Damals

Alice

Wir machen all das, was wir sonst auch machen, Charlie und ich. Spazieren zur Seebrücke, gehen ins Spiegelkabinett, um über uns selbst zu lachen, spindeldürr, kugelrund, es funktioniert immer. Ich habe auch ein paar Brotstückchen dabei, um die Möwen zu füttern, der neueste Spaß, die Vögel stoßen direkt neben dem Kinderwagen herab, und Charlie juchzt vor Begeisterung und feuert sie an.

Auf dem Nachhauseweg machen wir bei der Telefonzelle an der Hauptstraße halt. Ich rufe die Auskunft an, notiere die Nummer, die ich bekomme, und wähle sie sogleich, bevor ich es mir anders überlege. Als ich meinen Namen nenne, reagiert die junge Frau am anderen Ende, als wüsste sie sofort Bescheid. Sie klingt erfreut, aufgeregt und bittet mich, kurz zu warten.

»Hallo, Alice«, sagt Mrs. Taylor Murphy.

Ich bringe keinen Ton heraus.

»Das war sehr tapfer von Ihnen«, sagt sie. »Dass Sie versucht haben, es allein zu schaffen. Sie müssen Ihr Kind sehr lieben.«

Eine Vereinbarung wird getroffen. Morgen um elf. Niemand sonst. Keine Eltern, nur sie.

»Am Strand«, sage ich, weil wir dort am glücklichsten waren, ich, Charlie, Jake.

Als wir zurück ins Cottage kommen, vollendet Rick gerade eine Zeichnung von Charlie, wie er mit seiner kleinen Faust an der Wange schläft.

»Was denkst du?«, fragt er. »Also, ich denke an schwer verliebte junge Eltern mit zu viel Kohle. Meinst du, ich könnte ein paar Aufträge an Land ziehen?«

Dann sieht er mein Gesicht.

»Alice? Was ist?«

Ich antworte hölzern, nenne nur die Fakten. Anders geht es nicht.

»Die Frau von der Adoptionsagentur holt Charlie morgen Vormittag ab. Um elf.«

»Nein!«

Er wirft sich auf den Boden, drückt das Gesicht in den Teppich, eine melodramatische Reaktion. Doch sie ist echt, seine Verzweiflung so groß wie meine.

»Er ist auch mein Kind, das sagst du selbst dauernd!«

»Du hast mir diese Monate mit ihm ermöglicht, Rick, sie werden mir immer bleiben. Und eines Tages wird er uns wiederfinden, und dann wird er genauso zu dir gehören wie zu mir.«

Rick hockt sich auf die Knie, sieht mich aber nicht an.

»Bist du dir sicher?«

»Ja. Du musst zurück an die Slade und der Künstler werden, der du sein sollst. Und Charlie braucht Stabilität, Sicherheit, Dinge, die wir ihm nicht bieten können. Dieses Haus hier kann jederzeit verkauft werden, und wo sollen wir dann wohnen? In deiner Hausbesetzer-WG? So ein Leben will ich nicht für ihn.«

»Wie sollen wir das aushalten?«

»Eine Minute nach der anderen, wie wir es die ganze Zeit gemacht haben.«

Ich schlafe nicht viel, kauere mich ein letztes Mal an mein Baby, flüstere mit ihm im Dunkeln.

»Du wirst einen großen Garten haben zum Spielen und ein Pony zum Reiten und ein nagelneues Fahrrad. Du wirst geliebt werden und glücklich sein. Und ich werde auf dich warten.«

Am Morgen wache ich vom Geschrei der Möwen draußen auf und fühle mich seltsam ruhig. Während Charlie weiterschläft – er ist zum weltbesten Schläfer geworden –, packe ich seine Kleider, Windeln, Fläschchen zusammen und behalte ein paar von meinen Lieblingsstücken. Die kleinen orangefarbenen Shorts, ein gelb-braun gestreiftes Oberteil, seine Latzhose.

Als es Zeit ist zu gehen, reiche ich ihn Rick und sage, dass ich draußen vor dem Cottage warte. Ich will nicht dabeistehen und seinem Abschied von Charlie zusehen. Ich habe mich die ganze Nacht lang verabschiedet, seine kleine Hand in meiner gehalten. Auf Wiedersehen, mein Liebling. Auf Wiedersehen.

Auf dem Weg zum Strand hinunter, das Kind im Arm, eine Plastiktüte mit Kleidern in der Hand, will ich ein paar Grimassen ziehen, um Charlie noch einmal lachen zu hören, aber es fällt mir zu schwer, meine Gesichtsmuskeln gehorchen mir nicht. Und offenbar stimmt es, was Mrs. Taylor Murphy gesagt hat, denn mein glückliches, zufriedenes Baby ist heute still und ernst, als hätte sich meine Stimmung auf es übertragen.

Sie wartet schon und winkt, wieder in einem geblümten Kleid, aber mit flachen Schuhen diesmal und selbst recht verhalten.

Ich gebe ihr die Plastiktüte. »Das sind seine Sachen.«

Plötzlich fällt es mir ein. Sein Teddy sitzt noch auf dem Küchentisch.

»Ich habe seinen Teddybären vergessen. Den braucht er.« Ich klinge hektisch, mein Blick ist tränenverschleiert.

Mrs. Taylor Murphy legt mir eine Hand auf die Schulter.

»Ich verspreche Ihnen, dass ich ihm genau den gleichen kaufe. Sie brauchen ihn mehr als er, scheint mir.« Sie sieht mir ins Gesicht. »Sie wollen sich bestimmt noch in Ruhe verabschieden«, doch ich schüttele den Kopf, kann nichts sagen, kann nichts sehen, und wenn wir das hier auch nur noch eine Sekunde hinauszögern, bringe ich es nicht über mich.

Ich übergebe ihr Charlie, der sich an mir festklammern will, eine Haarsträhne zu fassen bekommt.

»Ich weiß, dass Sie ihn wiedersehen werden, Alice«, sagt Mrs. Taylor Murphy, während Charlie zu schreien anfängt. Sie legt eine Hand auf ihr Herz. »Das spüre ich.«

Ich sehe ihnen nach, das Blumenkleid wird kleiner und kleiner, die Plastiktüte ist nur noch ein weißer Punkt daneben. Und durch das Kreischen der Möwen hindurch höre ich mein Kind, auf das mein Gehör genauestens eingestellt ist, wie es den ganzen Weg den Strand entlang weint.