Damals

Alice

Niemand von uns hatte mit einer Annäherung zwischen Tom und Rick gerechnet, die so verschieden sind und deren Freundschaft ein ständiger Drahtseilakt in Richtung mehr als das zu sein scheint.

»Haben sie was miteinander?«, fragt Jake mich eines Abends, nachdem wir die beiden allein im Pub zurückgelassen haben.

»Ich glaube nicht, dass Rick Liebhaber hat, nicht im Sinn von Beziehung. Zumindest keine, zu denen er sich bekennt. Vielleicht muss er sich noch daran gewöhnen, dass er offen schwul sein kann.«

Heute Abend gehen wir zu viert in Pink Floyds The Dark Side of the Moon im Earls Court, ein Konzert, von dem wir schon seit Wochen reden. Es ist so viel Wirbel um dieses Album gemacht worden, und alle, die ich kenne, haben es seit einem halben Jahr ständig auf ihren Plattentellern. Doch es live in einer Halle wie dem Earls Court Centre aufgeführt zu erleben, mit einer ganzen Truppe von Backgroundsängern und -musikern, mit Filmen und Special Effects im Hintergrund, die während »On the Run« in der Geräuschkulisse eines auf die Bühne stürzenden Flugzeugs gipfeln, haut uns alle um.

»Us and Them« ist mein Lieblingssong auf der Platte. Ich liebe den langsamen, kirchenmusikartigen Anfang, Dave Gilmours bewegende, gefühlvolle Stimme, wenn er »We’re only ordinary men« singt. Und dann der explosionsartig anschwellende Chorgesang, so dramatisch und kraftvoll, dass ich eine Gänsehaut bekomme.

Am meisten aber liebe ich es, Jake zu beobachten, der ganz still und ausdruckslos dasteht, wie in Trance. Ich möchte seine Hand nehmen und sagen: »Da kommst du auch noch hin«, aber er hat sich völlig in der Musik verloren.

Nach der letzten Zugabe, »Eclipse«, zwei Minuten lang, haben wir das Gefühl, bei etwas Monumentalem dabei gewesen zu sein. Als die Band schließlich die Bühne verlässt, gibt es zuerst einen Augenblick überwältigter Stille, ehe das Gekreische losgeht.

Danach versuchen wir, einen Pub zu finden, in dem wir noch was zu trinken bekommen, aber es hat alles zu.

»Wir können jetzt nicht einfach nach Hause«, sagt Jake. »Wir müssen den Abend irgendwie begehen. Wir brauchen ein Abenteuer.«

»Lasst uns irgendwo hinfahren«, sagt Tom.

»Ein Roadtrip?«, fragt Rick.

»Genau. Wo wollen wir hin?«

»Meine Tante hat ein Häuschen in Southwold, direkt am Meer«, schlägt Rick vor. »Sie hat gesagt, ich kann es jederzeit nutzen.«

Etwa eine Stunde später verlassen wir London in Toms zerbeultem Austin Maxi, ein Wrack in Senfgelb. Tom fährt, Rick navigiert, und Jake und ich sitzen hinten, mein Kopf ruht auf seiner Schulter, seine Hand liegt zwischen meinen Beinen. Noch bevor wir aus der Stadt heraus sind, bin ich eingeschlafen, und als ich aufwache, ist es immer noch wie im Traum. Das Auto steht neben einer Reihe pastellfarbener Strandhütten – primelgelb, minzgrün, himmelblau –, und vor uns liegt das weite, ruhige Meer, grau mit silbernen Tupfen. Der Morgen dämmert gerade, wir hätten es nicht besser abpassen können, und wir springen alle vier direkt vom Parkplatz eine kleine Böschung hinunter an den Strand. Es ist der schönste Sonnenaufgang aller Zeiten, der Horizont tiefviolett, durchflammt mit Pink und Orange, die Hintergrundbeleuchtung ein aufstrahlendes Goldgelb. Daran werde ich mich noch erinnern, wenn ich alt bin, denke ich. Es ist einer von diesen magischen, tief erlebten Momenten, der sich mir ins Gedächtnis einbrennen wird.

Das Haus liegt einen Straßenzug vom Strand zurückgesetzt, ein hellblaues Reihenhäuschen mit sonnengelber Tür, zwei Zimmer unten, zwei oben. Man ist hier so nahe am Meer, dass man überall die Brandung hören kann. Rick öffnet einen Wäscheschrank und sucht saubere Bettbezüge für uns heraus. Jacob und ich bekommen das Schlafzimmer mit dem Doppelbett, Tom das mit dem einzelnen, und Rick meint: »Macht euch keine Gedanken um mich, ich kann überall schlafen«, was heißt, dass wir keine Fragen stellen sollen.

Wir gehen für ein paar Stunden ins Bett, der Sex ist ausgedehnt und gefühlvoll. Als Jake auf mir liegt, sich mit den Händen abstützt und mich mit diesem Blick ansieht, den ich inzwischen so gut kenne, erfüllt mich eine derart heftige, leidenschaftliche Liebe zu ihm, dass es aus mir herausbricht.

