Damals
Alice
Unterwegs mit Jacob durch Soho, meine Gedanken ein Wirbelsturm. Ich bin froh, dass er keine Konversation zu machen versucht, als wir uns einen Weg durch den Müll in der Berwick Street suchen. Styroporpackungen mit herausgequollenen Essensresten – lasche Schalen von Ofenkartoffeln, Brocken von Hamburgern –, Standbesitzer, die sich gegenseitig etwas zubrüllen, während sie ihre Obststeigen wegschaffen. Jacob geht schnell, ein kleines Stück vor mir, sein Federschal flattert hinterdrein, und ich bemerke die Blicke, als wir die Brewer Street überqueren und in die Wardour einbiegen. Ist es sein Aussehen, weshalb die Leute sich nach ihm umdrehen, oder erkennen sie ihn, diesen Jungen, diesen Mann, dem ich gerade erst begegnet bin?
Er zeigt auf die Bar Italia. Kleine Tische stehen davor, dicht besetzt mit Männern in Anzügen, die Kaffee aus kleinen weißen Tassen trinken. Ringsherum hört man melodiöses, schnelles Italienisch.
»Ich kenne diesen Laden«, sage ich, als wir das Café mit seinen Terrakottafliesen und der chromblitzenden Kaffeemaschine an der Theke betreten. Am anderen Ende des schlauchartigen Raums hängt ein Fernseher, vor dem eine Traube lärmender Gäste auf Barhockern sitzt. »Die Leute kommen zum Fußballgucken her.«
»Zum Fußballgucken, Kaffeetrinken, Unterhalten. Es ist eine Art Religion.«
Ein Mann in einem weißen Kellnerhemd mit Fliege begrüßt Jacob.
»Hallo, Luigi. Das ist Alice.«
Luigi gibt mir über den Tresen hinweg die Hand.
»Zwei Espresso?«
»Alice möchte einen Cappuccino«, sagt Jacob, worauf Luigi die Augen verdreht.
»Cappuccino trinkt man zum Frühstück. Jetzt Espresso.«
»Sie hat aber noch nie einen getrunken. Sie muss ihn unbedingt probieren.«
»Okay, Alice. Ist aber nicht gut für die Verdauung.« Luigi droht spaßhaft mit dem Zeigefinger. »Milch am Nachmittag bekommt einem nicht.«
Als ich neben Jacob an einem der rot-weißen Resopaltischchen sitze, muss ich gegen eine plötzliche Befangenheit ankämpfen. Er sieht mich mit halbem Lächeln an, und ich frage mich, ob er meine Gedanken lesen kann.
»Also los. Zeig uns deine gesammelten Werke.«
Ich öffne das Skizzenbuch in der Mitte, weil ich ihn nicht mit meinen frühen Stillleben langweilen will: der Birne auf einem dekorativ in Falten geschobenen Tischtuch, der Vase mit Blumen, dem Korb voller Äpfel. Zufällig ist die Seite, die ich ihm zeige, ein Porträt von Rick, angefertigt in meiner zweiten Woche im College. Rick sitzt an seinem Schreibtisch, das Kinn in die Hand gestützt, und sieht mich direkt an. Ich muss lächeln bei seinem Anblick.
»Dein Freund hat recht. Du bist echt gut. Hast ihn genau getroffen.«
»Das ist meine erste Zeichnung von ihm, ich mag sie immer noch am liebsten.«
»Er ist wirklich nicht dein Boyfriend?«
»Nein. Alle denken, dass wir zusammen sind, aber sind wir nicht. Manchmal frage ich mich, ob Rick schwul ist.«
Das rutscht mir heraus, ehe ich mich auf die Zunge beißen kann.
»Das hätte ich nicht sagen sollen.«
»Wieso? Mir ist so was egal.«
»Ich kann mich irren. Wahrscheinlich irre ich mich.«
Er lächelt. »Alice, ist schon gut«, sagt er, und ich komme mir dumm vor wegen meiner Beteuerungen. Es verwirrt mich im Grunde genau wie alle anderen, dass sich zwischen Rick und mir nicht mehr entwickelt. Er sieht gut aus, keine Frage, ist der witzigste, freundlichste Mensch, den ich kenne, und wir waren vom ersten Tag an unzertrennlich. Unser Verhältnis ist so eng wie das eines Liebespaars, nur ohne den kleinsten Funken von Erotik.
