die beiden Geistlichen seiner Aufforderung nachkommen konnten. Reinhild übernahm die Führung und zeigte ihnen, wohin sie Oswald bringen sollten. Conlin und Palmiro folgten ebenso wie Christine und Amalia. Oswalds Mutter schluchzte unterdrückt und stützte sich ihrerseits schwer auf Amalia. Kurz ballte Genericus die Hände zu Fäusten. Gerne hätte er der Frau, die er liebte, beigestanden, doch er musste sich zusammenreißen, um nicht zu viel von dem preiszugeben, was er für sie empfand – und sie für ihn. Immer wieder warf sie ihm über die Schulter kurze Blicke zu, die er so warm und liebevoll wie nur möglich erwiderte.

»Wilbert, Martel.« Er winkte die beiden Knechte heran, die mit entsetzten Mienen dem Schauspiel zugesehen hatten. »Kümmert euch um den Wagen und den Esel.« Da auch Erasmus sich der Familie angeschlossen hatte, eilte er nun ebenfalls hinter ihnen her ins Haus.

***

Die pure Neugier trieb Erasmus dazu, der Familie ins Haus zu folgen. Dabei rieb er sich verstört über die Ohren, denn er bildete sich ein, schon wieder dieses merkwürdige Sirren zu vernehmen, das ihn auf seinem Weg das Moselufer entlang schon einmal heimgesucht hatte. Welch merkwürdige Fügung des Schicksals, so überlegte er bei sich, dass der Mann, der sich beinahe der Todsünde des Selbstmordes schuldig gemacht hätte, ausgerechnet der Bruder eines jener beiden mutmaßlichen Ketzer war, die er schon so lange verfolgte – oder vielmehr verfolgen ließ. War dies womöglich tatsächlich ein Wink des Himmels? Doch falls ja – was genau wollte der himmlische Vater ihm mitteilen? Zwar gab es in der theologischen Lehre der Heiligen Mutter Kirche kaum etwas Schlimmeres als einen Menschen, der sich selbst das Leben nahm, und Erasmus konnte sich zu Recht damit rühmen, genau dies im letzten Moment verhindert zu haben, doch Stolz auf diese Tat empfand er nicht.

Er hatte nicht einen Augenblick nachgedacht oder gezögert, als er bemerkt hatte, was der Mann vorhatte. Wahrscheinlich hatte er nicht nur Oswald, sondern auch diesen Bruder Genericus vor dem sicheren Tod bewahrt, denn alleine hätte der Oswald nicht aus dem Wasser ziehen können. Müsste ihn das nicht eigentlich mit Stolz erfüllen? Oder gar mit Glück? Er empfand nichts dergleichen, er empfand gar nichts. Oder vielleicht doch?

Da war dieser winzige Funken in ihm, das Aufflackern eines Gedankens: War er selbst möglicherweise ebenfalls nicht allzu weit von der Versuchung entfernt gewesen, seinem Leben in den Fluten ein Ende zu setzen? Die schwermütigen Gedanken, die ihn zuletzt immer häufiger heimgesucht hatten, waren kaum zu ertragen gewesen. Er hatte sich dagegen gewehrt, wissend, dass Schwermut ebenfalls eine große Sünde war. Von klein auf hatte man ihm beigebracht, dass die Melancholie ein Zustand war, der vom Teufel oder seinen Dämonen herbeigeführt wurde. Und war es nicht wirklich so? Dieser Oswald schien ebenfalls von Schwermut befallen zu sein, so sehr sogar, dass er seinem Leben ein Ende hatte setzen wollen.

Seine beiden jungen Begleiter hatten Oswald inzwischen in eine Kammer im ersten Obergeschoss getragen und auf die rechte Seite eines großen Ehebettes gelegt. Die kräftige Magd, die mit dem Namen Heide angesprochen wurde, half Oswalds Gemahlin dabei, den Mann in mehrere Schichten warme Decken einzuhüllen. Die Mutter des Delinquenten, denn ein solcher war er nun einmal als Selbstmörder, auch wenn ihm sein Vorhaben missglückt war, setzte sich auf die Bettkante und ergriff Oswalds Hand. Ihre Lippen bewegten sich unaufhörlich, offenbar im tonlosen Gebet. Bruder Genericus war neben sie getreten und hatte ihr fürsorglich eine Hand auf die Schulter gelegt.

