Damals

Alice

Hatte mein Vater das Haus beobachtet, darauf gewartet, dass Jake ging, unseren ausgedehnten Abschied vor der Europatour unten an der Tür verfolgt? Hatte er gesehen, wie Jake sich hinhockte, um meinen Achtmonatsbauch zu küssen – »Tschüss, Baby, sei brav und komm nicht raus, bevor ich zurück bin« –, oder wie wir uns einen letzten Abschiedskuss gaben, der länger dauerte als irgendeiner, an den ich mich erinnern kann?

Der Gedanke daran, so lange getrennt zu sein, ist für uns beide unerträglich. Für Jake, weil er ganz besessen von diesem letzten Drittel der Schwangerschaft und der bevorstehenden Geburt ist. Für mich, weil ich trotz seiner Bemühungen, es zu verbergen, spüre, dass sich die Dunkelheit bei ihm eingeschlichen hat; Phasen des Schweigens, die zu lange dauern, eine Lustlosigkeit, die vollkommen untypisch für ihn ist. Abgesehen von dem Gig im St Moritz hat er die Finger vom Alkohol gelassen, aber ich mache mir trotzdem Sorgen, dass er sich schaden könnte, wenn ich nicht dabei bin und auf ihn achte.

»Pass auf, dass er nicht trinkt«, hatte ich Eddie bei unserem letzten Treffen eingeschärft.

Eddie zuckte nur die Achseln.

»Ich versuch’s. Du weißt ja, wie er ist.«

Als wir uns endlich voneinander lösen, sehe ich Jake mit schwerem Herzen nach, wie er durch die Dean Street davongeht.

Zurück in der Wohnung laufe ich ziellos herum und nehme Dinge in die Hand, die ihm gehören. Das halb gelesene Buch an seiner Bettseite – Angst und Schrecken im Wahlkampf, Hunter S. Thompsons beißende Reportagen über Nixons zweiten Sieg bei den Präsidentschaftswahlen. Jake, Eddie, Tom, Rick und ich und überhaupt alle, die ich kenne, verabscheuen Nixon und die Fortsetzung des Vietnamkriegs, das sinnlose Töten. Jakes schwarze Kampfstiefel, rechtwinklig zueinander hingeworfen, scheinen noch etwas von seinem Wesenskern zu enthalten. Ich starre gerade darauf und überlege, ob ich sie zeichnen soll, als es an der Tür klingelt. Es dauert einen Augenblick, bis ich es richtig registriere. Gleich darauf klingelt es erneut, länger, beharrlicher.

Auf dem Weg ins Treppenhaus nehme ich einen Apfel aus der Obstschale, einen ungewöhnlich schneewittchenartig roten, und beiße hinein, in Gedanken bei Jake und wie sehr ich ihn jetzt schon vermisse. Unten reiße ich die Haustür auf, und dort auf der Eingangsstufe, in schwarzem Hemd und schwarzer Hose, seiner bevorzugten Kluft eines Kirchenmanns außer Dienst, steht mein Vater. Der Apfel fällt mir aus der Hand, kullert über die Schwelle und bleibt vor seinen Füßen liegen.

»Willst du mich nicht hineinbitten in euer Liebesnest?« Sein Mund zuckt spöttisch.

Ich bin im achten Monat schwanger, kein Jake oder Rick da, um mich zu beschützen; allein mit diesem Mann, der mich gedemütigt und schikaniert hat, seit ich denken kann. Trotzdem sage ich nicht Nein, ich schlage ihm nicht die Tür vor der Nase zu und schließe zweimal von innen ab. Ich trete beiseite und lasse ihn in den dunklen Hausflur, in dem Jake mich damals so leidenschaftlich geküsst hat, dass mein Skizzenbuch zu Boden fiel.

Er folgt mir nach oben in unsere Wohnung, in den bunt dekorierten Raum, der mein Zuhause geworden ist.

