Heute
Luke
Adoption ist eines der letzten großen Tabuthemen. Kaum jemand spricht darüber, dass Adoptivkinder bis weit ins Erwachsenenalter hinein darunter leiden, als Kind abgegeben worden zu sein. Es ist wie eine Verschwörung, als hätten alle sich auf ein und dieselbe Meinung geeinigt: Adoption ist eine gute Sache, eine großartige Sache. Wie kann man nur etwas anderes denken?
Joel Harris, Wer bin ich? Das verborgene Trauma adoptierter Kinder
Wenn man schon überschnappt, kann man das genauso gut in der Gesellschaft von Kate Moss und Robbie Williams tun. Ich soll als ambulanter Patient im Priory behandelt werden, dem berüchtigten Rehabilitationszentrum für ausgebrannte VIPs und Sitz einiger der besten Psychotherapeuten der Stadt.
Meine Mutter fährt mich hin, in ihrem Auto mit all seinen vertrauten Fixpunkten: der am Rückspiegel baumelnden Blume, einst ein wohlriechender Lufterfrischer, jetzt nur noch ein nutzloses Stück Pappe, der zusammengefalteten Decke auf der Rückbank, der Bonbondose unter dem Handschuhfach. Samuel schläft hinten in seinem Kindersitz, seinen schielenden alten Teddy im Arm, der mir immer noch jedes Mal einen kleinen schmerzlichen Stich versetzt.
Kurze Zweifel, als sie mich vor diesem palastartigen weißen Gebäude absetzt (Türmchen, Bogen und dorische Säulen für die Promi-Klapse). Sie bietet mir an, mit hineinzukommen, doch das würde bedeuten, auch Samuel mit hineinzunehmen, und den Gedanken kann ich irgendwie nicht ertragen.
»Viel Glück, Schatz«, ruft sie mir nach, als würde ich zu einem Bewerbungsgespräch gehen oder Abi in Physik schreiben.
Das Erste, was mir auffällt, als man mich durch die Räumlichkeiten führt – Tischtennisplatten und Instantkaffee, wie im Gemeinschaftsraum der Unterstufe –, ist die Freundlichkeit der anderen Patienten. Hinter jeder Biegung wird man gegrüßt, »Hi, hallo«, wieder ein lächelndes Gesicht, ein Infrarotlaser der Beruhigung, die einheitliche, unausgesprochene Botschaft: »Lass dir von uns über die Anfangshürden helfen.« Ein bisschen so, als würde man den Moonies beitreten, schätze ich.
Mein erster Termin des Tages ist eine Gruppentherapiesitzung; allein der Begriff hätte mir früher Übelkeit verursacht. Doch ich bin zu erschöpft, zu verloren, um noch Zynismus aufzubringen.
Die im Halbkreis auf bequemen Stühlen sitzende Gruppe aus acht Leuten wird von einer Frau namens Marion geleitet, die mich vorstellt. »Hallo zusammen, das ist Luke«, worauf ein so herzliches Echo folgt, dass es mich überwältigt. Die Freundlichkeit, die Solidarität, verbunden mit der Tatsache meines Hierseins, treiben mir die Tränen in die Augen. Ich nicke lediglich zur Begrüßung, was sie zu verstehen scheinen.