Nachdem Oswalds Gemahlin sich versichert hatte, dass er es so warm wie nur möglich hatte, eilte sie zu Erasmus’ Verblüffung an Genericus’ Seite und warf sich ihm erneut weinend an den Hals. Der Priester legte ihr geradezu zärtlich einen Arm um die Schultern und zog sie fest zu sich heran. Waren die beiden miteinander verwandt? Bruder und Schwester womöglich? Nein. Erasmus hielt viel auf seinen scharfen Blick und Verstand. Wenn er nicht genau wüsste, dass diese Amalia Oswalds angetrautes Weib und Genericus ein Priester war, hätte er vermutet, dass diese beiden ein Paar waren. Noch dazu eines, das außergewöhnlich eng miteinander verbunden war.

Womöglich war dieser Vorfall tatsächlich ein Wink des Himmels gewesen, denn nicht nur Conlin vom Langenreth und dieser Don Palmiro waren nun hier anwesend, sondern auch sein abtrünniger Spion Mathys le Smithy sowie Benedikt vom Heidenstein, von dem er noch nicht recht wusste, ob er ebenfalls abtrünnig war oder einfach nur einen besonders ausgeklügelten Plan verfolgte. Denn auch er benahm sich überaus liebevoll, wie es Erasmus schien, jedoch nicht einer der schutzbedürftigen Frauen gegenüber. Vielmehr hielt er sich beständig an der Seite jenes Palmiro auf, und auch ohne dass er ein Wort sagen musste, war jedem, der die beiden sah, sofort klar, dass Palmiro unter Benedikts Schutz stand.

Unter seinem Schutz und … Erasmus beschloss, dass er in Ruhe darüber nachdenken musste, was er in dieser kurzen Zeit alles beobachtet hatte. Er fühlte sich unter diesen Menschen wie der Fremde, der er natürlich war. Nicht nur verstand er ihre Sprache nicht, auch wenn vieles sich ihm aus Mimik und Gesten erschloss. Dies hier war eine eng miteinander verbundene Gemeinschaft. Doch war es auch eine Gemeinschaft von Ketzern? Er vermochte es nicht mit Sicherheit zu sagen, obgleich er sich all die Monate zuvor so sicher gewesen war. Alles, was er sah, war eine entsetzte, fürsorgliche Familie, die sich trotz der verdammenswerten Sünde, die Oswald zu begehen versucht hatte, liebevoll um ihn kümmerte und dabei ganz offensichtlich nicht einen Gedanken an Erasmus verschwendete, obgleich er sich einigermaßen sicher war, dass die meisten der Anwesenden genau wussten, wer er war und weshalb er hergekommen war.

»Mathys le Smithy.« Zum ersten Mal vielleicht in seinem Leben nicht sicher, wie er sich verhalten sollte, wandte Erasmus sich an seinen ehemaligen Spion, der daraufhin erschrocken zu ihm herumfuhr. »Täusche ich mich, oder müsstest du dich nicht längst im Kloster in Braintree aufhalten?« Anstatt auf Latein sprach er ihn auf Englisch an, was die Umstehenden selbstverständlich sofort veranlasste, ihre Aufmerksamkeit ihnen zuzuwenden.

Mathys wurde blass und wollte zu einer Antwort ansetzen, doch bevor er auch nur einen Ton herausbrachte, tauchte Benedikt neben ihm auf und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Er hat seine Pläne geändert«, sagte er ebenfalls auf Englisch. »Lord Mathys Smithingham«, er betonte den Namen mit Nachdruck, »hat sich aus Gewissensgründen von seinem Auftrag als Spion der Heiligen Römischen Inquisition distanziert. Dies hat er Euch in seinem letzten Brief mitgeteilt und auch, dass Eure Verdächtigungen gegenüber Don Palmiro und Conlin vom Langenreth ungerechtfertigt sind. Dieser Brief hat Euch ganz offensichtlich erreicht, bevor Ihr in Rom in Ungnade gefallen seid, denn andernfalls wüsstet Ihr nichts von der kleinen Notlüge, derer er sich bedient hat.«

»Notlüge.« Mathys keuchte unterdrückt.

