Heute

Luke

Wir wohnen in einem viktorianischen Reihenhaus mit vier Schlafzimmern in Clapham, gekauft mit dem Geld, das ich von meinem Vater geerbt habe. Niemand aus unserem Freundeskreis wohnt so, aber sie haben auch alle noch beide Eltern, während mein Vater vor zwei Jahren an einem Milztumor gestorben ist, ein schwerer, schrecklicher Tod, der mich mit meiner Mutter allein zurückgelassen hat. Unser Verhältnis war von jeher das schwierigere, und jetzt fehlen die kindischen Witze meines Vaters und seine Vorliebe für teuren Wein zur Auflockerung. Als meine Mutter erfuhr, dass Hannah nach nur drei Monaten Beziehung von mir schwanger war, bat sie uns eindringlich, »nicht diesen Fehler zu begehen«.

»Setzt eure Beziehung nicht jetzt schon so unter Druck, ihr kennt euch doch noch kaum. Ich bezahle den Eingriff in einer Privatklinik, das ist heutzutage völlig problemlos.«

Einem Adoptivkind zu einer Abtreibung zu raten – das entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Mach nicht denselben Fehler wie deine Mutter, soll heißen, ganz konkret und brutal: Tötet diesen Embryo, lasst diesen Zellklumpen ausschaben, bevor er euer Leben ruiniert. Um keine Missverständnisse entstehen zu lassen: Die Entscheidung, das Kind mit Hannah zu bekommen, fiel nicht aus Dankbarkeit für mein geschenktes Leben (ich bin 1973 geboren, und Abtreibungen waren damals schon legal und ohne Weiteres möglich). Nein, die Aussicht, ein Kind mit diesem wuschelköpfigen Mädchen aus Cornwall mit den rosigen Wangen und dem strahlenden Optimismus in die Welt zu setzen, löste nichts Geringeres als einen Glücksschub in mir aus. Ich wünschte mir ein Kind, dieses Kind, wie ich mir noch nie zuvor etwas gewünscht hatte.

Als ich nun nach diesem denkwürdigen Mittagessen nach Hause komme, wird die Tür aufgerissen, bevor ich sie aufschließen kann, so als hätte Hannah schon dahinter gewartet.

»Ach Gott«, sagt sie, nimmt meine Hand und zieht mich ins Haus. »Wie geht es dir?«

Hannahs Anteilnahme, ihre Besorgnis, ihr Interesse an mir – manchmal kann ich nicht genug davon bekommen. Ich versuche, mich ungerührt zu geben, ihr nicht zu zeigen, wie sehr ich nach dem Scheinwerferlicht ihrer Aufmerksamkeit lechze, aber innerlich bin ich wie ein Kind. Sieh mich an, Hannah, sieh mich an.

»Ganz gut, glaube ich«, sage ich und gebe ihr einen Kuss. »Wo ist der Kleine?«

»Er schläft. Komm, er wird so schnell nicht aufwachen, und ich will alles hören.«

Wir setzen uns an den Esstisch und halten uns an den Händen, wobei ich einen ersten kleinen Schub von Euphorie verspüre. Ich habe meine leibliche Mutter gefunden. Ich mag sie. Ich mag es, dass sie nun Teil meines Leben ist.

»Also, von Anfang an. Wie sieht sie aus?«

Wie beschreibt man seiner Partnerin eine andere schöne Frau? Möglichst ehrlich, beschließe ich.

»Sie ist groß und dunkelhaarig, ein echter Hingucker. Die Leute haben sich nach ihr umgedreht. Es war, wie mit Helena Christensen zu Mittag zu essen. Und ehe du fragst, nein, ich stehe nicht auf meine eigene Mutter.«

Hannah lacht.

»Wundert mich nicht, dass sie schön ist«, sagt sie, steht auf und kommt um den Tisch herum. Sie küsst mich und kneift mich in die Innenseite des Oberschenkels, was sofort eine heftige Reaktion in meinem Schritt auslöst.

»Sollten wir es nicht ausnutzen, dass er gerade so schön schläft?«

Ich schiebe meine Hände unter ihr T-Shirt und bewege sie langsam von ihrem Bauch zu ihren Brüsten hinauf.

»O Gott«, seufzt sie.

Was ich an Hannah liebe, ist, dass sie mich genauso leidenschaftlich will wie ich sie. Eine gezielte Berührung, und sie lässt alles stehen und liegen, unser Begehren ist gegenseitig und unmittelbar. Alles ein bisschen schwieriger mit einem Baby natürlich, besonders wenn dieses Baby nachts zwischen einem schläft.

