Damals

Alice

Das hier, genau das ist es, wovon ich meine ganze Teenagerzeit über geträumt habe, verkrochen in meinem Zimmer, umgeben von Skizzenblöcken und Stiften, als könnte ich mich von der Verachtung meines Vaters weg in eine freie Boheme-Welt hineinzeichnen.

Seit meiner ersten funkenschlagenden Begegnung mit Jake vor ein paar Wochen habe ich mich in die »Hauskünstlerin« der Band verwandelt, ein Titel, den ich scherzhaft von den Jungs verliehen bekam, als ich sie beim Picknick im St. James’s Park zeichnete.

Die Idee, das Plattencover für sie zu gestalten, hat sich zu dem Vorhaben ausgeweitet, die frühen Stationen einer vielversprechenden Newcomer-Band zu dokumentieren. Ich habe sie gezeichnet, wie sie auf der Bühne stehen, Pints im French House trinken, im Park Fußball spielen. Meine Lieblingsskizze ist eine von Jake, wie er in einem schwarzen Rollkragenpullover und seinen schwarzen Jeans im Schneidersitz auf dem Boden hockt, einen Becher Kaffee neben sich. Ich mag das Alltägliche daran, die indirekte Botschaft, dass ich ihn auf eine Art sehe wie niemand sonst. Er gehört mir, das denke ich jedes Mal, wenn ich diese Zeichnung betrachte.

Manchmal, besonders wenn er stoned ist, schwärmt Jake von der Zeit, in der wir leben, dieser Epoche der Neuerfindung und Selbstverwirklichung, in der alles möglich ist und man sein kann, was und wer man möchte.

»Wir sind genau zum richtigen Zeitpunkt jung, die Leute sind bereit, sich auf uns einzulassen. Wir können aus eigener Kraft Erfolg haben.«

Als er das zum ersten Mal sagte, dachte ich: Du hast gut reden, du hast es schon halb geschafft, auf der Titelseite von Sounds, zwei Singles in den Top 20. Aber ich? Ich bin ein Niemand. Nur eine kleine Kunststudentin mit brennendem Ehrgeiz und dem Bedürfnis, ihrem Vater zu imponieren. Doch sein Glaube an sich selbst ist ansteckend, und bei all den Komplimenten und dem Lob der Bandmitglieder beginne auch ich allmählich zu hoffen, dass ich es schon halb geschafft habe.

Und dann passiert etwas Unglaubliches. Es ist ein entspannter Dienstag an der Slade, keine Kurse, ich arbeite im Atelier an einem Bild von den Jungs, Eddie, Jake und Tom ganz in Schwarz auf einem lila Sofa lungernd, dieses wunderbare Nebeneinander von Maskulinem und Femininem. Mich interessieren die violetten Falten im Stoff des Bezugs, das wolkige Silbergrau, wo das Material sich abgenutzt hat, und ich probiere eine feine Tüpfeltechnik aus, um das abzubilden. Neben mir hat Rick ein Porträt von David Bowie fast fertig, gemalt nach einem Foto in einer Sonntagsbeilage, allerdings mit Rot überlasiert. Der Effekt gleicht einer rötlichen Sepiatönung, es sieht fantastisch aus.

Wir haben seit Stunden nicht geredet, keine Pause gemacht, sind völlig versunken.

Als Lawrence Croft, unser Direktor, plötzlich unangekündigt hereinkommt, in Begleitung von Robin Armstrong, dem berühmten Galeristen und Mäzen der Disciples, dauert es daher einen Moment, bis wir die beiden bemerken.

»Fleißig bei der Arbeit, schön, schön«, sagt Lawrence. »Die beiden hier immer. Workaholics, möchte ich fast sagen.«

»Darf ich mal sehen?«, fragt Robin, und obwohl wir beide innerlich davor zurückschrecken, wie ich weiß, sagt Rick: »Ja, natürlich«, und steht auf, um die Sicht auf sein Bild freizugeben.

»Ich stelle mir Bowie auch immer in Rot vor«, bemerkt Robin, nachdem er es ein bis zwei Minuten betrachtet hat. »Muss an diesem Ziggy-Stardust-Blitz liegen. Mir gefällt übrigens Ihr Selbstporträt im San Lorenzo. Ich habe Sie schon seit einer Weile im Auge.«

Es ist schwer, sich nichts anmerken zu lassen, Rick schlägt garantiert innerlich gerade Purzelbäume vor Freude, aber wir geben uns beide gelassen.

