Heute

Luke

Schwieriger noch gestaltet sich oft die Wiedervereinigung eines Adoptivkinds mit dem biologischen Vater. Besonders bei männlichen Adoptierten kann sich ein intensiver Bindungswunsch mit dem Bedürfnis verbinden, dem lang vermissten Rollenmodell nachzueifern. C.G. Jung hat diese Obsession treffend als »Vaterhunger« bezeichnet.

Joel Harris, Wer bin ich? Das verborgene Trauma adoptierter Kinder

Lunch im Nobu mit Rick, der mich heute Morgen nach der Farce mit den aufeinanderprallenden Müttern per SMS dort hinzitiert hat. Man lehnt ein Essen mit diesem berühmten Maler nicht ab, schon gar nicht im Nobu, immer noch eines der Spitzenrestaurants, in denen man fast nie einen Tisch bekommt, es sei denn, man ist zufällig er. Durchdrungen von einer toxischen Mischung aus Angst und Sorge treffe ich in der Park Lane ein, auch wenn er mir in seiner Nachricht versichert hat, dass ich mir keine Gedanken zu machen brauche.

Fakt ist, ich habe richtig Mist gebaut, und das spreche ich auch gleich an, nachdem man mich zwischen schwarz gekleidetem Servicepersonal hindurch, das mit riesigen Tabletts voller Sushi hin und her flitzt, zu seinem Tisch geführt hat.

»Rick, es tut mir leid. Ich habe es gestern Abend richtig vermasselt.«

»Komplizierte Situation. Nicht allein deine Schuld, mach dir keine Vorwürfe.«

Er steht auf, und wir umarmen uns ein wenig verlegen.

Rick trägt ein Hemd mit pink- und orangefarbenen Karos, ziemlich auffallend, und das in einem stadtbekannten VIP-Restaurant, dabei hielt ich ihn für einen Einsiedler. Ein Kellner bringt mir unverlangt ein Sapporo-Bier und spricht Rick auf seine Arbeit an.

»Ihre Ausstellung letztes Jahr in der National Portrait Gallery war fantastisch. Dürfte ich Sie vielleicht um ein Autogramm bitten, ehe Sie uns wieder verlassen?«

»Natürlich.«

»Ich dachte, du wirst nicht gern erkannt in der Öffentlichkeit?«, sage ich, als der Kellner wieder weg ist. »Das hat Alice jedenfalls behauptet.«

»An manchen Tagen mag ich es schon. An manchen Tagen brauche ich es.«

Er reicht mir die Speisekarte.

»Such dir aus, was du möchtest. Ich komme so oft hierher, dass ich die Karte auswendig kenne.«

Es ist eine Lehrstunde für sich, ihn dabei zu beobachten, wie er dem Kellner die Gänge diktiert. Thunfisch-Sashimi-Salat und Atlantikgarnelen-Tempura mit Ponzu-Soße als Vorspeise, danach Teriyaki mit geschwärztem Kabeljau und gegrilltem Rindfleisch, gefolgt von einer Auswahl von Sashimi und Sushi.

»Und dazu bitte eine Karaffe kalten Sake.«

Alles deutet auf eine ausgezeichnete Mahlzeit hin, und ich sollte mich einfach entspannen und darauf freuen. Stattdessen harre ich bang der Dinge, die da kommen werden. Und tatsächlich, sobald das erste Schälchen Sake eingegossen ist, sagt Rick: »Okay, Luke, ich werde einfach damit herausrücken. Ich finde, Alice sollte nicht mehr für euch arbeiten.«

»Aber sie liebt es …«, sage ich, doch er winkt ab.