Doch sie zieht meine Hände weg.

»Später«, sagt sie. »Erst muss ich alles über Alice erfahren.«

Ich berichte ihr das wenige, das meine leibliche Mutter über sich erzählt hat. Sie wohnt in Chiswick, ist Single und hat keine anderen Kinder. Sie lebt von der Malerei, fertigt Tierporträts für reiche alte Damen an.

»Und was ist mit Richard?«

Hannah ist ein eingefleischter Fields-Fan. Wir haben einen Druck von einem seiner berühmtesten Gemälde – Die Exhibitionistin – hier bei uns an der Wand hängen. Es ist das Porträt einer kleinen Angeberin, die für ihre hingerissenen Eltern tanzt. Sie ist übergewichtig und trägt ein lila Paillettentrikot und einen Zylinder. Ihre linkische Haltung verrät, dass sie nicht besonders gut ist.

»Sie sind immer noch eng miteinander befreundet. Sie telefonieren jeden Tag miteinander, sehen sich fast jede Woche. Über ihre Beziehung damals hat sie nicht viel gesagt, ich hatte den Eindruck, dass es nur eine kurze Affäre war. Er ist schließlich schwul.«

»Meinst du, er wäre zu einem Interview bereit?«, fragt Hannah und besitzt immerhin den Anstand, dabei verlegen zu lachen.

In der Kulturredaktion der Sunday Times, für die sie arbeitet, gibt es eine ungeschriebene Hitliste der meistbegehrten, aber am schwersten zu bekommenden Interviewpartner. Richard Fields steht ganz oben auf dieser Liste, und Hannah versucht seit Jahren, ein Exklusivgespräch mit ihm zu ergattern.

»Du bist eine harte, skrupellose Frau. Bedeuten dir meine jahrelangen Seelenqualen denn gar nichts?«

»Deine Seelenqualen sind der perfekte Türöffner. Er möchte doch bestimmt seinen Sohn kennenlernen? Ihr habt viel nachzuholen.«

»Ich denke, dass es erst einmal bei Alice und mir bleiben wird. Sie hat Rick nicht oft erwähnt – so nennt sie ihn, nicht Richard.«

»Darf ich sie kennenlernen?« Hannah nimmt meine Hände, küsst erst die eine, dann die andere. Ihr Enthusiasmus ist ganz anders als meiner, so direkt und unkompliziert. Sie betrachtet Alice als eine überraschende Wendung in meiner persönlichen Geschichte, als eine Möglichkeit, Licht ins Dunkel zu bringen. »Wir könnten sie zum Essen einladen. Dann kann sie Samuel kennenlernen. Ihren Enkel.«

»Das ist vielleicht noch ein bisschen zu früh für sie«, sage ich und denke, dass es auf jeden Fall zu früh für mich ist.

»Hat sie dir erzählt, was passiert ist? Warum sie dich nicht behalten konnte?«

»Nicht so richtig. Ich hatte den Eindruck, dass es zu schmerzlich für sie ist, darüber zu sprechen. Vermutlich hat er, Richard, das Kind nicht gewollt. Sie waren ja nicht ineinander verliebt oder so.«

Hannah streichelt lächelnd meine Hand. Es gibt gewisse Parallelen zwischen den beiden damals und uns jetzt, siebenundzwanzig Jahre später. Nur dass wir das Baby bekommen wollten, es behalten, es lieben wollten. Auf einmal werde ich ganz traurig, um Alice’ willen, um meiner selbst willen, um des gemeinsamen Lebens willen, das wir nie haben durften.

Wie gut erinnere ich mich noch an den Tag, als Hannah unangekündigt bei mir auftauchte, mit rotem, verheultem Gesicht. Sofort befürchtete ich das Schlimmste. Das war es, das Ende, das ich immer wieder heraufbeschworen hatte. Abgelehnt zu werden ist eine Angst, die mir in den Knochen sitzt, sosehr ich auch dagegen anzukämpfen versuche.

Doch es war das genaue Gegenteil.

»Ich bin schwanger«, sagte sie, und ich musste mich beherrschen, um nicht laut zu lachen vor Glück, denn das klang wie Musik in meinen Ohren. Ich verstand nicht, warum sie weinte.

»Ist das denn so schlimm?«, fragte ich, woraufhin sie mich einen Moment lang verwirrt ansah, ehe sich ein strahlendes Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitete und wir uns in eine Zukunft stürzten, die wir beide nicht vorausgeahnt hatten.