»Haben Sie vor, bei der Porträtmalerei zu bleiben? Ist zurzeit nicht gerade in Mode.«

»Das kümmert mich nicht«, antwortet Rick. »Ich interessiere mich für Menschen. Ich will diesen Moment der Echtheit einfangen, wenn man einen Blick auf das wahre Selbst erhascht. Da kann ich auch skrupellos sein. Wenn die Chemie zwischen mir und dem Modell nicht stimmt, breche ich schon mal mittendrin ab.«

Robin nickt und wechselt einen Blick mit Lawrence, ehe er sich meinem Gemälde zuwendet.

»Ich habe diese Jungs inzwischen näher kennengelernt, und Sie haben sie bemerkenswert gut getroffen. Jake hat mir erzählt, dass Sie die aktuelle Phase ihrer Karriere mit spontanen Skizzen dokumentieren?«

»Ja, zuerst habe ich nur an der Gestaltung ihres neuen Albums gearbeitet, aber das Ganze hat sich dann irgendwie verselbstständigt.«

»Nun, ich denke, man könnte etwas Interessantes daraus machen, schließlich haben die Disciples eine Platte zu promoten, was ich unterstützen möchte, so gut ich kann. Wie wär’s, wenn Sie morgen Abend mit Jake in der Galerie vorbeischauen? Bringen Sie Ihre fertigen Skizzen mit, dann unterhalten wir uns in Ruhe darüber.«

Robin Armstrongs Galerie liegt in der Duke Street, direkt neben der Galerie Bernard Jacobson, die eine Kohlezeichnung von Lucian Freud im Fenster zeigt, eine nackte Frau mit unterschiedlich großen Brüsten und karikaturartig schwarz umrandeten Augen. Freud hat in unserem ersten Semester mal eine Vorlesung gehalten, Teilnahmequote hundert Prozent bei Studierenden und Dozenten, und ein relativ belangloses Seminar über Farbe. Woran ich mich vor allem erinnere, ist das Kaffeetrinken hinterher, bei dem er in ernstem Gespräch mit einer Schar hübscher Studentinnen gesehen wurde.

Freud im Schaufenster nebenan ausgestellt zu sehen und zu wissen, dass ich gleich ein zwangloses Gespräch mit einem der renommiertesten Galeristen Londons führen soll, lässt meine Nerven flattern. Zum Glück habe ich Jake an meiner Seite, der gerade zur Hälfte von meinem einzigen fertigen Gemälde, dem Picknick der Jungs im Hyde Park, verdeckt wird. Kurz vor dem Eingang bleibt er stehen.

»Alice«, sagt er und hält das Bild tiefer, damit ich ihm ins Gesicht sehen kann, »es gibt absolut nichts zu befürchten.«

Die Galerie ist bereits geschlossen, aber ein Assistent öffnet uns und führt uns in Robins Büro, vorbei an den Werken der berühmtesten von ihm vertretenen Künstler: Gillian Ayres, Peter Sedgley. Im Gegensatz zu der kühlen Galerie mit ihren weißen Wänden wirkt das Büro wie ein Club für alte Gentlemen, zumindest, wie ich mir einen vorstelle: viel Dunkelrot und Schokoladenbraun, ein prächtiger Schreibtisch mit lederbezogener Schreibfläche, an dem Robin sitzt, und ein antik aussehendes Chesterfieldsofa für Besucher. Das Zimmer ist vollgestopft mit Kunstwerken: geschnitzte Köpfe aus Ebenholz, ein erlesener Akt in Marmor, eine gerahmte Serie von Farbkreisen, einer leuchtender und hypnotisierender als der andere. Man merkt schon beim Eintreten, dass hier ein Mann arbeitet, der sein Leben der Schönheit gewidmet hat. Er trägt einen dunkelblauen Samtanzug mit einem blassgelben Seidenhemd und steht zur Begrüßung auf, zieht Jake in eine Umarmung, küsst mich auf beide Wangen.

Dann zeigt er auf das Sofa, und schon hocken wir nebeneinander wie die Hühner auf der Stange, ich in der Mitte, und blättern durch meine Skizzenbücher.

Anfangs sagt Robin nichts, während ich die Stille mit Hintergrundgemurmel zu jeder Zeichnung fülle. Das geht am leichtesten, wenn ich über Jake rede, mein Spezialthema, dann kann ich flüssig erklären, warum ich etwas gelungen finde und was meine Absicht war.

Gemeinsam begutachten wir ein Bild von Jake, wie er mit nacktem Oberkörper im Bett sitzt, ein Notizheft auf den Knien. Er ist dabei, einen Song zu schreiben, und völlig absorbiert, immer eine der besten Gelegenheiten, ihn zu zeichnen. Ich habe das Versonnene seines Tuns eingefangen, das beinahe Traumverlorene, wobei seine Konzentration zugleich so absolut ist, als wäre er von einer undurchdringlichen Mauer umgeben.

