Heute

Luke

Selbstsabotage oder destruktives Handeln sind verbreitete Verhaltensweisen bei Adoptivkindern. Sie bringen sich selbst in eine schwierige Situation und sorgen dafür, dass diese sich zuspitzt, bis das, was sie befürchten, eintritt. Man spricht auch von selbsterfüllender Prophezeiung.

Joel Harris, Wer bin ich? Das verborgene Trauma adoptierter Kinder

Von außen betrachtet läuft es so gut wie schon lange nicht mehr bei mir. Reborn haben das Angebot von Universal abgelehnt, und Steve Harris, ihr Manager, hat mir mitgeteilt, dass Spirit wieder im Rennen ist. Ich sollte froh und glücklich sein über die Aussicht, vielleicht bald mit einer der heißesten britischen Newcomer-Bands zusammenarbeiten zu können.

Dennoch bedrückt mich vom Moment des Aufwachens an eine Ahnung drohenden Unheils.

Seit dem Abend, als ich betrunken nach Hause gekommen bin, hat Alice kaum noch ein Wort mit mir gesprochen. Ich vermute, dass ich sie irgendwie beleidigt habe, kann mich aber an nichts mehr erinnern, außer dass ich nach oben ins Bett gepoltert bin, als sie mich mein Kind nicht halten lassen wollte. Sogar Hannah, mein stets halb volles Glas, meine ewige Optimistin, findet, dass sie sich distanziert verhält.

»Ist alles in Ordnung, Alice?«, hat sie neulich abends gefragt, als Alice gerade ihre Sachen zusammenpackte, um nach Hause zu gehen.

»Ja, natürlich. Wieso nicht?«

»Du bist so still in letzter Zeit.«

»Ach was, das bildest du dir ein.«

Mir fiel auf, wie Alice den Blickkontakt sowohl mit Hannah als auch mit mir vermied und hinauseilte, sobald ihre Tasche gepackt war.

Doch kaum war sie zur Tür hinaus, sagte Hannah: »Siehst du, kein Grund zur Sorge.«

Ich mache mit meiner Mittagspausen-Beschattung weiter, Sandwiches auf Parkbänken, ein bisschen Einkaufen auf der High Street. Manchmal sehe ich Alice mit Samuel, manchmal nicht. Selbst an den Tagen, an denen sie nicht auftaucht, liegt ein betörender Hauch von Acqua di Parma in der Luft, höre ich Fetzen eines Schlaflieds, das sie Samuel oft mit ihrer schönen klaren Stimme singt.

Der Mond scheint vom Himmel klar und weiß,

Wellengeplätscher singt mit uns leis.

Text und Melodie haben mein Gehirn dermaßen durchtränkt, dass ich damit einschlafe und aufwache. Einmal, als ich morgens nach unten ging, hörte ich Alice in der Küche singen. Bis ich dort war, hatte das Singen natürlich aufgehört, womit sich die Frage stellte: Fange ich jetzt schon an, Stimmen zu hören?

Hannah habe ich nichts davon erzählt. Mein Schweigen treibt jedoch allmählich einen Keil zwischen uns. Immer öfter ertappe ich sie dabei, wie sie mich mit dieser kleinen Sorgenfalte zwischen den Augenbrauen beobachtet. Es ist noch nicht lange her, dass ich mich nach ihrer Fürsorge gesehnt habe, jetzt aber will ich mich ihr entziehen. Nichts soll sich mir bei meiner Detektivarbeit in den Weg stellen, meiner täglichen Dosis Alice und Samuel, meinem direkten Draht zu meiner Vergangenheit.

Als ich abends um sechs nach Hause komme, sitzen Hannah und Alice gemeinsam am Küchentisch.

»Tee?«, fragt Hannah, auf die Kanne deutend.

»Bier«, sage ich und gehe zum Kühlschrank.

»Gut, ich muss dann mal los«, sagt Alice. »Bin schon spät dran.«

Ich mache meine Dose auf. »Wo willst du denn immer so schnell hin, Alice? Musst du jemanden besuchen?«

Mir ist selbst nicht klar, was ich damit bezwecke, aber seit Ben den Verdacht aufgeworfen hat, dass Rick eventuell doch nicht mein Vater ist, frage ich mich, ob am Ende noch jemand anders aus der Versenkung auftaucht. Inzwischen würde mich nichts mehr wundern.