»Ich liebe dich«, sage ich. Und dann noch einmal und noch einmal. Ich liebe dich. Ich liebe dich. Nachdem ich einmal angefangen habe, kann ich gar nicht mehr aufhören. Lachend liegen wir zusammen in der hellen Morgensonne und sagen einander diese drei Worte, die durch keine Sentimentalität entwertet werden.

Mit ihm zusammen erlebe ich alles doppelt so stark, und ich möchte keine einzige Sekunde davon missen.

»Ich hätte nie erwartet, mal so zu empfinden«, sage ich, als wir in den Schlaf gleiten, und Jake streichelt meine Hand.

»Beschissene Kindheit, geringe Erwartungen. Ich glaube, das macht alles noch besser, meinst du nicht?«

Ich weiß nicht viel über seine frühen Jahre, auch wenn ich versuche, die Lücken zu füllen. Ein Vater, der sich verdrückte, als Jake drei war, die Familie für billigen, magenzersetzenden Fusel verließ, an dem er mit neununddreißig allein in einer Einzimmerwohnung starb. Eine Mutter, der es zu viel war, Jake allein aufzuziehen, und die ihn bei anderen ablud, wann immer es ging, meistens bei ihren Eltern, seinen Großeltern, über die er nicht sprechen will. Nur einmal, ein einziges Mal, als wir sehr betrunken waren, sagte er: »Mein Großvater war ein widerwärtiges Exemplar von Mensch. Der Tod war noch zu gut für ihn.«

Sein Gesichtsausdruck dabei, keine Wut, sondern abgrundtiefe Niedergeschlagenheit, bestätigte meinen Verdacht, dass die Worte oder Taten dieses Mannes in einer Verbindung zu den Narben stehen, an die ich mich nachts im Dunkeln unwillkürlich herantaste. Es ist, als würde sein ganzer Schmerz hinter diesen Gewebewülsten festsitzen, und ich möchte nichts mehr, als ihn aus ihm herausziehen und wegwerfen.

Als wir am frühen Nachmittag aufwachen, ist aus Toms Zimmer nichts zu hören, von Rick nichts zu sehen.

»Lassen wir sie in Ruhe«, sagt Jake, also verbringen wir den Rest des Nachmittags allein.

Wir machen all das, was man in einem altmodischen Küstenstädtchen eben so macht. Essen Fish and Chips mit massenweise Salz und Essig auf der Promenade. Spazieren über die Seebrücke mit ihrem Spiegelkabinett und den skurrilen Spielautomaten – Krankenstein heißt einer, ein Monster hinter Gittern, in das plötzlich Leben kommt, seine Augen glühen, und es gibt ein grässliches Hohnlachen von sich – und setzen uns vorn ans Ende, lassen die Füße hoch überm Wasser baumeln, den salzigen Wind im Gesicht.

»Ich glaube, mir ist es noch nie so gut gegangen«, sagt Jake nach einer Weile, und ich weiß genau, was er meint. Wir schweben auf einer Wolke der Euphorie heute, zum Teil liegt das wohl am tollen Sex, aber vor allem auch, denke ich, am gegenseitigen Liebesgeständnis, das uns auf eine andere Stufe gehoben hat.

Er legt seinen Arm um mich und zieht mich an sich, die See unter uns eine graue, aufgeworfene Masse.

»Es ist noch zu früh, um das zu sagen, ich weiß, und du bist zu jung, aber ich möchte mein Leben mit dir verbringen. Seit ich dich kenne, wünsche ich mir auf einmal Dinge, die ich vorher nie gewollt habe. Stabilität. Kinder. Nicht jetzt, aber irgendwann. Wir könnten uns ein Haus kaufen. Geht dir das zu schnell?«

»Nein, ich möchte das alles auch«, antworte ich, wenn auch ein bisschen schüchtern.

Als wir zum Hafen hinüberschlendern, reden wir über das Haus, das wir eines Tages haben wollen, wie so viele Liebespaare überall auf der Welt, besonders wenn sie auf eine Postkartenidylle wie hier in Southwold treffen. Das Objekt unserer Begierde ist lachsrosa und hat kleine Türmchen an den Ecken wie ein Spielzeugschloss. Wir bleiben davor stehen und malen uns eine Zukunft aus, in der wir es uns leisten können.

Mir ist klar, dass wir uns gegenseitig brauchen. Ich wäre haltlos ohne meine Eltern, aber Jake fängt mich immer wieder auf und zeigt mir neue Perspektiven. Meine Mission dagegen ist es, die Dunkelheit in ihm zu vertreiben, sie durch Wärme und Licht und Liebe zu ersetzen.

Am Hafen finden wir einen Fischer, der Miesmuscheln in Kisten direkt vom Boot verkauft. Wir besorgen dunkles Brot und Butter auf der High Street und Muscadet bei einem Weinhändler, der schwört, dass es der einzig richtige Wein zu Meeresfrüchten sei.