»Notlüge«, bestätigte Benedikt und warf erst Mathys, dann Erasmus einen ehernen Blick zu. »Er fürchtete sich davor, Euch gegenüber zuzugeben, dass er der Liebe zu einem Weib wegen aus Euren Diensten ausscheiden wollte.«

Ein weiteres Keuchen ausstoßend, wich Mathys einen halben Schritt zurück, doch Benedikt hinderte ihn mit festem Griff daran, die Flucht zu ergreifen. »Mittlerweile ist er mit der wohledlen Jungfer Mariana von Manten verlobt und wird binnen vier Wochen gemeinsam mit ihr vor die Kirchenpforte treten. Damit ist er der rechtmäßige Schwiegersohn des Grafen Johann von Manten, der wiederum ein einflussreicher Mann in Koblenz ist und weit über die Stadtgrenzen hinaus. Vielleicht habt Ihr bereits von ihm gehört. Er ist derzeit auch der Bürgermeister dieser Stadt.«

Erasmus ließ seinen Blick zwischen Mathys und Benedikt hin- und herwandern. Seine Augen verengten sich ein wenig, als nun Don Palmiro an Mathys’ andere Seite trat und ihm ebenfalls eine Hand auf die Schulter legte. Er sagte kein Wort, doch Erasmus hatte das eigenartige Gefühl, dass unter den eindringlichen Blicken dieses Mannes seine Seele bloßgelegt wurde. Ein unangenehmer Schauder ergriff ihn, als er plötzlich selbst die grausame Kälte spürte, die seiner Seele und seinem verhärteten Herz innewohnte. Rasch richtete er seinen Blick wieder auf Mathys. »Heiraten willst du also.« Kurz ließ er seinen Blick durch den Raum wandern. »Eine Frau von Adel.«

»Eine Frau, die seinem Rang entspricht.« Wieder war es Benedikt, der an Mathys’ Stelle antwortete.

Erasmus’ Augenmerk richtete sich auf Benedikt vom Heidenstein. »Und was ist mit Euch? Wissen diese Menschen hier, wer Ihr seid?«

Benedikt wich seinem bohrenden Blick nicht aus. »Sie wissen es.« Er sah zu Palmiro hinüber, und ein merkwürdig zärtlicher Ausdruck huschte über seine Miene, schwand jedoch so rasch, dass Erasmus sich nicht sicher war, ob er sich nicht doch getäuscht hatte. »Tatsächlich weiß ich selbst zum ersten Mal in meinem Leben, wer ich bin. Und das habe ich diesen guten Menschen zu verdanken.«

Seine Worte stachen wie Messer in Erasmus’ Eingeweide. »Ihr also auch.«

Benedikt nickte fast unmerklich. »Ihr habt Euch in etwas verrannt, Bruder Erasmus. Diese Menschen mögen vielleicht gewöhnliche Sünder und mit allzu menschlichen Fehlern behaftet sein, doch Euer Verdacht gegen sie konnte sich nicht erhärten; in dieser Hinsicht schließe ich mich der Einschätzung meines guten Freundes, Lord Mathys Smithingham, an.«

Erasmus verzog die Lippen. »So ist das also.« Er hatte das Gefühl, als schnüre sich ihm die Kehle zu. Die Einsicht traf ihn hart: Ob sie nun Ketzer waren oder nicht – gegen die Übermacht dieser ganz offensichtlich eng miteinander verbundenen Menschen würde er nichts ausrichten können; gegen den Einfluss, den sie vermutlich bis hinauf in höchste Stellen besaßen, mit Sicherheit ebenfalls nicht. Ganz gleich, was er auch versuchen mochte, es würde erfolglos bleiben. Diese Menschen hatten als die Familie, die er vor sich sah, alle Macht auf ihrer Seite – und den Mut der Liebe. Noch nie war Erasmus ihm mit solcher Deutlichkeit begegnet. Würde er auch nur einen dieser Menschen anzugreifen versuchen, dann würde er es mit ihnen allen zu tun bekommen, das sah er ihren ehernen Mienen an.

