Damals
Alice
Jake schläft, liegt zusammengekauert auf der Seite mit dem Gesicht zum Fenster. Er hat ein Loch in einem seiner Socken, die drei mittleren Zehen ragen heraus. Etwas daran, dem Loch, den Zehen, bricht mir das Herz. Schwerer als beabsichtigt lasse ich mich auf dem Bett nieder, rolle mich zu ihm herum und schlinge die Arme um ihn, unser ungeborenes Kind in der Lücke zwischen uns. So wacht er auf.
Er dreht den Kopf zu mir um und fängt sofort an zu weinen, Tränen, die nicht versiegen wollen.
»Ach, Jake«, sage ich und muss selbst weinen, »ich liebe dich so sehr. Ich wünschte, ich könnte dir helfen.«
Er sagt nichts, lange nicht, seine Traurigkeit ist zu groß, füllt ihn ganz aus. Als der Arzt am späten Vormittag kommt, hat er erst ein einziges Wort herausgebracht – verzeih –, und ich habe gemerkt, welche Anstrengung ihn das kostet. So viel Kummer und Schmerz und keine Möglichkeit, es auszudrücken. Er ist in seinem Körper, seinem gequälten Geist eingesperrt.
Der Arzt bleibt fast eine Stunde bei ihm. Ich gehe zwischen Küche und Wohnzimmer hin und her, mache mir schließlich einen Tee, der kalt wird, während ich aus dem Fenster starre.
»Wollen wir uns setzen?«, sagt der Arzt, als er endlich herauskommt, und deutet aufs Sofa. »Sie machen sich bestimmt große Sorgen, zumal die Geburt Ihres Kindes bevorsteht. Umso mehr tut es mir leid, was ich Ihnen zu sagen habe. Jacob leidet an einer schweren Depression. Das Gute ist, dass wir es rechtzeitig festgestellt haben. Wir müssen ihn schnellstmöglich in eine Klinik und in medikamentöse Behandlung bringen. Ich denke, ich kann innerhalb von ein paar Stunden ein Bett für ihn organisieren, wahrscheinlich im Maudsley.«
»Nicht in eine Klinik, bitte. Jake hasst Krankenhäuser.«
»Ich fürchte, es muss sein. Und zwar dringend. Sie verstehen doch hoffentlich, wie ernst sein Zustand ist?«
»Werde ich ihn besuchen dürfen?«
»Natürlich. Nur in den ersten Tagen ist es vielleicht nicht so gut, so lange, bis wir ihn stabilisiert haben.«
»Was ist, wenn er nicht will? Haben Sie mit Jake darüber gesprochen?«
»Er weiß, dass er eine Zeit lang stationär behandelt werden muss, und wehrt sich dagegen. Aber es geht nicht anders, Alice. Sollte er sich weigern, freiwillig mitzukommen, müssten wir ihn zu seinem eigenen Schutz zwangseinweisen lassen.«
Er tätschelt mir den Arm, bevor er geht.
»Wenn die Medikamente erst einmal wirken, werden Sie eine große Veränderung sehen, glauben Sie mir.«
Jake starrt an die Decke, als ich ins Schlafzimmer komme, doch dann sieht er mich an und klopft neben sich aufs Bett. Mich mit einer Hand abstützend, lasse ich mich langsam herab, ein schwerfälliges Manöver, das ihn noch vor Kurzem zum Lachen gebracht hätte. Er dreht sich zu mir um, und wir halten uns wortlos an den Händen. Manchmal tritt das Baby oder verändert seine Lage, dann lege ich seine Hand auf meinen Bauch, damit er es auch spüren kann. Er lächelt nicht, lässt die Hand aber liegen, selbst nachdem das Baby aufgehört hat, sich zu bewegen.
Der Wecker neben dem Bett misst unsere verbleibende Zeit. Aus drei Stunden werden zwei, dann anderthalb. Immer noch haben wir das Thema Krankenhaus nicht angesprochen, mir fehlt die Kraft dazu.
Schließlich stehe ich auf und beginne, Kleider aus seinem Schrank zu ziehen. Unterwäsche, Socken, T-Shirts. Sind das die richtigen Sachen? Mir fällt sein langer, dünner Schal in die Hände, der mit dem Federmuster, den er an dem Tag trug, als er mich in der Slade aufspürte. Ich zeige ihn ihm.
»Erinnerst du dich? Den hattest du an dem Tag an, als ich mich in dich verliebt habe.«
Er nickt, ohne zu lächeln, und ich lege den Schal auf die Kommode, weil ich weiß, dass ich ihn später brauchen werde, um mich zu trösten.
»Was machst du da?«
Ich höre, welche Mühe ihm das Sprechen bereitet.
»Der Arzt sagt, dass du noch heute in eine Klinik musst.«
Ich fühle mich wie eine Verräterin, besonders bei dem Wort »Klinik«, das er so hasst und fürchtet.
»Nein.«
Ich setze mich zu ihm auf die Bettkante, will seine Hand nehmen, doch er rückt von mir ab wie ein trotziges Kind.