Jacob blättert weiter, bis er zu meiner Eiche kommt.
»Ein Baum, der eigentlich ein Mensch ist. Oder ein Mensch, der zum Baum wird?«
Auf einmal erzähle ich ihm von meiner Begeisterung für Bäume, insbesondere Eichen. Während meiner Kindheit in Essex habe ich jede freie Minute auf den Wiesen und Feldern hinterm Haus verbracht. Die Bäume dort schienen, vor allem in der Abenddämmerung, einen je eigenen Charakter anzunehmen. Ich schäme mich nicht einmal zu sagen, dass sie wie Freunde für mich waren. Oder dass auch jetzt noch der Charakter eines Baums – der Eichen im Battersea Park, der Kirsch- und Lindenbäume entlang der Straßen von Notting Hill – für mich erkennbar ist, als würde ich diese Lebewesen in besonderer Weise wahrnehmen.
Luigi bringt unseren Kaffee.
»Cappuccino für die junge Dame, Espresso für dich.«
Ich habe schon öfter richtigen Kaffee getrunken. Meine Eltern waren Fans von Rombouts und gönnten sich jeden Sonntag nach dem Mittagessen eine Tasse aus diesen kleinen Plastikfiltern. Mir wurde nicht immer einer angeboten, das hing ganz von der Laune meines Vaters ab. Das hier aber ist etwas völlig anderes.
Jacob sieht zu, wie ich meinen ersten Schluck trinke.
»Gott, ist der köstlich.«
Noch einen Schluck.
»Schmeckt wie … also, Nektar habe ich noch nicht probiert, aber …« Was wäre die beste Beschreibung für dieses cremige Aroma, das sämtliche Geschmacksknospen explodieren lässt? »Wie heißes Mokkaeis.«
Jacob lacht.
»Stimmt genau.«
Ich erzähle ihm von dem Rombouts-Kaffee und dass mein Vater je nach meinem Betragen entschied, ob ich einen verdient hatte. Hausaufgaben noch am selben Tag erledigt, anständig angezogen für den Kirchgang, pünktlich gewesen. Eine gedankliche Prüfliste, die er jeden Sonntag durchging.
»Klingt, als wäre er ein bisschen ein Idiot.«
»Er ist Kanoniker in unserer Kirche zu Hause.«
»Kein Wunder.«
»Ich mag ihn nicht besonders. Er ist nicht nett zu meiner Mutter. Predigt ständig Nächstenliebe in der Kirche und behandelt sie zu Hause wie eine Sklavin. Außerdem ist er cholerisch, und man weiß nie, wann er das nächste Mal ausflippt.«
»War offenbar höchste Zeit, da wegzukommen.«
»Ich möchte möglichst nie wieder dorthin zurück.«
»Musst du ja auch nicht. Du bist jetzt eine unabhängige Frau. Wie alt bist du?«
»Fast neunzehn«, antworte ich, und Jacob lacht.
»Wie alt bist du denn?«
»Was schätzt du?«
Inzwischen bin ich selbstsicher genug, um ihn mir genauer anzusehen, seine Gesichtszüge mit Künstlerblick zu studieren. Die Fältchen um seine Augen sind recht tief, besonders wenn er lächelt. Seine Schneidezähne sind leicht schief und ein bisschen gelblich vom Nikotin. Das alles tut seinem guten Aussehen keinen Abbruch, ich registriere die kleinen Schönheitsfehler lediglich als Hinweise auf sein Alter. So als würde man einem Pferd ins Maul schauen. Oder die Jahresringe eines Eichenstamms zählen.
»Ich würde sagen, dreißig.«
»Frechheit. Sechsundzwanzig.«
Sieben Jahre älter, denke ich unwillkürlich. Ist das ein akzeptabler Unterschied? Ihm geht offenbar dasselbe durch den Kopf, denn er bemerkt: »Ein ganzes Stück älter als du.«
»Das spielt keine Rolle«, entgegne ich, worauf er grinst.
»Nein, nicht wahr?«
Er blickt auf seine Uhr. »Wenn wir langsam gehen, hat das French House schon auf, bis wir da sind. Hast du Lust?«
Mehr, als ich jemals auf irgendetwas Lust gehabt habe. Ich wünschte nur, ich könnte mich telepathisch mit Rick verständigen. Dann würde ich ihm sagen, dass ich gerade jetzt, in diesem Augenblick, einfach unvorstellbar glücklich bin.