Heute
Luke
Lieber Luke,
wenn du schliefst, habe ich dir oft Geschichten über deinen Vater erzählt, habe sie in die Dunkelheit geflüstert, damit deine Träume von Farbe und Licht und Liebe erfüllt waren.
Natürlich hast du noch nichts davon verstanden, aber ich wollte es zumindest versuchen, dadurch die Kraft und Leidenschaftlichkeit dieses wunderbaren Menschen auf dich zu übertragen.
Ich habe ihn geliebt, und das nicht nur wie ein neunzehnjähriges Mädchen, das sich Hals über Kopf in einen Schwarm verliebt. Er war meine erste große Liebe – und meine einzige.
Er war der Mensch, der mich inspiriert und mich verstanden hat, mein Mentor und mein Retter.
Du siehst ihm sehr ähnlich. So sehr, dass ich glaubte, ihn lebendig vor mir zu haben, als wir uns das erste Mal in diesem Restaurant trafen. Manchmal ist es immer noch so. Dein Wiederauftauchen, ein an sich glückliches Ereignis, nach dem ich mich lange gesehnt hatte, brachte mich zugleich an den Rand der Verzweiflung. Manchmal weiß ich nicht, wie ich es ertragen soll, immer wieder daran erinnert zu werden, was ich verloren habe.
So muss ich dir nun also die Wahrheit über deinen Vater sagen, muss sie aufschreiben, weil ich sie niemals aussprechen könnte. Die schreckliche, hässliche Wahrheit und meine Rolle dabei. Ich werde nichts auslassen.
Dein Vater war Jacob Earl, der Leadsänger einer Rockband namens Disciples, die damals kurz vor dem großen Durchbruch stand. Ihr zweites Album war gerade herausgekommen, und nach seinem Tod stieg es auf Platz eins in den Charts.
Jake litt an schweren Depressionen, die auf eine schwierige Kindheit zurückzuführen waren. Er hatte gute Phasen, in denen er glücklich und voller Schaffensdrang war, und in einer solchen Zeit lernten wir uns kennen. Er war überzeugt davon, die Depression ein für alle Mal hinter sich gelassen zu haben, und warf die Medikamente weg, die ihn psychisch stabil halten sollten. Ich ließ es zu, ich verstand nicht genug davon.
Du sollst wissen, wie sehr dein Vater sich über meine Schwangerschaft gefreut hatte. Sie war ein Unfall, zugegeben, aber wir wollten dich beide behalten. Er meinte, es sei das Beste, was ihm je passiert sei, und er wäre ein guter Vater gewesen, da bin ich sicher.
Jake verfiel in eine schwere Depression, während er mit seiner Band auf Europatournee war. Bei seiner Rückkehr konnte er kaum sprechen. An dem Tag, an dem er in eine psychiatrische Klinik eingewiesen werden sollte, erhängte er sich an der Schlafzimmertür, als ich gerade in der Küche war.
Ich werde es mir nie verzeihen, dass er in meinem Beisein starb. Glaub mir das bitte. Und auch, dass er dich schon als Ungeborenes von ganzem Herzen liebte. Er war der beste Mann, den man sich vorstellen kann, und du schlägst nach ihm.
Alice
Dieser Brief von Alice löst meinen Zusammenbruch aus. Ihr Brief, ein paar Fotos und ein alter Zeitungsausschnitt mit einem Bild von den beiden bei einer Ausstellungseröffnung in einer Galerie. Unterschrift: Jacob Earl, Sänger der Disciples, und seine Freundin, die Künstlerin Alice Garland, in der Robin-Armstrong-Galerie in Mayfair.
Auf dem Foto ist Alice’ Schwangerschaftsbauch schon deutlich zu sehen, aber vollends aus der Bahn wirft mich, wie diese beiden sich ansehen, in Liebe entbrannt, auf dem Höhepunkt ihrer Schönheit, an der Schwelle zum Erfolg, eine Momentaufnahme von Größe. Ich halte den Brief in der Hand und weine um den Mann, den ich nie kennengelernt habe, um das Leben, das Alice versagt worden ist, und noch um andere Dinge, die ich nicht benennen kann. Ich weine den ganzen Tag und bin nicht in der Lage, es Hannah zu erklären, die besorgt um mich ist und versucht, diese wellenartig über mich hinwegschwemmende Mischung aus Hoffnungslosigkeit und Trauer zu verstehen. Wie sollte sie auch, da ich sie nicht einmal selbst begreife?
