Heute

Luke

Es beginnt als ein richtig schöner Samstag. Wir schlafen alle drei lange, das heißt bis halb neun statt wie sonst nur bis sechs, und werden von Samuel geweckt, der mir beim Herumrollen die Füße in den Bauch stößt. Als ich die Augen aufschlage, sieht er mich groß an. Ich grinse, eine unwillkürliche Reaktion beim Anblick dieses entzückenden Menschenwesens, woraufhin er sein helles Lachen lacht und damit auch Hannah weckt.

»Hallo, Sonnenschein«, sagt sie und küsst ihn.

Dann nimmt sie meine Hand und zieht sie an ihre Lippen.

»Es ist Samstag. Zwei Tage nur für uns.«

»Frühstück im Bett?«, schlage ich vor. »Für drei?«

Wir bekommen die Wochenendausgaben der Zeitungen nach Hause geliefert, und so trage ich kurz darauf ein Tablett mit Tee, Toast, der Times und Samuels warmem Fläschchen nach oben. Als ich die Vorhänge aufziehe, fällt die frühherbstliche Morgensonne herein, ein goldenes Strahlenbündel wie aus Star Wars.

Wir lehnen den Kleinen an die Kissen, und er greift nach seiner Flasche, reißt sie grob an sich und stopft sie sich in den Mund, was wir jeden Tag aufs Neue amüsant finden. Dann saugt und schluckt er mit diesem starren Blick, den er immer bekommt, als würden wir ihn hungern lassen, als sei das seine erste Milch seit einer Ewigkeit.

»Tee?«, fragt Hannah, die sich in meinem Cult-T-Shirt auf die Knie hockt und umwerfend hübsch aussieht mit ihren rosigen Wangen, ihrem Lächeln und der zerzausten Bettfrisur.

»Hannah?«, sage ich, ganz erfüllt von diesem Moment, und sie sieht mich an, immer noch lächelnd.

Mir liegt so vieles auf der Zunge. »Heirate mich« kommt mir regelmäßig in den Kopf, aber Hannah hat ihre festen Überzeugungen, was das angeht. Eine Heirat macht eine Trennung wahrscheinlicher, behauptet sie, obwohl sie das mit keiner Statistik belegen kann. Es ist nichts als ein Gefühl, ihr Misstrauen gegen alles Offizielle, im Herzen immer ein Cornwall-Hippie.

Also begnüge ich mich mit »Ich liebe dich sehr«, und sie lacht und wirft mir eine Kusshand zu.

»Gleichfalls, du alberner Kerl. Luke?«

Das kurze Zögern genügt, ich weiß, was sie sagen wird.

»Geht es dir gut?«

Ich zucke die Achseln. »Ja und nein.«

Gestern Abend, als ich ihr von Ricks Geständnis berichtete, ist sie in Tränen ausgebrochen. Allmählich sieht sie wohl ein, dass mein Misstrauen gegenüber Alice begründet war, und schlägt sich endlich auf meine Seite.

»Aber es ist Wochenende«, sage ich, während ich meine Tasse entgegennehme. »Lass uns mal eine Pause machen von dem ganzen Reden über Alice.«

Wir trinken Tee und lesen Hannahs Kritik zu der Uraufführung eines neuen Theaterstücks im Donmar Warehouse. Ich lese sie zum zweiten Mal, sie zum zwanzigsten Mal, prüft den Text auf irgendwelche Fehler, die noch in letzter Minute im Satz passiert sein könnten, eine in Fleisch und Blut übergegangene Fähigkeit, Kunstbegeisterung mit nüchterner Genauigkeit zu verbinden.

Als Samuel sein Fläschchen ausgetrunken hat, schleudert er es übers Bett wie ein kleiner Despot.

»Sieht aus, als sei das Frühstück beendet«, sagt Hannah.

Wir planen den Tag, während wir duschen, uns anziehen und alles Nötige für den Despoten zusammenpacken – mehr Milch, ein Becherchen tiefgefrorenes Birnenmus, den Bund Plastikschlüssel, den er so gern hat, seinen schielenden Bär. Zuerst auf einen Kaffee ins North St. Deli, das einen kleinen Garten hinten hat, dann ein Spaziergang im Clapham Common mit Halt beim Spielplatz und den Schaukeln. Danach wollen wir beim Metzger Lammsteaks zum Abendessen kaufen und eine Flasche von unserem Lieblingswein bei Oddbins, und wenn wir zurückkommen, wird Samuel eingeschlafen sein, und wir werden ihn im Buggy schlummern lassen, während wir nach oben schleichen.