»Lass mich ausreden. Zu Alice habe ich noch nichts gesagt, weil ich weiß, dass es ihr das Herz brechen wird. Es stimmt, sie ist total vernarrt in Samuel, sie liebt es, sich um ihn zu kümmern. Aber meiner Ansicht nach habt ihr das Pferd von hinten aufgezäumt. Du bist es, der Zeit mit ihr verbringen sollte, nicht dein Sohn. Und dass sie für dich arbeitet, ist eine sehr ungünstige Basis für eure Beziehung, findest du nicht? Sieht man ja daran, was gestern passiert ist. Das kann für keine Seite angenehm gewesen sein.«

»Du meinst also, wir sollten uns eine neue Tagesmutter suchen? Alice bitten, nicht mehr zu kommen?«

»Ich wollte einfach mit dir über meine Bedenken sprechen. Ich habe ein ungutes Gefühl bei der ganzen Sache. Verstehst du, es gibt vieles, was du noch nicht über Alice weißt. Sie ist labil. Nachdem sie dich verloren hatte, ging es ihr lange Zeit nicht gut. Und so etwas wie gestern, als sie sich selbst verleugnen musste, so als würdest du dich für sie schämen, könnte sich schlimm auswirken.«

»O Gott, ganz im Gegenteil, ich bin stolz auf Alice. Ich finde sie toll. Ich bin sehr glücklich, dass sie meine Mutter ist.«

Auf einmal lächelt Rick, ein breites, strahlendes Lächeln. Er vergöttert sie, so viel steht fest. Man könnte wirklich meinen, er ist in sie verliebt.

Unser Sashimi-Salat kommt, ein Berg roher Thunfischscheiben auf einem Bett aus Rucola, beträufelt mit einem frischen, leichten Dressing. »Lass uns nachher weiter darüber sprechen. Seinen Thunfisch muss man genießen. Das hier würde ich mir als Henkersmahlzeit wünschen.«

Die Garnelen-Tempura, die als Nächstes kommen, sind ebenfalls köstlich, knusprige Shrimps, getunkt in eine Soße, die ich löffelweise essen könnte. Rick schenkt uns ständig nach und bestellt neuen Sake mit einer knappen Geste beim Kellner, der immer im richtigen Moment herzuschauen scheint. (Dieser Mann ist so was von cool, meine Gefühle ihm gegenüber werden immer komplizierter. Vater oder nicht, mir geht es schon wie Ben, ich wünsche mir geradezu, er zu sein.)

Beim Essen spricht er über einige seiner aktuellen Auftragsarbeiten. Darunter ein Aktporträt eines schwangeren Filmstars. »Keine künstlich geglättete Demi Moore«, sagt er. »Sie ist sehr mutig und selbstbewusst, diese Frau. Hat mir erlaubt, sie in einen Sessel gefläzt zu zeichnen, mit gespreizten Beinen und hängenden Brüsten. Kein schmeichelhaftes Porträt im herkömmlichen Sinn, für mich aber sehr weiblich und wunderschön. Und sie ist begeistert.«

Auch ein Mitglied der königlichen Familie sitzt ihm derzeit Modell – er sagt nicht, welches –, und in diesem Fall wurde er ebenfalls gebeten, etwas Innovatives zu schaffen.

»Die Leute, die zu mir kommen, verstehen meistens was von Kunst. Sie wollen etwas von bleibendem Interesse und denken, ich kann ihnen das bieten«, sagt er ohne eine Spur von Arroganz, einfach mit dem Selbstbewusstsein, das so viele Jahre der Anerkennung mit sich bringen. »Wenn die Medien dieses Bild zu Gesicht bekommen, wird der Teufel los sein. Ich kann es kaum erwarten.«

Wir sprechen über Graham Sutherlands Porträt von Churchill, das Churchill selbst grässlich fand.

»Ein in vielerlei Hinsicht bahnbrechendes Gemälde. Diesen berühmten Mann mit Warzen und allem Drum und Dran darzustellen. Natürlich hatten das schon andere vor ihm getan, Rembrandts Naturalismus zum Beispiel wurde zu seiner Zeit als gnadenlos erachtet. Aber es war trotzdem ungewöhnlich, einen weltbekannten Staatsmann so schonungslos realistisch und ungeschönt zu porträtieren.«

Beflügelt vom Sake und dem wunderbaren Essen wird unsere Stimmung immer besser.

Ich erzähle Rick von Hannahs kürzlich stattgefundenem Treffen mit Jay Jopling, verrate ihm ein paar vertrauliche Einzelheiten, und er revanchiert sich mit Klatsch über Lucian Freud.

