Heute

Luke

Die seelischen Verletzungen eines Adoptivkinds haben ihren Ursprung bereits in den frühen Jahren der Kindheit. Es wird beherrscht von dem Gefühl, dass »etwas mit mir nicht stimmt, ich eine Enttäuschung bin, es nicht wert bin, behalten zu werden«. Mit der Zeit kann diese latente Unsicherheit eine gefährliche Macht entwickeln.

Joel Harris, Wer bin ich? Das verborgene Trauma adoptierter Kinder

Hannah hat einen neuen Namen für mich.

»Der Mann mit den zwei Müttern«, sagte sie vergangene Nacht im Dunkeln und legte mir über das Baby hinweg eine Hand aufs Bein.

Heute, da meine Mutter Christina sich übers Wochenende angekündigt hat, erscheint er mir besonders passend.

Beim Nachhausekommen sehe ich ihren dunkelblauen Golf mit gemischten Gefühlen vorm Haus stehen. Wir tragen beide, denke ich oft, einen unterschwelligen Groll mit uns herum: ich, weil ich dankbar für meine Rettung sein muss, sie, weil ich nicht ihr Wunschkind bin. Ihr einziges leibliches Kind war im letzten Schwangerschaftsmonat tot geboren worden, und ich glaube, das hat sie nie verwunden.

Ich treffe sie in der Küche an, wo sie mit Samuel über der Schulter im Kreis herumgeht. Wie eine Säuglingskrankenschwester will sie ihn dazu bringen, Bäuerchen zu machen, so vermute ich zumindest, denn ich bin noch nie einem dieser Fabelwesen begegnet (die ich mir massig und humorlos vorstelle, mit gestärkter weißer Haube.)

»Hallo, Liebling«, sagt sie, und wir deuten mit dem Kleinen zwischen uns einen Luftkuss an.

Hannah, die am Küchentisch sitzt, strahlt nur ein Viertel ihrer üblichen Präsenz aus. Das fällt mir immer als Erstes auf, wenn die beiden wichtigsten Frauen in meinem Leben zusammenkommen – wie meine Mutter meine Freundin auslaugt, bis ich sie kaum wiedererkenne. Sie begrüßt mich mit einem schwachen »Hi«, woraus ich sofort schließe, dass etwas nicht stimmt.

»Wann bist du angekommen?«, frage ich Christina, um Zeit zu gewinnen und mir die mögliche Katastrophe zusammenzureimen.

»Ach, so um die Mittagszeit. Hannah war auf dem Stuhl da eingeschlafen, und Samuel ist ihr praktisch vom Schoß gerutscht. Also habe ich sie überredet, sich ins Bett zu legen, während ich auf das Baby aufpasse.«

Ein kurzes Schweigen folgt, das meine Mutter mit der Bemerkung beendet: »Ich kann es nicht glauben, dass Samuel bisher noch nie in seinem Kinderbett geschlafen hat. Ihr zwei seid zu komisch. Er hat das Haus zusammengeschrien.«

Ich sehe Hannah nicht an, ihr tragischer Blick wird mich fertigmachen, das weiß ich. Eins der vielen Dinge, in denen wir übereinstimmen, ist unsere Einstellung zur Kindererziehung. Dieses Baby – unser Sohn, unserer allein – soll niemals weinen müssen, nicht, solange wir es verhindern können. Er soll sich geborgen und sicher fühlen, in einem Nest aus Vertrauen, gewiegt von unserem Herzschlag. Keine Psychoanalyse nötig – ich wurde aus den Armen meiner leiblichen Mutter gerissen und in eine fremde Umgebung versetzt, wo ich, wie Christina mit einem bemerkenswerten Mangel an Feingefühl gern erzählt, »die ersten Wochen nur geschrien und geschrien« habe. Sagen wir einfach, ich wurde physiologisch darauf programmiert, das Geräusch eines schreienden Babys zu verabscheuen.

»Mum, ich habe dir doch gesagt, dass Samuel nicht in dem Gitterbett schlafen mag.«

Ich unterdrücke den Impuls, meinen Sohn an mich zu reißen, und nehme mir stattdessen ein Bier aus dem Kühlschrank.

»Okay, Aperitif«, sage ich. »Was möchtest du, Mum? Ich glaube, es ist noch Gin von deinem letzten Besuch übrig.«

Meine Mutter wird achtundvierzig Stunden hier sein, und ich weiß jetzt schon nicht, was ich mit ihr reden soll. Die Unterhaltung verläuft nie so ungezwungen, wie wenn Hannahs Eltern aus Cornwall zu Besuch kommen – all die schönen, beschwipsten Abende, an denen viel gelacht wird und alle gleichzeitig drauflosreden. Anfangs, als ich ihre Familie kennenlernte, war ich regelrecht schockiert, weil ich das unhöflich und respektlos fand. Hören die einander nie zu?, dachte ich, während sie und ihre Schwestern einander ins Wort fielen und von einem Thema zum nächsten sprangen, keinen Satz beendeten und jeden Ernst, wo es nur ging, auch bei den traurigsten Geschichten, mit fröhlichem Gelächter vertrieben. Und dann dieses Angefasse, du lieber Gott, so etwas hatte ich noch nicht erlebt. Ständig wurde sich bei anderen auf den Schoß gesetzt, über Köpfe gestreichelt und Händchen gehalten. Diese Leute waren so verdammt berührungsfreudig, und das bekam ich auch zu spüren. Maggie, Hannahs Mutter, umarmte mich gleich, als ich ihr vorgestellt wurde, was die anderen dazu ermutigte, mich in die Wange zu kneifen oder mir durch die Haare zu wuscheln. Peter, der Vater, schlug mir regelmäßig spielerisch vor die Brust, und Eliza, Hannahs jüngere Schwester, setzte sich, was ich leicht irritierend fand, gern bei mir auf die Knie. Wenn man zwei vollkommen gegensätzliche Familien miteinander vergleichen wollte, würden unsere beiden sich dafür hervorragend eignen.