Der Gedanke an diese kleine Auszeit, die mit Glück anderthalb Stunden dauert und uns eines der langsamen, ausgedehnten Liebesspiele von früher erlaubt, bewirkt ein gewisses Glühen in uns beiden. Ich drücke meine Lippen auf die Innenseite von Hannahs Handgelenk, und sie seufzt auf diese besondere Art, die mir alles sagt, was ich wissen muss. Ich mag diese stillschweigende Übereinkunft, die eine ganz eigene Erotik mit sich bringt. Zwar können wir nicht mehr miteinander ins Bett fallen, wenn uns gerade danach ist, spontan ein Theater oder Kino verlassen und uns ein Taxi nehmen auf nichts als einen Blick oder ein geflüstertes Begehren hin, doch dafür können wir uns stundenlang darauf freuen und die allmähliche Steigerung dieser Vorfreude genießen.

Hand in Hand schlendern wir durch unser Viertel, wo der lange heiße Sommer die Bäume vorzeitig rot und golden gefärbt hat, hier und da auch ein Fleck von Knallgelb. Wenn Samuel ein bisschen älter ist, wird er in die Luft springen, um ein fallendes Blatt zu fangen, und wir werden ihm sagen, dass er sich etwas wünschen kann. In der Larkhall Rise bewundern wir wie jedes Mal die hoch aufragende Pracht von vier viktorianischen Reihenhäusern, jedes mit drei Stockwerken und einem großzügigen Garten hinten. Vor dem hintersten, dem schäbigsten, auf das wir ein Auge geworfen hatten, bemerken wir ein Zu-verkaufen-Schild und vermuten, dass bald ein Paar von Bankern dort einziehen wird, das der Haustür einen teuren Anstrich von Farrow&Ball verpasst und zwei Miniaturbäume wie Ausrufezeichen danebenstellt.

Als wir zu dem Café kommen, ist es schon fast elf, und bei mir machen sich leichte Kopfschmerzen durch die mangelnde morgendliche Espresso-Dosis bemerkbar. Normalerweise gehen wir nicht ins North St. Deli, auch wenn all unsere Freunde davon schwärmen, weil Hannah eine Schwäche für das alte Porzellan, den losen Tee und die Schokoladeneclairs des French Café an der High Street hat. Daher wundern wir uns, als der Inhaber herbeieilt, um uns zu begrüßen.

»Ciao«, sagt er, »da ist ja mein Lieblingsbaby. Sonst sehe ich ihn nicht am Wochenende …«

Wir lächeln und wollen gerade zu einer Erklärung ansetzen, als der Mann sich vor Samuel hockt.

»Ciao, Charlie, wo ist denn deine schöne Mama heute?«

Wir erstarren, unsere Mienen gefrieren, und Sekunden vergehen, ehe wir antworten.

»Haben Sie ihn gerade Charlie genannt?«, fragt Hannah ungewohnt schroff.

»Ja, so heißt er doch, ich kenne ihn gut.«

Der Mann richtet sich auf und will uns die Hand geben.

»Ich bin Stefano«, sagt er. »Alice, seine Mutter, kenne ich gut, sie kommt jeden Tag hierher.«

Meine schöne, vertrauensvolle Freundin – ich sehe zuerst Unglauben, dann Entsetzen in ihrem Blick, als sie die volle Bedeutung des Gesagten begreift.

»Alice ist unsere Tagesmutter«, sage ich. »Keine Ahnung, warum sie Sie in dem Glauben gelassen hat, sie sei seine Mutter.« Auch ich klinge nicht wie ich selbst, ruppig, machohaft, unfreundlich. Unter anderen Umständen würde ich mich für unsere Grobheit schämen.

»Gibt es da ein Missverständnis?«, fragt Stefano, verwirrt. »Möchten Sie vielleicht einen Kaffee? Ein Stück Kuchen? Wir haben einen schönen kleinen Garten hinten.«

»Ja«, sagt Hannah, »wir wissen von dem Garten, danke. Und es tut mir leid, aber ich habe Schwierigkeiten, das zu kapieren. Noch mal zur Klarheit: Alice, unsere Tagesmutter, kommt mit unserem Sohn Samuel hierher und behauptet, er sei ihr Kind? Sie gibt sich als seine Mutter aus?«

Stefano wirkt geknickt und verlegen bei Hannahs kühlem Verhör.

»Es tut mir leid.« Er zieht die Schultern hoch. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«

Hannah schüttelt den Kopf, auch ihr scheinen die Worte ausgegangen zu sein. Sie beugt sich über den Kinderwagen, in dem Samuel großäugig und ahnungslos sitzt, und legt ihm kurz die Hand an die Wange. Eine herzzerreißende Geste, die nur eines besagt: mein Kind, meins. Danach stolziert sie mit ihm aus dem Café.

Ein paar Häuser weiter, neben dem Eingang zu dem neuen Fitnessstudio, in dem wir beide Mitglied sind und nie trainieren, bleibt sie allmählich stehen, die Hände vorm Gesicht, über den Buggy gebeugt, weinend. Schuldgefühle, Scham, Niedergeschlagenheit, Angst – ein gewaltiger Strudel an Emotionen in ihr, als ich sie in die Arme nehme und mich angstvoll frage, was sie an dieser erschreckenden neuen Entwicklung am schlimmsten findet. Es dauert gut eine Minute, bevor sie etwas sagen kann, und dann ist es nicht das, was ich erwartet hatte – »Wie kann sie es wagen? Wie kann sie es verdammt noch mal wagen?« –, sondern etwas ganz anderes.