»Du lieber Gott«, sagt er, »das ist ja noch schlimmer, als ich dachte. So stelle ich mir ein Bordell vor.«

»Das ist gerade modern, aber so was hat sich wohl noch nicht bis Essex herumgesprochen.«

»Da man mit dir kein anständiges Gespräch führen kann, komme ich gleich zur Sache. Setz dich, Alice.«

»Ich bleibe lieber stehen.«

»In deinem Zustand?« Wieder dieses abfällige Zucken. »Wie du willst. Also, deine Mutter und ich möchten, dass du dieses Kind adoptieren lässt, damit du weiterstudieren und deinen Abschluss machen kannst. Schließlich kommst du gut voran, nicht wahr, wie man in den Zeitungen liest. Du wirst noch Zeit genug haben für Kinder mit diesem Musiker, falls du das wirklich willst. Aber du darfst deine Zukunft nicht aufs Spiel setzen, das werden wir nicht zulassen. Du bist noch nicht einmal zwanzig, dir stehen so viele Möglichkeiten offen.«

»Seit wann interessierst du dich für meine Möglichkeiten? Ich dachte, ich bin eine Enttäuschung für dich, was das Studium angeht und überhaupt.« Ich lege die Arme um meinen Bauch beim Sprechen, zum Trost, als Stütze, aber eigentlich bin ich ganz ruhig. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich keine Angst vor ihm.

Mein Vater hat seine Ledermappe bei sich, so ein Ding mit Reißverschluss, das er überall mit sich herumschleppt. Ich sehe zu, wie er sie öffnet und irgendwelche Unterlagen herausholt.

»Willst du dich wirklich nicht setzen?«

Er ist Ende vierzig, sieht aber viel älter aus. Seine Haare sind noch schütterer geworden, seit ich ihn zuletzt gesehen habe, pomadige Strähnen über den kahlen Kopf gekämmt, und seine untere Gesichtshälfte wird von dem zu fleischigen Kinn abwärts gezogen.

»Nein, danke.«

Er gibt mir die Unterlagen.

»Lies dir mal diese Formulare durch. Ich habe mir die Mühe gemacht, Kontakt zu einer Adoptionsagentur aufzunehmen, sie hat einen ausgezeichneten Ruf. Man wüsste dort schon ein infrage kommendes Ehepaar, respektable, gut situierte Leute in Yorkshire, die ideal wären. Wenn du und dein … dein Liebhaber euch also entschließen solltet, das Kind abzugeben, was meiner Ansicht nach …«

Mein Schrei, lang gezogen und schrill, überrascht ihn genauso wie mich selbst.

»Raus! Mach, dass du rauskommst!«

»Du meine Güte, werde jetzt nicht hysterisch.«

»Wie kannst du es wagen? Wie kannst du es wagen, du verdammtes Arschloch?«

Mein Vater schlägt mich mit dem Handrücken heftig ins Gesicht, knapp unter das linke Auge, ein klatschendes Geräusch von Fleisch auf Fleisch. Ich gehe zu Boden, er reißt mich hoch.

»Du vulgäre kleine … Hure

Bösartige Augen, die aus den Höhlen treten, violette Gesichtsfarbe eines Alkoholikers. Ich habe meinen Vater schon oft jähzornig erlebt, aber das ist das erste Mal, dass er mich geschlagen hat. Die Brutalität des Schlags und die Wortwahl seiner Beleidigung offenbaren die Tiefe seines Hasses.

Ich wende mich von ihm ab und werfe mich aufs Sofa, vergrabe mein Gesicht in den Kissen. Das ist alles zu viel.

»Geh einfach.«

Als ich mich zwinge, den Kopf zu heben, steht er immer noch da und starrt mich voll Abscheu an.

»Du wirst jetzt sofort gehen«, sage ich langsam und deutlich, »oder ich rufe die Polizei. Du bist hier nicht erwünscht.«

Ich lege die Hände um meinen Bauch. Der Fall wird dem Baby nicht geschadet haben, denke ich, aber was ist mit all den Giftstoffen durch Stress und Wut in meiner Blutbahn?

Mein Vater zeigt noch einmal auf die Papiere.

»Ich rate dir, dir das anzusehen«, sagt er, und dann halte ich die Luft an, bis ich die Wohnungstür hinter ihm ins Schloss fallen höre.

