Heute

Luke

Schuldgefühle wegen der Aufgabe eines Kindes sind unausweichlich und können sich verheerend auswirken. Die biologische Mutter zeigt normalerweise eine von zwei Reaktionen: Entweder verdrängt sie ihre Trauer und stumpft innerlich ab. Oder sie wird fortwährend davon gequält.

Joel Harris, Wer bin ich? Das verborgene Trauma adoptierter Kinder

Die Fahrt nach Southwold dauert weniger als drei Stunden, dank Ricks silberfarbenem Alfa Romeo und seines riskanten Fahrstils.

Unterwegs erzählt er mir, wie er damals mit Alice und mir aus dem Krankenhaus geflohen ist, in einem alten Morris Minor mit roten Ledersitzen.

»Ihr habt auf der ganzen Strecke hinten geschlafen, und du bist in dem Moment aufgewacht, als wir am Strand ankamen und die Sonne aufging. Trotz allen Unglücks erschien es uns wie ein Neuanfang. Als hätten wir eine zweite Chance bekommen.«

Ich erfahre, dass Rick eine kurze Zeit lang praktisch wirklich mein Vater war. Er, Alice und ich, ein Dreierteam.

»Wir beide waren oft zusammen in den ersten paar Wochen. Ich wollte Alice Zeit lassen, um zu trauern, also habe ich dich in einen Schal gewickelt wie in ein Tragetuch und bin mit dir rausgegangen. Wir sind stundenlang am Strand entlangspaziert, und wenn wir zurückkamen, war Alice rot vom Weinen, aber sie hatte immer ein Lächeln für dich. Nicht ein einziges Mal hat sie vor dir geweint, du solltest nur Liebe und Glück kennen, meinte sie. Ich weiß nicht, wie sie das geschafft hat.«

»Arme Alice.«

»Sie ist nie darüber hinweggekommen. So eine Liebe wie die zwischen ihr und Jake ist selten. Sie waren nicht nur ein Liebespaar, sondern auf einer tieferen Ebene miteinander verbunden, Seelenverwandte. Unter anderem hatten sie beide Misshandlungen in der Kindheit überlebt und konnten sich gegenseitig stützen. Zusammen waren sie stark, aber ohne Jake kam Alice nicht mehr zurecht. Einmal habe ich sie gebeten, mich zu heiraten, ich dachte, das wäre die Lösung nach seinem Tod. Aber sie wollte nichts davon wissen. Sie hat nie jemand anderen geliebt als Jake. Und wird es auch nie mehr, denke ich.«

»Musstet ihr mich wirklich weggeben?«

Ich sehe, wie Rick das Lenkrad fester packt, und verstehe, dass die Frage ihn genauso quält wie mich.

»Vielleicht nicht. Vielleicht hätten wir trotz allem einen Weg finden können. Diese Entscheidung hat ihr Leben zerstört. Noch mehr als der Verlust von Jake, denke ich. Sie hat sich verschlossen, hat ihre Persönlichkeit verloren, ist zu einem anderen Menschen geworden. Ich glaubte lange, sie würde sich davon erholen, aber dazu kam es nicht.«

Danach schweigen wir lange.

Hannah und meine Mutter warten zu Hause auf Nachricht von der Polizei, und wir alle klammern uns an Ricks Überzeugung, dass es nur einen Ort gibt, den Alice mit Samuel aufsuchen würde. Ich habe Hannah ungern zurückgelassen, konnte aber auch nicht untätig herumsitzen. Es hilft, in diesem Auto zu sein, in einem Höllentempo Richtung Küste zu heizen und darauf zu bauen, dass jeder Kilometer mich meinem Sohn näher bringt.

»Du bist Jake so ähnlich, die gleiche Stimme, die gleichen Angewohnheiten, alles. Es ist manchmal kaum auszuhalten, selbst für mich.«

»Du meinst, ich erinnere Alice zu sehr an ihn?«

»Ja, natürlich. Sie hat mir erzählt, dass sie sich nach eurem ersten Treffen abends in den Schlaf geweint hat. So überglücklich, dich gefunden zu haben, und wieder so niedergeschmettert, weil sie ihn damals verloren hat.«

