Damals

Alice

Jake kocht heute für Tom, Eddie, Rick und mich und hat sich wie immer voller Elan in die Aufgabe gestürzt. Der übliche Studentenfraß wie Spaghetti bolognese oder Makkaroniauflauf kommt bei ihm nicht auf den Tisch. Es gibt Bouillabaisse aus frisch am Morgen auf dem Billingsgate Market gekauften Fisch (er ist früh um sechs aus dem Haus gegangen, damit er es noch rechtzeitig dorthin schafft) und stundenlang im Ofen gegarte Tomaten, die zu einer süßlichen, knoblauchduftenden Masse zusammengefallen sind.

Er hat eine Rouille dazu gemacht und einen grünen Salat mit extra in der Drogerie gekauftem Olivenöl, dazu getoastete und mit Knoblauch eingeriebene Weißbrotscheiben aus von Luigi gespendeten Panini vom Vortag.

»Wo hast du so kochen gelernt?«, frage ich ihn, während ich den Tisch mit den zusätzlichen Messern und Gabeln decke, die wir schnell noch in einem Trödelladen nahe des Colleges erstanden haben.

»Aus Büchern«, sagt er. »Ich habe mal ein altes Kochbuch von Elizabeth David gefunden und nachts darin gelesen, wenn ich nicht schlafen konnte. Seitdem sammele ich gebrauchte Rezeptbücher.«

Ich möchte ihn fragen, warum er nicht schlafen konnte, aber wir sind noch so frisch zusammen, und er verschließt sich immer, wenn von seiner Kindheit die Rede ist, also gehe ich darüber hinweg.

Rick kommt zu meiner Erleichterung als Erster und bringt eine Flasche Wein in weißem Seidenpapier mit, auf das er mit Filzstift Sterne und Mondsicheln und dazwischen eingestreute Smileys gemalt hat. Er trägt eine violette, weit ausgestellte Cordhose und eine weiße Folklorebluse, die er, wie er mir gestanden hat, in einer Damenboutique in der Neal Street gekauft hat.

»Eins kann ich dir sagen, ich war nicht der einzige Mann, der die Kleiderständer durchforstet hat«, meinte er. »Und sie haben nicht für ihre Freundinnen geshoppt.«

»Wow«, ruft er jetzt, als er sich in Jakes weinrot-orange-violettem Wohnzimmer umsieht. »Fetzige Hütte! Ein bisschen wie in einem Striplokal, wenn du verstehst, was ich meine.«

Sobald auch Eddie und Tom da sind, quetschen wir uns mit unseren Wassergläsern voll Mateus Rosé um den winzigen Küchentisch. Jake und ich sind jetzt seit fast drei Wochen zusammen, und ich weiß, dass er dieses Essen veranstaltet hat, damit die Jungs von der Band und ich uns ein bisschen besser kennenlernen können.

»Wir sind wie eine Familie füreinander«, sagte er zu mir. »Vor allem Eddie und ich. Wir sind in derselben Kleinstadt aufgewachsen. Es gibt nichts, das wir nicht voneinander wissen.«

Die Gelegenheit habe ich genutzt, um ihn nach Eddie zu fragen.

»Warum ist er so abweisend zu mir? Ich glaube, er mag mich nicht.«

»Wie könnte dich jemand nicht mögen?«, erwiderte Jake. »Er will mich nur beschützen. Er hat meine Familie gekannt, vor allem meinen fiesen Großvater …« Er lachte, als er das sagte, aber ich sah, wie sich sein Blick verdüsterte. »Und seitdem passt er auf mich auf.«

Offenbar hat er Eddie irgendetwas gesteckt, denn der benimmt sich heute Abend auffallend anders zu mir, stellt mir sogar Fragen übers College und mein Zuhause.

»Alice’ Vater ist offenbar ein ziemliches Arschloch«, bemerkt Jake.

»Ach ja, der Möchtegernpfarrer. Er ist Küster oder so was, stimmt’s, Alice?«, fragt Rick.

»Kanoniker. Er darf sonntags die Kommunion austeilen. Darauf steht er. Und manchmal auch die Predigt halten – und wenn nicht, predigt er meiner Mutter und mir beim Mittagessen. Er hat mal eine ganze Tirade über Soho vom Stapel gelassen. Bei ihm heißt es nur Sohodom und Gomorrha …«

Alle lachen.

»Habt ihr von dieser geplanten Schwulen- und Lesbenparade gehört?«, fragt Eddie. »Deinen Vater wird wohl der Schlag treffen, wenn er davon erfährt. Offenbar wollen sie alle zum Hyde Park ziehen und sich auf der Straße küssen und Händchen halten. Ich finde das super. Wir sollten mitmachen und unsere Solidarität zeigen.«

Bin ich die Einzige, die merkt, wie still Rick auf einmal geworden ist? Ich vermute schon längst, dass er schwul ist, doch er schweigt sich selbst mir gegenüber eisern über seine Sexualität aus.