»Verdammt noch mal«, klang es dumpf unter dem Berg Decken hervor. »Werft den vermaledeiten Pfaffen endlich aus dem Haus!« Die Decken gerieten in Bewegung, als Oswald sich aufrichtete und sich mit erstaunlicher Energie zu erheben versuchte. »Genericus, sieh zu, dass du ihn loswirst! Seine Visage gefällt mir nicht.«

Erasmus wich erschrocken zurück, als der eben noch vollkommen lethargische Mann plötzlich auf seinen beiden Beinen stand und nackt, wie er war, auf ihn zukam.

»Ich weiß nicht, was ihr mit ihm zu schaffen habt und warum ihr euch in dieser unverständlichen Zunge mit ihm herumstreitet. Ich will ihn in diesem Haus nicht mehr sehen, verstanden? Werft ihn hinaus, sonst tue ich es.«

»Oswald!« Amalia rang erschrocken nach Atem und klammerte sich noch fester an Genericus’ Arm. Dieser flüsterte ihr etwas ins Ohr, schob sie sanft beiseite und trat neben Oswald, bevor dieser sich tatsächlich an Erasmus vergreifen konnte.

»Haltet ein, Herr Oswald! Dieser Dominikanerbruder will Euch nichts Böses. Er will niemandem hier etwas Böses. Er hat Euch und mir das Leben gerettet.«

»Ich weiß.« Oswalds eisig-spöttischer Blick traf Erasmus. »Das hat er ganz wunderbar hinbekommen. Ihr alle beide.« Nun traf auch Genericus ein strafender, wenn auch nicht ganz so zorniger Blick. »Hättest du mich nicht einfach meinen Plan ausführen lassen können? Dann wärt ihr jetzt wenigstens eine verdammte Bürde los. Irgendwer hätte mich schon gefunden und an dem Wappen auf meinem Wams erkannt. Ein bedauerlicher Unfall.« Er warf nun Amalia und Genericus einen langen Blick zu. »Das hätte vieles einfacher gemacht. Aber nein, du dämliches Vieh musstest mir ja nachschleichen! Warum hast du mich nicht einfach der Mosel überlassen? Es hätte so vieles einfacher gemacht«, wiederholte er dumpf. »Jetzt ist es damit natürlich nichts mehr. Noch mal brauche ich das wohl nicht zu versuchen. Also müsst ihr mich nun bis zu meinem unseligen natürlichen Ende ertragen, wann immer das auch sein mag. Dämliches Vieh«, wiederholte er noch einmal grimmig an Genericus gerichtet. »Es wäre so viel einfacher gewesen.«

***

Genericus schauderte, denn plötzlich war er sich nicht mehr sicher, ob Oswald nicht über sein Verhältnis mit Amalia Bescheid wusste. Er bemühte sich jedoch um eine gleichmütige, ernsthafte Miene. »Herr Oswald, Ihr seid mein Vetter! Meine Familie. Niemals würde ich tatenlos zusehen, wie Ihr Euer Leben auf diese scheußliche Art und Weise wegwerft und damit Eure Seele der Verdammnis überantwortet.«

»Pah, mein jämmerliches Leben. Und meine Seele! Was bin ich denn noch? Ein nutzloser Tölpel, ein Tropf, der seiner Sinne nicht mehr Herr ist.«

»Ihr seid ein Christenmensch«, widersprach Genericus mit Bestimmtheit. »Ein Teil dieser Familie. Das werdet Ihr immer sein.«

»Glaubt ihm«, ergriff überraschend Don Palmiro das Wort. »Euer Vetter sagt nichts als die Wahrheit. Ich habe die Dunkelheit gesehen, die Eure Seele umgibt. Lasst sie nicht überhandnehmen. Zehrt von der Liebe und Verbundenheit Eurer Familie, Herr Oswald. Sie wird Euch durch die dunklen Stunden tragen. Ich kann sie sehen, die Liebe, ebenso wie das wärmende Seelenlicht eines jeden hier in diesem Raum.« Sein Blick richtete sich überraschend auf Erasmus. »Sogar das Eure, Erasmus von London.«