»Er war mal Gastdozent an der Slade damals, hat sich nur für die Mädchen interessiert, besonders für Alice. Sie war, ist es immer noch, finde ich, außergewöhnlich schön, ohne dem große Bedeutung beizumessen. Sie hatte keine Ahnung, wie gut sie aussah, und ich glaube, das machte sie für die Männer noch begehrenswerter. Ihr Schicksal betrübt mich immer noch. Sie hatte alles – und dann plötzlich nichts mehr.«

»Ich weiß gar nichts über diese Zeit. Alice will nie darüber sprechen.«

»Sie war so begabt. Die Einzige unseres Jahrgangs mit einer eigenen Ausstellung, beispiellos für eine Studentin. Sie hätte es als Künstlerin geschafft, ganz sicher.«

»Aber warum hat sie dann nicht weitergemacht? Nach mir?«

»Sie war traumatisiert. Sie war innerlich wie tot, und es hat Jahre gedauert, bis sie wieder arbeiten konnte. Das klingt jetzt vielleicht übertrieben dramatisch in deinen Ohren, aber so war es. Sie spricht mit niemandem über diese Zeit, nicht einmal mit mir. Ich glaube, sie kann es nicht, sie kann das alles nicht in Worte fassen.«

Ich bemerke, dass Rick Tränen in den Augen hat, und mir ist selbst ein wenig nach Weinen zumute.

»Aber das ist genau der Grund, weshalb Hannah und ich ihr Samuel anvertrauen wollten. Wegen der Umstände, unter denen sie mich verloren hat. Weil wir sahen, wie unglücklich sie das gemacht hat.«

»Ein Baby kann kein Ersatz für ein anderes sein. Das ist dir doch klar, oder?«

»Der Gedanke war eher, dass wir Alice in unsere Familie aufnehmen wollten. Nur dass es nicht richtig funktioniert. Ich komme mir kindisch vor, wenn ich das sage, aber ich bin eifersüchtig auf die Bindung, die sich zwischen Alice und Samuel entwickelt hat. Ich fühle mich ein bisschen ausgeschlossen.«

»Luke, genau darum geht es.«

»Ich sehe einfach nicht, wie wir sie bitten könnten, nicht mehr zu kommen und auf ihn aufzupassen. Selbst wenn wir das wollten.«

»Ja, da ist was dran. Dann versuchen wir es andersherum. Ich finde, ihr solltet euch besser kennenlernen, du und Alice. Mehr Zeit miteinander verbringen. Das fehlt im Moment. Und du weißt, dass du deiner Adoptivmutter früher oder später von Alice erzählen musst, oder?«

Doch es gibt Gründe, weshalb ich bislang nicht ehrlich zu meiner Mutter war.

Erstens bin ich ein Einzelkind, und meine Mutter ist Witwe. Ich wurde vor vielen Jahren adoptiert, um sie über ihre Unfruchtbarkeit hinwegzutrösten, eine Wunde, die auch nach fast dreißig Jahren noch schmerzt und Ursache ihrer Traurigkeit ist.

Zweitens hat meine Mutter immer wieder betont, dass ich kein Interesse daran (sprich: nicht das Recht dazu) habe, meine leiblichen Eltern zu finden.

»Gegenvorschlag«, sagt Rick, als ich ihm davon erzähle, »wie wär’s, wenn du dich zur Abwechslung mal selbst an erste Stelle setzt?«

Das ist allerdings eine radikale Idee, wenn man bedenkt, dass ich einen Beruf daraus gemacht habe, andere zufriedenzustellen.

»Ich weiß nicht, ob ich das kann.«

»Warum nicht?«

»Ich habe Angst, Unruhe zu stiften. Von klein auf habe ich versucht, es allen recht zu machen. Meine Mutter neigt zu Depressionen, was ich allerdings erst vor Kurzem begriffen habe. Als Kind dachte ich, ihre düsteren Stimmungen, diese Phasen, in denen sie sich praktisch weigerte zu sprechen, hätten mit mir zu tun. Ich dachte, ich würde ihren Erwartungen nicht entsprechen. Ich war nicht das Kind, das sie sich gewünscht hatte.«

»Du warst das einzige, das wir uns je gewünscht haben.«

Er sagt es ruhig, fast beiläufig, aber seine Wortwahl, dieses »Wir«, gibt mir einen Stich ins Herz.