Es ist dunkel, als meine Mutter eintrifft, von Hannah irgendwann im Laufe des Tages herbeigerufen. Sie setzt sich zu mir aufs Bett und hält meine Hand, nennt mich »mein armer Junge«. Ihre Hände sind warm, trocken und rissig von der Gartenarbeit, sie riecht nach Lavendelseife.
»Sprich jetzt nicht«, sagt sie, als ich anfangen will, mich zu entschuldigen. »Dafür ist später noch Zeit. Und fühl dich nicht verpflichtet, mir irgendetwas zu erklären, das brauchst du nicht. Ich verstehe dich.«
»Alice …«, sage ich, doch sie macht »Sch!«.
»Ist schon gut. Hannah hat mir gesagt, wer sie ist, und ich kann es dir nicht verübeln, dass du sie kennenlernen wolltest. Hab kein schlechtes Gewissen, weil du mir nicht die Wahrheit gesagt hast, ich verstehe auch das.«
Ihre Freundlichkeit ist schwer zu ertragen, und trotz meines umnachteten Zustands ist mir bewusst, dass es Schuldgefühle sind, die mich im Bett festhalten. Schuldgefühle gegenüber Christina, Schuldgefühle gegenüber Alice. Der Mann, der zwei Müttern wehtat, so sollte man mich wohl besser nennen.
Wer hätte gedacht, dass ein Nervenzusammenbruch den Körper ebenso in Mitleidenschaft zieht wie den Geist? Die allumfassende Furcht, die ich empfinde, führt zu bleischweren Gliedern, einer engen Brust, Herzklopfen, Schweißausbrüchen, Schwindel und mehreren Panikattacken, einer nach der anderen, bis ich glaube, sterben zu müssen.
Der Notarzt wird gerufen, und ich weine während seines gesamten Besuchs, während Hannah und meine Mutter bang miteinander flüstern. Ich weine um Jacob und Alice, um ihren zerstörten Traum, um die Familie, die wir nicht sein durften. Ich weine um einen Mann, der so ohne Hoffnung war, dass er sich kurz vor der Geburt seines Kindes erhängte. Doch ich finde keine Worte für all das, und der Arzt diagnostiziert einen Burn-out und verschreibt Antidepressiva und zwei Wochen Urlaub.
Als er weg ist, legt Hannah sich zu mir aufs Bett und streichelt meinen Arm, während ich weiter weine.
»Du wirst dich besser fühlen, sobald die Tabletten wirken«, sagt sie, und ich bringe ein Nicken zustande.
»Meinst du, du kannst schlafen?«, fragt sie, woraufhin ich die Augen schließe und mich müde stelle, dann erleichtert höre, wie sie aufsteht und nach unten geht.
Alles, was ich will, ist, wieder zu Jacob zurückzukehren. Ich kann es nicht richtig erklären, dieses seltsame Zwiegespräch mit meinem toten Vater, aber es ist für mich im Moment das Einzige, was zählt.
Alice hat mir ein Foto von ihm in Schuluniform geschickt, er muss darauf neun oder zehn sein. Dieses Bild berührt mich noch mehr als die anderen, ich kann nicht aufhören, es zu betrachten. Er ist ein hübscher Junge mit seinen dunklen Augen und den hohen Wangenknochen, den vollen Lippen, unleugbar mir sehr ähnlich. Als ich das Foto meiner Mutter gezeigt habe, ist sie in Tränen ausgebrochen, die Frau, die ich während meiner Kindheit nicht ein einziges Mal habe weinen sehen.
»Das bist ja du«, sagte sie dann. »Er sieht aus wie du.«
Wenn ich das Bild jetzt anschaue, bemerke ich vor allem seine Ernsthaftigkeit, einen erwachsenen Ausdruck, der nicht zu seinem Alter passt. Der Junge, der mir da entgegenblickt, weiß schon mehr, als er sollte. Sein Leben besteht nicht aus Fahrrad fahren und Fußball spielen, Pommes und Schokolade. Er sieht mich an, und ich sehe ihn an, und auf eine verrückte, unerklärliche Weise sind wir durch unseren Schmerz verbunden. Wir kennen uns, wir gleichen uns; es ist genug.