»An dem hier mag ich, dass Jake ganz bei sich ist, in Gedanken versunken. Für den Betrachter ist es offensichtlich, dass er über einen Song nachdenkt, und man erkennt die Mühe und Anstrengung, die in das Komponieren von Musik einfließt.«

»Wissen Sie, Alice, ich glaube, Sie sind da etwas Besonderem auf der Spur.«

Robin steht auf und geht zu seinem Schreibtisch.

»Sie werden mit der Band nach Italien fahren, nehme ich an?«

»Darüber haben wir noch gar nicht gesprochen«, sagt Jake, »aber natürlich solltest du mitkommen. Wenn du magst.« Er wirft mir einen Seitenblick zu und drückt kurz mein Bein.

»Das ist gerade eine wichtige Stufe in der Entwicklung der Band«, sagt Robin. »Ich komme für alle Unkosten auf, darüber brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen.«

Zuerst bin ich sprachlos. »Ich träume schon lange davon, nach Florenz zu reisen«, sage ich dann, worauf er zum ersten Mal lächelt.

»Jeder Kunststudent sollte meiner Ansicht nach einmal in Florenz gewesen sein, es müsste als Voraussetzung für den Abschluss gelten.«

Er beugt sich über seinen Schreibtisch.

»Ihr Stil ist noch dabei, sich zu entwickeln, das sehe ich. Aber mir gefällt, wie Sie mit zeichnerischen Mitteln die Spontaneität und Unmittelbarkeit eines Schnappschusses erzeugen. Und ich überlege, ob das zu Ihrer Handschrift werden könnte, solche Szenen abseits des Scheinwerferlichts, ein Blick hinter die Kulissen, in das Privatleben einer aufstrebenden Band. Alltägliche Dinge wie Kochen, Waschen, Essen, neben dem Musikmachen.«

»Das versuche ich mehr oder weniger schon, aber ich möchte auch, dass die Bilder, vor allem die Malerei, etwas Eigenes aussagen, etwas Charakteristisches haben, statt nur eine Art fotorealistische Ähnlichkeit zu zeigen.«

»Absolut, da bin ich ganz Ihrer Meinung. Wie wär’s mit einem Glas Champagner? Mir ist gerade eine gute Idee gekommen.«

Während Robin den Champagner holt, frage ich Jake: »Was meint er wohl?«

Er zuckt die Achseln. »Keine Ahnung. Aber ich merke, dass er dich mag. Er ist sonst eher sparsam mit Lob, glaub mir, und wenn er etwas für Mist hält, dann sagt er es auch.«

Robin öffnet die Flasche fachmännisch, der Korken gleitet sanft heraus, kein Knallen, kein Sprudeln, und schenkt in drei helltürkisfarbene Gläser ein, die so dünnwandig und zerbrechlich sind, dass ich beinahe Angst habe, meines anzufassen.

»Venezianisch«, sagt er, als ich danach frage. »18. Jahrhundert.«

Er hebt sein Glas, und wir stoßen an.

»Wisst ihr, ich glaube, ihr zwei erlebt gerade einen besonderen Moment. Eure Karrieren verlaufen in dieselbe Richtung, und das zur selben Zeit. Euch verbindet nicht nur die Liebe, sondern auch die Kunst, und daraus sollten wir Kapital schlagen.«

Er legt eine Pause ein, jedoch ohne mich aus dem

Blick zu lassen.

»Alice, was hältst du davon, eine eigene Ausstellung hier in der Galerie zu bekommen? Mit Schwerpunkt auf deinen Zeichnungen und Bildern von der Band, ein halbes Jahr im Leben der Disciples. Wir könnten die Ausstellungseröffnung und die Albumveröffentlichung zusammenlegen, es vielleicht im kommenden Jahr hier in diesen Räumen machen. Was meinst du?«

Vorsichtig stelle ich mein Glas auf dem Tisch ab, meine Hände zittern und mein Herz rast.

»Was ich meine?«, sage ich und versuche, überlegt und vernünftig zu klingen, was schwer ist bei dem breiten Grinsen, das sich über mein Gesicht zieht. »Ich meine, das klingt fantastisch!«

»Sehr gut«, sagt Robin und hebt erneut sein Glas. »Dann also auf Jacob Earl und Alice Garland, deren großer Moment wirklich und wahrhaftig gekommen ist.«