»Warum hat sie sich derart auf Samuel fixiert?«

»Na, weil er aussieht wie du. Es war für mich auch ein Schock, als ich Samuel zum ersten Mal gesehen habe, weißt du nicht mehr? Als hätten wir unser Baby wieder. Alice geht es schon seit ein paar Jahren nicht gut – das ist ziemlich offensichtlich, oder? Dann das Wiedersehen mit dir … Ich vermute, dass sie sich in eine Fantasiewelt geflüchtet hat, wenn sie mit Samuel zusammen war. In ihrer Vorstellung ist Samuel zu dir geworden, ihrem verlorenen Kind. Sie hat es nicht böse gemeint, es war eher so etwas wie ein rettender Ausweg für eine ziemlich traurige, gebrochene Frau. Als Hannah und du ihr dann verboten habt, ihn zu sehen, ging es schnell mit ihr bergab. Sie hat nur noch von Southwold geredet, von unserer Zeit dort und was wir alles gemacht haben. Ich wünschte bloß, ich hätte rechtzeitig erkannt, worauf das Ganze hinausläuft. Ihre Gedanken kreisten ständig darum, sich von dem Baby zu verabschieden.«

»Und hat sie ihn Samuel genannt?«

Rick sieht mich kurz an.

»Nein.«

»Ich habe es kommen sehen, aber niemand hat mir geglaubt. Irgendwann habe ich angefangen, Alice in den Park zu folgen, beinahe jeden Tag, und mir ist klar, wie sich das anhört. Aber ich wusste, dass etwas nicht stimmt, etwas, das ich nicht richtig benennen konnte.«

»Wie gesagt, ihre psychische Verfassung ist schon länger labil. Das Wiedersehen mit dir, nach dem sie sich so sehr gesehnt hatte, hat ihr den Rest gegeben. Es war, als wäre Jake wieder in ihr Leben getreten. Was natürlich eine Illusion war. Sich ganz auf Samuel zu konzentrieren war leichter, als sich erneut dem Schmerz über den Verlust von Jake auszusetzen.«

»Ich wünschte, wir hätten darüber gesprochen, bevor es zu spät war.«

»Es ist nicht zu spät. Wir sprechen jetzt darüber.«

»Du denkst doch nicht …« Meine Furcht, das Unaussprechliche, verschlägt mir die Sprache. Doch Rick versteht mich auch so.

»Sie liebt ihn. Sie würde ihm kein Härchen krümmen.«

Wir kommen in Southwold an, es ist noch hell, die Sonne noch warm. Ich war noch nie hier und hätte nicht erwartet, dass hier alles so schick ist. Farblich aufeinander abgestimmte pastellfarbene Architektur, Haustüren in Farrow&Ball-Tönen. Delikatessengeschäfte und Antiquariate und hip aussehende Cafés, die sich wahrscheinlich auf Chai Lattes und Mandelmilch-Frappuccinos spezialisiert haben.

»Notting Hill an der Küste«, bemerke ich.

»Zu unserer Zeit noch nicht. Damals war es total unhip und deshalb umso schöner. Fish and Chips auf der Seebrücke, Zuckerwatte, eine Spielhalle mit Automaten. Einen dieser Automaten mochtest du besonders, er hatte so ein Fach mit Pennys, das sich bewegte, und wenn die Münzen herunterkippten, hast du dich kaputtgelacht.« Er klingt wehmütig, und auch mich macht es traurig, mir die beiden vorzustellen, Rick und Alice, zwei junge Kunststudenten mit ihrem Baby.

»Rick?«

Er dreht sich kurz zu mir um, Tränen in den Augen, wie ich es mir gedacht habe.

»Vielleicht kann doch noch alles gut zwischen uns werden.«

»Bestimmt, Luke. Da bin ich sicher.«

Er biegt in eine Seitenstraße ab, und jetzt liegt das Meer vor uns, eine silbrige Haut, schimmernd unter einem wolkenlosen Himmel. Wir fahren mit dem auffälligen Flitzer auf einen kleinen Parkplatz, von dem man auf eine Reihe bonbonfarbener Strandhütten blickt: Pink, Gelb, Blau und Grün. Hoffnung und Furcht zugleich durchfluten mich.

»Das ist unser Strand. Als wir zum ersten Mal hier waren, Alice, Jake, Tom und ich, sind wir die Nacht durchgefahren und bei Sonnenaufgang angekommen. Die gleiche Fahrt haben wir dann in der Nacht gemacht, als wir mit dir getürmt sind. Dieser Flecken hier bedeutet Alice unheimlich viel, hier war sie zum letzten Mal mit dir, bevor sie dich abgegeben hat.«

Mir kommt ein Gedanke.