»Bist du schwul, Rick?«, fragt Jake da ganz beiläufig, und ich halte die Luft an. Zwinge mich, Rick anzusehen, erkenne den Schock auf seinem Gesicht. Schock, Verwirrung und dann etwas anderes. Plötzlich lacht er.

»O Gott! Scheiße! Ja, ich bin schwul.« Letzteres sagt er langsam und deutlich, wie eine Bekanntmachung. »Ich habe es bisher nur noch niemandem erzählt.«

Er sieht mich an, und ich sehe ihn an. So ist es oft zwischen uns, als wäre niemand sonst dabei. Über den Tisch hinweg greife ich nach seiner Hand.

»Alice«, sagt er.

»Ich bin so stolz auf dich«, antworte ich.

Dann lachen wir alle, und Eddie klopft Rick auf die Schulter. »Gut gemacht, Mann. Verdammt, wen schert’s? Schwul, hetero, bisexuell, piepegal.«

Rick schüttelt den Kopf.

»Das war viel leichter, als ich dachte.«

»Wann hast du herausgefunden, dass du schwul bist? Oder hast du das schon immer gewusst?«, fragt Tom.

»In der Schule, so mit sechzehn oder siebzehn. Bis dahin hatte ich Poster von Brigitte Bardot aufgehängt und gehofft, dass sich bei mir was tut. Ich habe jahrelang verleugnet, wer ich bin, und meine Hoffnungen auf Heirat und Kinder und den ganzen heterosexuellen Traum gesetzt. Als wäre das je drin gewesen.«

Der Abend entwickelt sich zu einem Fest. Noch mehr Flaschen Wein werden geöffnet, und die Bouillabaisse ist zweifellos das Köstlichste, was ich je gegessen habe. Niemand von uns bringt viel mehr als ein genussvolles Stöhnen heraus, als wir unser getoastetes italienisches Weißbrot in die Tomaten-Fisch-Soße tunken. Sogar der Salat mit seinem würzigen Knoblauchdressing ist ein Geschmackserlebnis.

Nach dem Essen baut Eddie einen Joint, zündet ihn an und reicht ihn mir. »Ladies first«, sagt er mit einer ironischen Verbeugung, und ich nehme ein paar kleine Züge, ehe ich ihn weiterreiche.

Wir hören uns das neue Album von Stone the Crows an, einer Bluesrockband, deren Stern gerade am Aufgehen ist. Sie sind in kleinen Clubs aufgetreten wie die Disciples – im Rainbow Room, dem Marquee –, aber über Nacht rasend populär geworden. Tom, Eddie und Jake nehmen die Musik auseinander, diskutieren, was ihnen gefällt und was nicht, und Rick sitzt still mit einem kleinen Lächeln dabei, das sein Gesicht nicht mehr verlässt. Ich muss immer wieder zu ihm hinsehen. Den anderen ist gar nicht klar, was dieser Abend für ihn bedeutet, welchen Wendepunkt er darstellt, der ihn unwiderruflich von einer Welt in eine andere katapultiert hat.

Nachdem alle gegangen sind, lümmeln Jake und ich auf dem Sofa. »Du bist unglaublich, wusstest du das?«, sage ich. »Hast du gesehen, wie glücklich Rick war? Er ist hier rausgegangen, als wollte er die Welt erobern.«

»Nächste Mission Tom«, meint Jake. »Aber ich glaube, da haben wir noch ein schönes Stück Arbeit vor uns.«

»Du meinst, er ist auch …«

»Ich bin sicher. Nur Tom nicht. Noch nicht.«

»Es muss schwer sein, das alles mit sich allein auszumachen, diese Zweifel, die Scham, auch wenn es keinen Grund dafür gibt. Aber wenn man nicht darüber spricht, kann einem auch niemand helfen.«

»Genau das, Alice Garland«, sagt Jake und küsst mich auf Stirn, Nase, Mund, »ist die Krux. Man kann seine Dämonen nicht besiegen, wenn man sie nicht ans Licht zerrt.«

Ich staune über seinen Mangel an Selbsterkenntnis. Ausgerechnet er sagt das, der seine Traurigkeit so fest in sich verschließt. Später, im Dunkeln, nehme ich seine Hand, streiche sacht über die wulstige, vernarbte Haut auf der Unterseite seines Handgelenks und schwöre mir, dass ich eines Tages, bald, seine Dämonen hervorzerren und ein für alle Mal vertreiben werde.