Wie viele Stunden vergehen? Eine, zwei? Ich sitze regungslos auf dem Sofa, zu bestürzt und niedergeschlagen, um zu weinen. Ich vermisse Jake schmerzlich, aber ich werde ihm nichts von diesem Auftritt meines Vaters erzählen. Auf keinen Fall werde ich ihn mit Dingen belasten, die ihn herunterziehen könnten. Wenn er unterwegs auf Tour ist, habe ich keinen Einfluss auf ihn. Ich kann nur darauf achten, dass unsere Telefongespräche positiv verlaufen und er ruhig und zuversichtlich auflegt.

»Was ist los?«, fragt Rick, als ich ihn schließlich anrufe.

Ich schlucke, bringe im ersten Moment keinen Ton heraus.

»Mein Vater war hier.«

»Was wollte der Mistkerl?«

Rick kennt meinen Vater als Haustyrann, nicht als Schläger. Ich kannte ihn bisher selbst nicht so. Doch das ist egal, es spielt keine Rolle. Ich bin ein bisschen benommen deswegen, das ist alles.

»Kannst du herkommen?«

»Bin schon unterwegs.«

Ich habe noch gar nicht daran gedacht, in den Spiegel zu schauen, aber als ich die Tür öffne, macht Rick einen Schritt rückwärts und schreit auf.

»Alice! Dein Gesicht!« Dann gibt er eine Reihe von Lauten von sich, die ich noch nie von ihm gehört habe, eine Art Keuchen und Fiepen, das sich als Weinen herausstellt.

Wir setzen uns mit einer Schüssel voll Eis und Wasser aufs Sofa, und Rick drückt einen Waschlappen auf meine geschwollene Wange. Die Tränen laufen ihm übers Gesicht, bis ich sage: »Damit hilfst du mir nicht wirklich, weißt du.«

»Du hast recht, entschuldige. Aber ich finde es so widerlich, dass er das gemacht hat, kaum dass Jake weg ist. Er wird deinen Vater umbringen, wenn er davon erfährt.«

»Er darf es nicht erfahren. Das musst du mir versprechen, Rick. Er könnte nicht damit umgehen.«

»Ich glaube, du unterschätzt ihn manchmal.«

»Kaum. Hast du vergessen, wie er bei der letzten Krise fast eine Woche lang versackt ist? Er ist so anfällig, ich begreife jetzt erst langsam, wie sehr. Und ich mache mir Sorgen, weil er so lange weg sein wird.«

»Du musst aufhören, dich so zu stressen, das kann nicht gut sein für das Baby.«

»Ich möchte nur, dass er wieder nach Hause kommt.«

»Wird er ja auch. Und jetzt wollen wir deinen Vater vergessen, und du machst dir keine Sorgen mehr um Jake, ja? Wie wär’s, wenn wir irgendetwas Normales, Alltägliches machen, nur wir zwei?«

Er zündet alle Kerzen im Wohnzimmer an wie Jake sonst, sodass eine warm schimmernde, orangerote Höhle daraus wird. Dann kocht er Tee in der cremeweißen Kanne mit Goldmuster, die ich auf dem Portobello Market gekauft habe, und geht den Plattenstapel durch, entscheidet sich für The Dark Side of the Moon, genau das Richtige.

Während wir den Tee trinken, blättert er in unserem Buch mit Vornamen und liest mir die absonderlichsten vor. Jake und ich haben schon zwei ausgesucht: Charles, wenn es ein Junge wird, und Charlotte, wenn wir ein Mädchen bekommen, beide zu Charlie abgekürzt. Doch ich spiele mit, als Rick Aristoteles und Prospero vorschlägt, Cassiopeia für ein Mädchen.

Bald muss ich kichern und habe den Horror von heute beinahe vergessen, trinke Tee, höre Musik und lache zusammen mit meinem besten Freund, der »alltäglich« auf das Schönste interpretiert hat.

Das letzte Stück Normalität in meinem Leben, wie sich herausstellen sollte.