***

Erasmus hatte zwar nicht ein Wort dessen verstanden, was Don Palmiro gesagt hatte, doch der eindringliche, intensive Blick aus den beinahe schwarzen Augen dieses Mannes bohrte sich erneut tief in seine Seele, legte die Kälte dort frei und einen tief verborgenen Schmerz, der wie unter vielen, vielen Schichten Eis verborgen war. Er spürte, wie alles Blut aus seinem Gesicht wich. Was geschah mit ihm? Was tat dieser Mann? Er sah ihn nur an, und doch …

Erasmus’ Blick fiel auf das silberne Kruzifix, das Don Palmiro unter seinem Wams hervorgezogen hatte. Er trug es an einer mit roten und blauen Edelsteinen besetzten Kette um den Hals, und es war in einem ebenfalls mit roten und blauen Steinen besetzten ovalen Rahmen befestigt. Seine Kehle verengte sich, er bekam kaum noch Luft. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er es an. Es leuchtete deutlich erkennbar in einem rötlich goldenen Licht, und jetzt konnte er auch genau hören, woher dieses eigentümliche Summen und Sirren stammte, das ihn schon den ganzen Tag verfolgte. Es ging von dem Kruzifix aus! Eine wertvolle Reliquie, ganz ohne Zweifel. Erasmus hatte sie noch niemals in seinem Leben gesehen, doch tief in seinem Herzen wusste er, dass es sich um einen Teil des heiligen Gralsschatzes handelte. Es musste einfach so sein, eine andere Erklärung gab es nicht. Er konnte die heiligmäßige Kraft, die von dem Kreuz ausging, bis tief ins Mark spüren, ebenso wie ihre Verbindung zur allumfassenden Liebe und Macht Gottes.

Atemlos trat er auf Don Palmiro zu, streckte die Hand aus und griff nach der Reliquie. Ein heißes, geradezu unwirkliches Brennen durchfuhr ihn, als seine Hand sich um das warme, pulsierende und vibrierende Silberkreuz schloss. Ihn schwindelte, und ein seltsamer Nebel hüllte ihn ein. Plötzlich sah er drei Männer vor sich stehen inmitten eines Zeltlagers. Haare und Bärte waren von feinem Flugsand bedeckt. Die Sonne brannte unbarmherzig auf die Wüstenlandschaft nieder.

Einer der drei Männer, ein schwarzhaariger Ritter, ergriff das Wort: »Wir hatten den Sarazenen nicht viel entgegenzusetzen, doch einige wenige Schätze konnten wir ihnen dennoch entreißen. So wie diesen hier.« Er öffnete den Beutel und entnahm ihm ein handspannenlanges silbernes Kruzifix, das in einen ovalen, mit kleinen roten und blauen Edelsteinen besetzten Rahmen eingefasst war und an der Oberseite eine Öse besaß, durch die eine Kette aus fein gearbeiteten und ebenfalls mit Edelsteinen besetzten Gliedern gezogen war. »Dies muss eine bedeutende Reliquie sein«, sagte er und hielt das Kreuz bewundernd und voller Ehrfurcht ins Licht. »Spürt ihr die Kraft, die davon ausgeht? Und sie fühlt sich warm an, als sei sie lebendig.«

Einer der beiden anderen Männer, der ungewöhnlich dunkelrotes Haar besaß, berührte die Kette und nickte, und auch der Dritte, offenbar ein Waffenknecht, legte vorsichtig seine Hand auf das Kreuz. Im gleichen Moment zuckte ein greller Blitz auf, und die Männer fuhren erschrocken auseinander.

»Habt ihr das gesehen?«, rief der Rothaarige begeistert. Der schwarzhaarige Ritter nahm das Kruzifix vorsichtig in die andere Hand. »Es ist ganz heiß geworden. Das ist der Beweis! Dies ist eine göttliche Reliquie! Ganz sicher ist sie von unermesslichem Wert.«

»Aber was wollt Ihr damit machen, Herr Eginolf? Wollt Ihr sie verkaufen?« Der Waffenknecht blickte argwöhnisch auf das Kruzifix.

»Aber nein, ein Kleinod wie dieses darf man nicht einfach verkaufen«, widersprach jener Eginolf. »Wir teilen es. Seht ihr, das Kreuz lässt sich aus dem Rahmen herauslösen. Ein jeder von uns nimmt ein Stück als Glücksbringer und Unterpfand für seinen zukünftigen Wohlstand. Wir werden einander versprechen, keines der drei Teile jemals zu verkaufen. Sie sollen uns schützen, denn das ist doch der Sinn einer Reliquie. Und ihr habt gespürt, dass das Kreuz diese Kraft besitzt, nicht wahr?«

Die beiden anderen Männer nickten.