»Kann ich allein gehen?«

Rick sieht mich an. »Bist du sicher?«

»Ja, ich glaube, das ist wichtig. Nur sie und er und ich. Ich will alles richtig machen.«

Er nickt. »Verstehe. Ich warte hier.«

Ich steige aus und gehe auf den Strand zu, vorbei an einer Familie, die gerade zu einem orangefarbenen Camper mit verblichenen Baumwollvorhängen an den Fenstern zurückkehrt. Die Art von Bus, wie ihn Alice und Jake damals gehabt haben könnten. Mutter, Vater und zwei kleine Mädchen, nasse Haare, die ihnen am Kopf kleben, alle in Badetücher gewickelt. Eins der Mädchen hält einen abgenutzten Pandabär in der Hand, und das wirkt wie ein Elektroschock. Ich muss Samuel finden, ich muss ihn sofort finden.

Ein abschüssiger, asphaltierter Weg führt zum Strand hinunter, und ich fange an zu laufen, suche die freien Stellen zwischen den Windschutzplanen ab. Abendliche Picknicker, Hundeausführer und ein junges Pärchen Hand in Hand, aber keine Frau mit einem kleinen Kind. Eine grimmige, vorwurfsvolle Verzweiflung überfällt mich. Verdammter Rick, dass er mich zu diesem sinnlosen Unterfangen überredet hat, denke ich, als ich die weite Sandfläche erneut mit dem Blick absuche, systematischer diesmal. Er schien so sicher, dass sie hier sind. Und ich habe ihm geglaubt.

Die rote Fahne weht unten an der Strandlinie, und zwei Polizisten stehen daneben und schauen hinaus aufs Meer. Ich weiß, was sie mir gleich sagen werden. Keine Alice, kein Samuel.

Es kribbelt in meinen Adern, mir wird eng um die Brust, und alles verschwimmt vor mir, sodass ich einen Moment innehalte, den Geruch nach Salz und Tang einatme, vertraut und berauschend, aber nicht heute. Ich halte die Luft an, zähle, atme tief aus. Das wiederhole ich ein paarmal, bis ich wieder klarsehe und mein Herzschlag sich verlangsamt.

Ganz ruhig, sage ich mir und verschränke fest die Hände, reiße mich zusammen. Sie könnten auf der Seebrücke sein, bei den Spielautomaten, die mich damals zum Lachen brachten. Gleich werde ich zurück zum Auto gehen und Rick holen, er wird wissen, wo wir suchen müssen. Wir werden jeden Winkel in diesem Postkartenidyll abgrasen.

Ich nehme mein Handy heraus und lese eine Nachricht von Hannah.

Nichts Neues hier. Ruf mich an, sobald ihr in Southwold seid.

Kurz überlege ich, mich bei ihr zu melden, nur um ihre Stimme zu hören, aber ich will ihr solange wie möglich die Hoffnung lassen. Aus demselben Grund bleibe ich wie angewurzelt stehen und gestatte mir einen minutenlangen Aufschub, bevor ich auf die Polizisten zugehe.

»Entschuldigen Sie?«

Die beiden drehen sich überrascht zu mir um.

»Ich bin Luke, der Vater des vermissten Jungen.«

»Ein vermisster Junge?«

Sie sehen sich fragend an. Der größere, etwa in meinem Alter, aber mit vorzeitiger Halbglatze, zuckt die Achseln.

»Davon wurde uns nichts gesagt.«

»Sind Sie sicher? Er ist vor einigen Stunden in London verschwunden, aber wir glauben, dass er hier in Southwold sein könnte. Die Polizei sucht auch schon nach ihm.«

Der Kahle schüttelt den Kopf. »Es hat heute Nachmittag einen Unfall am Strand gegeben, deshalb sind wir hier. Sehen Sie die rote Fahne?«

Er deutete mit dem Kinn auf die Wasserlinie, und zum ersten Mal nehme ich die Schaumkronen auf den Wellen wahr.

»Jemand ist ertrunken. Vor ungefähr einer Stunde. Eine Frau und ihr Baby sind in eine Strömung geraten und wurden hinausgezogen. Furchtbar tragisch. Sir? Alles in Ordnung mit Ihnen? Sir?«

Wenn für einen die Welt zusammenbricht, stellt man fest, dass alle Klischees zutreffen. Es wird einem schwindelig, und Bilder schießen unkontrollierbar vor den Augen vorbei wie im Zeitraffer. Die Knie geben nach, man sinkt in den Sand, die Hand aufs Herz gepresst, während oben am Himmel die Möwen kreisen und ihre Klagerufe kreischen.