»Bevor wir anfangen«, sagt Marion, »wäre es vielleicht nützlich, Luke ein bisschen zu erzählen, was wir aus diesen Gruppensitzungen mitnehmen. Wie hilfreich es sein kann, mit anderen zu sprechen.«
Eine dunkelhaarige junge Frau etwa in meinem Alter meldet sich zu Wort. »Das Tolle an Gruppentherapie ist, dass man seinen Ängsten und Sorgen Luft machen kann und feststellt, dass es anderen ganz ähnlich geht. Dadurch wird alles weniger groß, weniger bedrohlich. Man fühlt sich weniger allein.«
Die Sitzung kommt in Gang, und ich höre mal mehr, mal weniger zu, als die anderen um mich herum mit einer Unbekümmertheit über Demütigungen und Selbstsabotage reden, mit der ich höchstens einen Einkaufstrip zu Sainsbury’s plane. Nach der Hälfte gibt es eine Teepause, in der ich von neuen Freunden belagert werde. Nicht dass ich ihre Bemühungen, mich in ihren Kreis aufzunehmen, nicht zu schätzen wüsste, aber dünnhäutig, wie ich bin, ist es mir fast ein bisschen zu viel. Alle sind so gottverdammt taktvoll. Niemand fragt mich, warum ich hier bin, sie sind geübt darin, heiße Eisen zu umgehen. Die Dunkelhaarige sagt, sie hätte die gleichen Reeboks wie ich zu Hause, nur in Grau. Eine Frau namens Kate witzelt, dass der Instantkaffee hier toll dafür sei, sich die Starbucks-Sucht abzugewöhnen. »Wir werden ein Vermögen sparen, wenn wir hier rauskommen.«
Nach der Pause fragt Marion mich, ob ich bereit sei, der Gruppe etwas von mir zu erzählen.
»Kein Druck, du brauchst uns noch nicht zu sagen, weshalb du hier bist. Wir freuen uns, wenn wir einfach irgendetwas von dir erfahren.«
»Ich mag es nicht, angestarrt zu werden«, sage ich, schmorend in den heißen Scheinwerfern von acht Augenpaaren.
»Wer mag das schon«, sagt Marion. »Aber die oberste Regel bei diesen Sitzungen lautet, Unterstützung vorauszusetzen. Wenn wir dich ansehen, dann um dir den Rücken zu stärken.«
»An meinem ersten Tag«, sagt die Dunkelhaarige, die Lisa heißt, wie ich inzwischen weiß, »wollte ich die Sachen aufzählen, die ich mag. Mir fiel nur eine einzige ein, dunkle Schokolade.«
»Musik«, sage ich. »Ich arbeite in der Musikindustrie. Ich höre den ganzen Tag irgendetwas. Manchmal denke ich, dass ich mich nur durch die Musik ausdrücken kann. Als könnte ich mich nur mit Emotionen identifizieren, die andere schon vor mir hatten.«
»Das ist interessant«, sagt Marion. »Was magst du für Musik?«
»David Bowie. Die Stones. Die Doors. Die Siebziger sind meine Ära, ich weiß selbst nicht, warum. Bob Dylan. Led Zeppelin. The Who …«
Bei Pink Floyd klappe ich zusammen. Ich denke daran, wie Alice mir erzählt hat, dass sie die Band während ihrer Tour mit The Dark Side of the Moon erlebt hat, und plötzlich wird mir klar, dass sie mit Jacob dort gewesen sein muss. Eine Vision der beiden in Paisleyhemden und Schlaghosen, high von Bier und Gras, im Rausch ihrer jungen Liebe.
Noch etwas, das ich nicht über Gruppenarbeit wusste: Wenn man ins Wanken gerät, springt niemand auf, um einen zu trösten, niemand sagt etwas. Sie lassen dich deine Krise durchleben, und zu meiner sind wir ziemlich schnell gekommen.
»Mein Vater war Musiker«, stoße ich keuchend hervor. »Mein leiblicher Vater. Er hat sich ein paar Tage vor meiner Geburt umgebracht.«
Zu weinen, ohne Trost gespendet zu bekommen, eine neue Erfahrung für mich. Die Gruppe betrachtet mich schweigend, ohne sich einzumischen. Selbst Marion lässt sich Zeit, bevor sie etwas sagt.
»Du wünschst dir sicher, ihn gekannt zu haben.«
»Das wünsche ich mir mehr als sonst etwas. Ich ahne irgendwie, dass er mir ähnlich war und mich verstanden hätte. Ich bin nämlich adoptiert, und ich fühle mich …«
Eine Pause, während ich darum ringe auszusprechen, was mein ganzes Leben erklärt.
»Ich fühle mich, als würde ich nirgends dazugehören.«