Eginolf reichte dem Waffenknecht das Kruzifix, zog die Kette aus der Öse und reichte sie dem Rothaarigen. Dann schob er den ovalen Rahmen zurück in seinen Beutel.

»Dieser Kreuzzug hat viele unnötige Opfer gefordert«, sagte er mit feierlicher Stimme. »Ob Ritter, einfache Soldaten oder Knechte – diese Zeiten haben Mauern eingerissen und Grenzen verwischt. Sie haben Männer zusammengeführt und Freundschaften wachsen lassen, die es daheim nie gegeben hätte. Doch genau in diese Heimat kehren wir – wenigstens zwei von uns – mit Gottes Hilfe nun bald wieder zurück. Lasst uns deshalb geloben, dass wir, unsere Familien und unsere Nachkommen einander immer wohlgesinnt und in Freundschaft verbunden sein werden, ganz gleich, wie unser Schicksal spielt oder«, er blickte auf den Rothaarigen, »wo es uns hinführen wird.«

Die drei Männer sahen einander lange an, dann nickten sie und legten die Hände zum Schwur aufeinander.

Erasmus schwankte und rang nach Atem. Der Nebel verdichtete sich noch weiter um ihn, dann stand plötzlich ein hochgewachsener Tempelritter vor ihm und sprach ihn an. Nein, nicht ihn, sondern einen anderen Templer, der sich ebenfalls im Raum befand und so etwas wie sein Vorgesetzter zu sein schien.

»Es ist fort.«

»Was ist fort?« Der Großkomtur blickte ihn verwundert an. Erasmus hatte keine Ahnung, weshalb er um die Stellung des Mannes wusste und auch, dass der Name des Tempelritters Robert de Berge war. Diese Vision war gar sonderbar, doch sie fesselte ihn wie nichts, was er je zuvor gesehen oder erlebt hatte.

Robert klopfte sich den Staub von seiner Kutte. »Unsere Söldner haben die Sarazenen, die in die Schatzkammer eingedrungen sind, tapfer bekämpft und niedergeschlagen. Einer der heidnischen Kämpfer konnte aber mit dem Kreuz des Zachäus entkommen. Wir haben ihn verfolgt, konnten ihn jedoch nicht gefangen nehmen. Auf dem Weg von Damaskus hierher kam es zu mehreren kleinen Scharmützeln. Wir waren nicht genug Männer, um eingreifen zu können, aber ich habe gesehen, dass ein deutscher Ritter den Sarazenen tötete und das Kreuz an sich nahm.«

»Warum habt ihr es ihm nicht abgenommen?«

Robert seufzte. »Wir haben ihn im Gewühl aus den Augen verloren. Es hat Tage gedauert, bis ich ihn wiedergefunden hatte. Unglückseligerweise kam ich gerade rechtzeitig, um mitanzusehen, wie der Mann Kreuz, Rahmen und Kette mit zwei anderen Soldaten geteilt hat.«

»Er hat die drei Teile voneinander getrennt?« Der Großkomtur starrte Robert entsetzt an.

»Bevor ich etwas tun konnte, kam von König Konrad der Befehl zum Aufbruch.«

»Wissen diese Männer, welch mächtige Reliquie sie gestohlen haben?«

Robert schüttelte den Kopf. »Das glaube ich kaum. Nur sehr wenige kennen die Geschichte des Zachäus.«

»Die Reliquie ist also verloren.«

»Vielleicht auch nicht.« Robert folgte dem Großkomtur in dessen Wohnräume und nahm dankend den Becher mit Wein entgegen, den dieser ihm anbot. »Wir wissen immerhin, dass das Kreuz, der Rahmen und die Kette kaum Kraft haben, solange sie getrennt sind. Das wird verhindern, dass jemand darauf aufmerksam wird.«