Die Meeresluft wirkt offenbar aphrodisierend, denn als wir zurück ins Haus kommen, sind die Jungs auf, und es knistert merklich zwischen ihnen. Tom läuft mit nacktem Oberkörper und barfuß herum, nur in seinen ausgewaschenen Jeans. Es hat etwas merkwürdig Intimes, ihn so zu sehen, mit seinen gut definierten Bauchmuskeln, die von regelmäßigem Training zeugen. Beide grinsen sie über beide Backen, lächerlich glücklich.

Rick wirft seinen Arm um Tom. »Also, zwischen uns läuft was. Habt ihr euch schon gedacht, oder?«

Wir lachen alle vier dermaßen, dass es eine Weile dauert, ehe Jake keucht: »Mann, Gott sei Dank. Wir haben es nicht mehr ausgehalten vor Spannung.«

Es gibt ein kleines Transistorradio im Haus, das Jake auf Radio 1 stellt, und das unverkennbare Schlagzeug und die Gitarre von »All Tomorrow’s Parties« ertönen, ein Song von Velvet Underground, den wir so oft gehört haben, dass wir ihn in- und auswendig kennen. Jake dreht ihn voll auf, während Rick die erste Flasche Wein öffnet, ich die Muscheln in das mit Wasser gefüllte Spülbecken kippe und Tom am Küchentisch einen Joint baut.

Wir singen den Refrain mit, brüllen ihn, und als das Lied zu Ende ist, packt Jake mich und küsst mich, und Rick macht mit Tom das Gleiche, worauf wir noch mehr lachen.

Nachdem wir die Muscheln abgespült und den Bart entfernt haben, zeigt Jake mir, wie man sie zubereitet. Er dämpft sie in einem Topf mit Weißwein, bis sie sich öffnen und die ganze Küche nach heißem Alkohol riecht, fügt zum Schluss Sahne und Petersilie hinzu, und dann essen wir große Schüsseln davon, zwängen uns um den kleinen roten Resopaltisch und tunken mit Butter bestrichene Brotstücke in die Soße.

Nach dem Essen beschließen wir, zum Strand hinunterzugehen, machen dabei aber einen kleinen Umweg, um Rick und Tom das rosa Traumschloss zu zeigen, das eines Tages uns gehören wird.

»Sehen Sie die symmetrischen Ecktürmchen hier«, mimt Jake mit nasaler Stimme einen Immobilienmakler. »Das ist Rokokoarchitektur vom Feinsten. Ich denke, Sie vier werden hier sehr glücklich sein«, fügt er hinzu. »Es gibt genügend Platz für alle Ansprüche.«

Tom lacht und zieht Rick an sich, und sie küssen sich kurz. Genau in dem Moment kommt ein älteres Ehepaar vorbei, das mit seinem tiefgelegten Dackel Gassi geht.

»Ist ja ekelhaft«, sagt der Mann erbost. »Sie sollten sich schämen. Das hier ist eine anständige Stadt, Leute wie Sie wollen wir hier nicht.«

Leute wie Sie. Tom und Rick fahren auseinander, und Ricks geknickte, beschämte Miene zerreißt mir das Herz.

»Ach, wissen Sie, ich finde eher Ihr Verhalten ekelhaft«, sagt Jake mit ruhiger, aber metallisch kalter Stimme. »Ihre Vorurteile und dass Sie sich einbilden, Sie hätten das Recht, Fremde auf der Straße zu beleidigen.«

Als wir uns dann unten am Strand in den Sand legen und zu den Sternen hinaufsehen, ist die gute Laune der beiden Jungs zurück. Zu meiner Freude sehe ich, dass sie sich wieder an den Händen halten.

Jake zeigt uns die Sternbilder, denn auch Sternegucken gehörte zu seinen einsamen Kindheitsbeschäftigungen. Nicht nur die bekannten – den Großen Wagen, Orion, den Drachen –, sondern auch poetisch klingende wie Ursa Minor und Cassiopeia. Dieser Name gefällt mir besonders, er ist so romantisch, ein guter Songtitel, sage ich. Und Jake, dessen Kopf mit abseitigem Wissen vollgestopft zu sein scheint, erzählt uns, dass er von einer griechischen Göttin stammt, die ungemein eitel war.

Dann sagt er wie nebenbei: »Der Tag wird kommen, an dem ihr zwei Händchen haltend und küssend durch die Straßen gehen könnt, ohne dass sich irgendwer darüber aufregt.«

Wie immer berühren mich sein Großmut, seine Unerschrockenheit und sein Gerechtigkeitssinn. Ich weiß, warum ich ihn liebe, warum wir ihn lieben, ich, Rick, Tom, Eddie. Er ist größer als wir, größer als alle. Er ist unser Mentor. Ohne ihn wären wir verloren.