»Samuel hält Alice für seine Mutter.«

Das verblüfft mich so sehr, dass ich beinahe lache. Samuel ist acht Monate alt, seine Gedanken drehen sich um essen und schlafen. Er hat noch gar nicht die Erkenntnisfähigkeit, um zu beurteilen, wer seine Mutter ist und wer nicht. Oder?

Hannahs Ausbruch ist jedoch noch lange nicht vorbei.

»Ich hätte nicht schon wieder anfangen dürfen zu arbeiten, das war so was von selbstsüchtig von mir. Ich liebe ihn über alles und habe ihn trotzdem einer völlig Fremden anvertraut, damit ich mit meiner blöden Scheißkarriere weitermachen kann. Dabei war deine Mutter, deine eigentliche Mutter, die Frau, die dich aufgezogen hat, sogar so großzügig, uns finanzielle Unterstützung anzubieten, falls ich zu Hause bleiben und mich selbst um ihn kümmern will. Und das wollte ich ja auch, du weißt nicht, wie gern ich bei ihm bleiben wollte, aber ich habe meinen Beruf an erste Stelle gesetzt. Und das ist jetzt das Ergebnis, und es ist alles meine Schuld.«

»Wie soll das denn deine Schuld sein? Samuel ist noch zu klein, um solche Sachen mitzukriegen. Er liebt dich. Er weiß, dass du seine Mum bist.«

Ich versuche, sie zu trösten, aber sie schiebt mich weg.

»Du kapierst es nicht, oder? Du verstehst nicht, worum es hier geht.«

»Doch, das tue ich sehr wohl. Du hast Angst, dass unser Sohn Alice mehr lieben könnte als dich. Und ich sage dir, das ist Unsinn. Kinder in dieser Lebensphase denken nicht so. Sie wissen nicht einmal, was gestern war.«

»Wie kannst du so etwas behaupten, gerade du? Immerhin bist du selbst so scheißverkorkst wegen deiner ersten Lebensmonate.«

Ich schrecke zurück, eine Selbstschutzreaktion, werde ganz kalt und wachsam vor Bestürzung. Ich kann sie kaum ansehen, diese Frau, die ich liebe.

Hannah fängt wieder an zu weinen.

»Es tut mir leid, das habe ich nicht so gemeint.«

Samuel, der in seinem Wagen festgeschnallt ist, beginnt zu weinen, worauf Hannah ihn automatisch, ja geradezu manisch schaukelt.

»Wir waren so glücklich«, sagt sie.

»Sind wir doch immer noch, oder?« Bitte sag Ja. Ich ertrage keine Bedrohung meines Glücks, das muss sie doch wissen. Als Adoptivkind bin ich abhängig von Beständigkeit.

Hilflos sehe ich zu, wie sie Samuel losmacht und aus dem Buggy hebt, ihn auf beide Wangen küsst. Sogleich hört er auf zu weinen. Ist das nicht Beweis genug?

»Siehst du? Siehst du, wie er dich liebt? Wollen wir zum Park rübergehen? Wir können unterwegs weiterreden.«

Hannah blickt mir ins Gesicht, jetzt voll konzentriert.

»Ich hoffe, dir ist klar, was das bedeutet«, sagt sie in einem kalten Ton, der mir nicht gefällt. »Alice muss gehen. Alice muss gefeuert werden oder wie man das auch nennt, was man tut, wenn sich herausstellt, dass deine leibliche Mutter versucht, dir deinen Sohn zu stehlen.«

»Stehlen kann man das ja wohl nicht nennen, Hannah. Aber sie benimmt sich eindeutig seltsam mit Samuel. Ich habe schon länger versucht, dir das zu sagen.«

»Warum habe ich nicht auf dich gehört? Warum habe ich nichts bemerkt? Was für eine Frau gibt das Kind einer anderen als ihr eigenes aus?«

»Und zieht ihm meine alten Sachen an. Das Ganze ist wirklich höchst merkwürdig. Auch dass sie null Interesse an mir zeigt, ihrem echten Sohn, sie ist völlig auf ihn fixiert.«

»Meinst du, sie ist gefährlich?«

»Gott, ich glaube nicht.«

So erleichtert ich bin, dass Hannah sich endlich meiner Sichtweise anschließt, finde ich ihre Gedankensprünge jetzt doch etwas extrem.

»Komm, wir haben es ja nicht mit einer Psychopathin zu tun«, sage ich, um sie zum Lachen zu bringen, aber Fehlanzeige.

»Ich hoffe, du begreifst, wie schwerwiegend das ist. Soll ich es ganz deutlich machen? Ich will diese Frau nicht mehr sehen.«