Ich sehe sie forschend an. Ihre Miene ist ausdruckslos, aber ich bemerke trotzdem eine gewisse Wachsamkeit.

»Ich will in mein Atelier, Luke. Ich habe Arbeit nachzuholen.«

»Bitte bleib noch ein paar Minuten. Ich kriege dich ja kaum zu Gesicht.«

»Sicher«, sagt Alice, aber es klingt alles andere als herzlich.

Ich setze mich zu den beiden an den Tisch. Hannah gibt Samuel gerade sein Abendfläschchen, und seine Augen wandern von links nach rechts, als würde er ein Notenblatt lesen. Wieder regt sich dieser selbstquälerische Drang in mir, schlangengleich, unmöglich zu ignorieren.

»Was habt ihr denn heute so getrieben, du und Samuel, Alice?«

»Ach, das Übliche. Heute Morgen waren wir in der Bibliothek. Er ist ganz verrückt nach Büchern, ich glaube, ihr zieht da einen echten Bücherwurm groß.«

»Wart ihr im Park? Habt die Enten gefüttert?«

»Ja, woher weißt du das?«

»Du singst Samuel vor, stimmt’s?«

»Manchmal. Aber …«

»Ein Lied, das du singst, heißt ›Santa Lucia‹. Ich hab’s nachgesehen. Hast du mir das als Baby auch vorgesungen? Als ich dich es singen hörte, hat das nämlich etwas in mir ausgelöst, vielleicht so etwas wie eine gefühlsmäßige Erinnerung. Meinst du, so was ist möglich? Meinst du, ich könnte mich tatsächlich daran erinnern?«

Ich stelle zu viele Fragen. Ich bin aufgestanden und gehe hin und her. Kann nicht aufhören.

»Wann hast du mich denn gehört?«, fragt Alice ruhig.

»Heute im Park.«

»Du warst dort? Und hast uns gesehen? Warum bist du nicht gekommen und hast Hallo gesagt?«

Hannah starrt mich entgeistert an, man kann es nicht anders sagen, und auch Alice sieht irgendwie entsetzt aus. Das Seltsame aber ist, dass mich das kaltlässt. Ich bin kurz vorm Durchdrehen, und es ist mir egal – mir, der immer so ängstlich darauf bedacht ist, allen zu gefallen –, ob jemand es merkt.

»Ich hatte es eilig.«

Alice steht auf und drückt flüchtig meine Schulter. »Also, das nächste Mal komm bitte dazu. Wir würden uns freuen.«

Wir. Alice und Samuel. Alice und Charlie. Die Mutter mit dem austauschbaren Baby.

Sobald sich die Haustür hinter Alice geschlossen hat, sagt Hannah: »Verdammt, was machst du?«

Ich beuge mich über mein Bier, den Kopf in die Hände gestützt.

»Warum habe ich den Verdacht, dass du Alice in deiner Mittagspause verfolgst?«

»Weil ich genau das tue.«

»Aber warum, um Gottes willen, Luke?«

»Ich weiß es nicht. Irgendetwas an ihrem Verhalten gibt mir ein ungutes Gefühl. Merkst du das nicht auch? Wie besessen sie von Samuel ist?«

»Und deshalb spionierst du ihnen im Park hinterher? Deiner Mutter und deinem Sohn? Hör dir doch mal selbst zu.«

Ich sinke immer mehr in mich zusammen, die Arme um mich gelegt, eine Schutzhaltung.

Hannah greift über den Tisch, nimmt meine Hand.

»Schatz«, sagt sie, »diese ganze Geschichte mit Alice setzt dir sehr zu, das sehe ich. Ich wünschte, wir hätten sie nie gebeten, Samuel zu betreuen, aber er himmelt sie an. Und wir können uns hundertprozentig auf sie verlassen. Das ist doch die Hauptsache, oder?«

»Ist es das?«

»Ich glaube, wir sollten jemanden suchen, mit dem du sprechen kannst. Ich glaube, diese Situation könnte so etwas wie …« Sie stockt, wählt ihre Worte mit Bedacht. »… einen psychischen Zusammenbruch auslösen.«

»Du hörst mir nicht zu, Hannah. Alice ist dabei, uns unser Kind wegzunehmen, und du merkst es nicht einmal.«