»Warum habt ihr mich dann nicht behalten?«

Das ist die Frage aller Fragen, und er muss damit gerechnet haben, dass ich sie stellen würde, doch ich sehe echt empfundenen Schmerz über sein Gesicht zucken.

»Das war Alice’ Entscheidung, und sie hat sie mir zuliebe getroffen, obwohl sie das nie zugeben würde. Sie dachte, ich würde meine Karriere aufs Spiel setzen, wenn ich nicht weiterstudiere. Wir waren so jung, und wir hatten kein Geld, und sie wollte nicht, dass du in Armut aufwächst. Sie redete sich ein, dass es ein notwendiges Opfer sei, dich fortzugeben. Leider ist sie nie darüber hinweggekommen.«

Ein wenig überemotional und ermutigt vom Sake will ich alles wiedergutmachen. Ich will, dass Alice und ich die lange Zeit des Kummers, als wir uns in unseren getrennten Welten gegenseitig vermisst haben, hinter uns lassen. Also schlage ich vor, sie zu besuchen. Und Rick weiß genau, wo wir sie finden werden.

»Am Wochenende ist sie immer in ihrem Atelier. Wir rufen nicht vorher an, wir überraschen sie einfach.«

Ich bin überhaupt nicht auf dieses spontane Treffen eingestellt, merke ich, als wir eine halbe Stunde später vor Alice’ Atelier stehen, Rick getarnt hinter einem riesigen Strauß Sonnenblumen.

»Hätten wir sie nicht vielleicht doch vorwarnen sollen?«

»Keine Angst, sie wird sich freuen. Wir sind schließlich ihre Lieblingsmenschen, du und ich.«

Tatsächlich wirkt sie überglücklich, Rick zu sehen, der ein Stück vor mir steht – »Ich habe eine Überraschung für dich!« –, doch das ändert sich schlagartig, als sie merkt, dass ich die Überraschung bin.

»Luke! Ich kann dich unmöglich ins Atelier lassen.«

Sie wirkt ein bisschen älter in diesem Licht und ohne Make-up, Streifen von blauer und weißer Farbe im Haar. Aber schön wie immer in ihrem farbebeklecksten Hemd und der weiten blauen Hose, Espadrilles an den Füßen.

Leicht benommen vom Alkohol wie ich bin, versuche ich, die Situation zu begreifen. Ihre Körpersprache ist abweisend, ausgestreckte Arme, als wollte sie uns mit aller Macht daran hindern hereinzukommen. Durch das Essen mit Rick habe ich mich in Sicherheit gewogen, aber Alice ist offensichtlich immer noch aufgewühlt von dem verheerenden Zusammentreffen gestern.

»Es tut mir leid, das gestern Abend muss dich sehr getroffen haben.«

»Nein, ist schon gut, Luke, wirklich. Mach dir keine Sorgen deswegen. Es ist vielmehr – jetzt verrate ich es doch –, dass ich an einem Geschenk für Hannah und dich arbeite und es noch nicht fertig ist. Wenn du hereinkommst, ist alles verdorben.«

Erleichtert lache ich auf. »Du hast mir wirklich einen Schreck eingejagt. Ich dachte schon, du könntest es nicht ertragen, mich zu sehen. Mit gutem Grund, es war unverzeihlich von mir zu vergessen, dass meine … dass Christina kommt.«

»Sei nicht albern«, sagt sie. »Das verstehe ich doch. Es ist schwierig für uns alle. Ich bin nur etwas heikel mit meiner ›Kunst‹, das ist alles.« Sie setzt das Wort mit den Fingern ironisch in Anführungszeichen.

»Wenn das so ist«, sagt Rick, »gehen wir doch in den Pub. Luke und ich haben uns ohnehin schon halb die Kante gegeben, da können wir die Sache auch zu Ende bringen.«

Er hakt sich bei Alice unter.

»Nur wir drei«, sagt er. »Ein bisschen so wie damals.«