»NEIN!«
»Jake, bitte. Du musst auf den Arzt hören. Dir geht es wirklich schlecht. Sie wollen dir nur helfen.«
»Was ist mit …« Er unterbricht sich erschöpft. »Was ist mit unserem Kind. Will es nicht verpassen.«
»Es kommt wahrscheinlich sowieso ein bisschen später. Das ist oft so beim ersten Kind. Bis dahin bist du wieder zurück, ganz bestimmt.«
Er dreht sein Gesicht weg.
»Du bist also auch auf ihrer Seite.«
»Natürlich nicht. Wie kannst du so etwas sagen? Ich will nur, dass es dir besser geht, damit du bald wieder bei mir bist.«
»Und wenn ich Nein sage?« Er redet zum Fenster hin, kennt die Antwort genauso wie ich.
»Dann wird man dich zwingen.«
Wir weinen jetzt beide, und ich lege mich zu ihm. Diesmal lässt er mich seine Hand halten.
»Es wird alles wieder gut«, sage ich. »Und es ist nicht so wie beim letzten Mal, weil du jetzt mich hast.«
Jake bringt ein Nicken zustande, bevor er sich wieder wegdreht.
Ich packe seine Tasche zu Ende. Ein Paar Jeans. Zahnbürste und Zahncreme aus dem Bad, ein frisches Stück Seife. Ich greife nach seinem Rasierer und zucke zurück, lasse ihn liegen und hasse mich noch ein bisschen mehr dafür.
Es ist fast halb drei, als ich fertig bin. Robin und der Arzt kommen in einer halben Stunde. Robin, um ihn zu fahren, der Arzt, um seine Einlieferung nötigenfalls durchzusetzen.
»Ich fahre mit«, sage ich, aber Jake schüttelt den Kopf.
»Nein. Komm her.«
Ich lege mich wieder zu ihm, und diesmal nimmt er mich in die Arme so wie früher.
»Ich will nicht, dass du das siehst. Ich habe dir erzählt, wie es an solchen Orten zugeht. Es wird dir nur Angst machen.«
»Das ist mir egal.«
»Mir aber nicht.«
»Aber du erlaubst doch, dass ich dich besuche, oder?«
Er drückt meine Hand. »Ich zähle darauf.«
»Du weißt, wie sehr ich dich liebe?«
»Gleichfalls.«
»Meinst du, du könntest etwas essen? Es ist noch genug Zeit.«
Er nickt. »Eine Kleinigkeit.«
»Suppe?«
Zum ersten Mal, seit er wieder da ist, lächelt er.
»Suppe wäre genau das Richtige.«
Ist jemals mit solcher Sorgfalt eine Dosensuppe gekocht worden? Als könnte ich all meine Liebe und Hoffnung und Stärke zu dieser leuchtend orangeroten Flüssigkeit hinzugeben, zu dem knusprigen, heißen und dick mit Butter bestrichenen Toast. Während ich darauf warte, dass die Suppe heiß wird, mache ich mir eine frische Tasse Tee, und dabei fällt mir ein, dass ich seit der einen Scheibe Brot heute Morgen um acht nichts mehr gegessen habe. Ich tadele mich dafür, dass ich nicht an das Baby denke, und nehme mir vor, zum Gemüsehändler zu gehen, sobald Jake fort ist, und so viel gesundes Zeug zu kaufen, wie ich nur kriegen kann, ein Vitaminstoß in letzter Minute für unser bald auf die Welt kommendes Kind.
Um Viertel vor drei trage ich ein Tablett mit der Suppe zum Schlafzimmer. Ich will die Tür mit dem Fuß aufstoßen, aber sie bewegt sich nicht, klemmt irgendwie. Ich stelle das Tablett auf dem Boden ab, gar nicht so einfach im neunten Monat.
»Jake?«, rufe ich und drücke fester gegen die Tür, die ein paar Zentimeter nachgibt, aber immer noch von irgendetwas Schwerem, Unverrückbarem blockiert wird. Alles in mir – Knochen, Blut, Haut, Herz, Lunge, Magen – gefriert zu Eis. Ich werfe mich mit meinem ganzen Gewicht dagegen, und dann sehe ich seine Füße auf der anderen Seite, immer noch in den löcherigen Socken, drei hervorlugende Zehen, und ich weiß, oh, ich weiß, was mich erwartet. Er liegt von der Tür weggeneigt, das Gesicht grotesk nach oben gekehrt, den Hals in einer Zugschlinge aus seinem cremeweißen Federschal, der am Türknauf befestigt ist.
Schluchzend und mit zitternden Händen versuche ich, die Schlinge zu lösen.
»Du lebst noch!«, sage ich laut zu ihm, zu mir selbst, zu irgendwem, der in der Lage sein könnte, es wahr zu machen.
Seine Haut fühlt sich warm an, doch er sackt nach vorn, sobald ich ihn von dem Schal befreit habe, und seine Augen starren ins Leere. Ich sinke zu Boden und wiege ihn in meinem Schoß, meinen Geliebten, meinen Liebsten, meinen Schatz.