»Die drei Teile werden aber dafür sorgen, dass diejenigen, die sie besitzen, sie wieder zusammenfügen«, gab der Großkomtur mit Besorgnis in der Stimme zu bedenken. »Dies geschieht vielleicht nicht heute oder morgen, vielleicht nicht einmal zu unseren Lebzeiten. Nur der Allmächtige weiß, was diese Männer mit ihrer Beute anstellen werden und wohin es die drei Teile verschlagen wird. Wenn sie dann eines Tages wieder zusammengefügt werden, wird ihre Kraft den Besitzer vernichten.«

»Nur, wenn er nicht im Herrn wandelt«, widersprach Robert. »Der Zöllner Zachäus hat das Kreuz als Zeichen der christlichen Nächstenliebe und als Sinnbild des Unrechts, das unserem Heiland durch den Tod am Kreuz widerfahren ist, anfertigen lassen. Er selbst ist durch Jesu Liebe zu einem Erleuchteten geworden. Das Kreuz wird das Gute in der Welt stets schützen.«

»Mir wäre es lieber, wir würden Gesandte ausschicken, die versuchen, die Reliquie zurückzuholen.«

»Mit Verlaub, Großkomtur, das würde der Suche nach der Nadel im Heuhaufen ähneln. Wir haben nicht genug Männer im Heiligen Land, die Kämpfe gegen die Sarazenen reiben uns auf. Der Großmeister Everard wird in Kürze mit König Ludwig nach Frankreich zurückkehren. Auch wenn er uns seine Männer hierlässt, reicht unsere Streitmacht doch gerade aus, um unsere Position zu halten und den Gralsschatz zu verteidigen.«

»Ich weiß, Robert, ich weiß. Aber wie sollen die Menschen jemals erfahren, was es mit dem Kreuz des Zachäus auf sich hat?«

Robert rieb sich nachdenklich das Kinn. »Vielleicht, indem wir seine Geschichte niederschreiben.«

»Niederschreiben? Die meisten Christen können nicht einmal ihren eigenen Namen lesen!«

»Großkomtur, du darfst den Glauben an die Menschen nicht einfach verlieren. Das Kreuz des Zachäus ist ein mächtiges Zeichen der Liebe. In ihm lebt die Erkenntnis von Recht und Unrecht, von Gut und Böse. Meinst du nicht, es wird auf seine ganz eigene Weise dafür sorgen, dass seine drei Bestandteile wieder vereint und von den rechten Menschen mit Ehrfurcht behandelt werden wird?«

Der Großkomtur dachte lange über Roberts Worte nach, schließlich nickte er zustimmend. »Also gut, lass die Geschichte des Kreuzes niederschreiben und sorge dafür, dass sie verbreitet wird. Aber achte darauf, dass man den Weg zum Gralsschatz nicht bis hierher zurückverfolgen kann.«

Unvermittelt lichtete sich der Nebel um Erasmus; benommen schüttelte er den Kopf und blickte auf das Kruzifix in seiner Hand. Mit Entsetzen sah er die Brandmale, die es auf seiner Haut hinterließ, und nun spürte er sie auch. Mit einem Schrei ließ er das Kreuz wieder los und taumelte rückwärts.

Das Kreuz des Zachäus! Eine der mächtigsten Reliquien, die die Menschheit je gesehen – und erschaffen – hatte. Als er noch ein Junge gewesen war, hatte der damalige Abt des Dominikanerklosters in Braintree ihm davon erzählt. Erasmus hatte es für eine spannende Heiligenlegende gehalten, so wie die vielen anderen, die jener Abt stets zum Besten gegeben hatte. Doch nun hatte er es vor Augen und sogar in den Händen gehalten, war einem Mann gegenübergetreten, der es ganz offenbar tragen konnte, ohne von ihm verbrannt zu werden. Er war kein Ketzer; das war nicht möglich, denn dann hätte das Kreuz ihn vernichtet.

Vernichtet! Es vernichtete jeden, der nicht im Herrn wandelte. Jeden. Auch ihn.

Langsam hob er die Hand, die bis zum Ellenbogen hinauf von roten, schwelenden Malen übersät war. Sie brannten und glühten wie Feuer.

Ein weiterer erstickter Schrei entrang sich seiner Kehle. »Das Kreuz des Zachäus.« Erneut ergriff ihn heftiger Schwindel, Übelkeit stieg in ihm auf. Kopflos ergriff er die Flucht.