Während ich einen Gin Tonic mixe und die Zutaten dafür aus dem Kühlschrank hole und auf den Küchentisch werfe, merke ich, dass ich automatisch auf höchste Alarmstufe geschaltet habe, eine Reaktion, die auf meine Kindheit zurückgeht. Sich immer schön beschäftigen, um keine Probleme zu bekommen, lautete meine Maxime. Die Probleme wurden dadurch hervorgerufen, dass ich ständig im Zentrum der Aufmerksamkeit meiner Mutter stand und jederzeit Gefahr lief, zu irgendwelchen als sinnvoll erachteten Aktivitäten gezwungen zu werden. »Willst du nicht mal rüber zu Andrew radeln und ihn fragen, ob er mit dir Brombeeren sammeln geht? Wir könnten dann zusammen einen Kuchen backen.« (Ich war vierzehn zu der Zeit.) »Rufen wir doch die Mädchen vom Gutshof an und laden sie zu einer Partie Karten ein.« (Zwei Schwestern, die so schön und cool waren, dass ich mich lieber eigenhändig kastriert hätte, als sie anzurufen.)

Meine Mutter ist eine gute Frau, und ich liebe sie, auch wenn es eine Liebe wie aus dem psychologischen Lehrbuch ist, nämlich überlagert von Schuldgefühlen, Dankbarkeit und Frustration. Kompliziert, wie gesagt.

Beim Abendessen kommt es zu einem weiteren Schreckmoment, als sich herausstellt, dass sie in unserem Namen bei einer Nanny-Agentur angerufen und für morgen zwei Tagesmütter zum Gespräch eingeladen hat. Von Einmischung zu reden wäre noch untertrieben.

»Seid mir nicht böse«, sagt sie, unser fassungsloses Schweigen richtig deutend. »Aber du willst ja bald wieder arbeiten, Hannah, und es kann einige Zeit dauern, bis man die richtige Person gefunden hat. Ich dachte, ihr wärt vielleicht froh über eine zweite Meinung.«

»Ach, Christina«, sagt Hannah und hat plötzlich Tränen in ihren schönen Augen, »ich kann den Gedanken gar nicht ertragen, Samuel allein zu lassen, jetzt jedenfalls noch nicht.«

Meine Mutter tätschelt ihr die Hand.

»Falls du es dir anders überlegst, was das Arbeiten angeht, sorge ich dafür, dass ihr finanziell nicht darunter zu leiden habt.«

Aus wohlmeinenden Gründen findet Christina, dass Hannah zu Hause bleiben und Vollzeitmutter sein sollte. Sie versteht die Höllenqualen nicht, die furchtbare Zerrissenheit, die es für eine Frau wie Hannah bedeutet, sich zwischen ihrem geliebten Beruf und unserem wunderbaren Jungen entscheiden zu müssen.

Am nächsten Morgen also die Bewerberinnen, die erste um Viertel nach zehn. Meine Mutter hat vorher geputzt, und das Haus sieht aus, als gehörte es anderen Leuten. Sie hat jedes bisschen Unordnung beseitigt, jeden herumliegenden Gegenstand irgendwo untergebracht – die Windeln in den neuen Schrank, die Turnschuhe säuberlich aufgereiht unter der Treppe – und sogar Blumen gekauft (Lilien, die Hannah wegen ihres starken Geruchs nicht mag).

Es ist schon beinahe komisch, wie wir beide auf Anhieb eine Abneigung gegen Nicole, die erste Betreuerin, verspüren, noch bevor sie ihren Mantel ausgezogen hat. Als würde sie jedes Kreuz in ein falsches Kästchen setzen.

Gleich als Erstes zeigt sie sich verwundert darüber, dass Samuel auf seinem Schaffell mitten auf dem Boden schläft, und wirft einen Blick auf ihre Armbanduhr.

»Das ist jetzt sein Vormittagsschläfchen, oder? Meinen Sie nicht, er würde in seinem Kinderbett länger schlafen?«

»Sie legen den kleinen Wurm nie in sein Bettchen«, sagt meine Mutter lachend. »Sie schleppen ihn überall mit sich herum und wundern sich dann, dass sie völlig erschöpft sind.«

Es folgt eine knappe Diskussion über Gina Ford, die im vergangenen Jahr ein Buch über die Erziehung von Babys veröffentlicht hat. Das erste Geschenk meiner Mutter zur Geburt war Das zufriedene Baby, in dem frühes Wecken, strikt geregelte Schlaf- und Fütterungszeiten und kontrolliertes Weinenlassen befürwortet werden. Nicole schwört auf Gina Ford, weshalb es wenig Sinn hat, dass sie sich überhaupt hinsetzt.

Meine Mutter stellt die Fragen, die Bewerberin gibt die korrekten Antworten – bescheinigte Ersthelferin, kürzlich aufgefrischt, tadellose Referenzen, Erfahrung mit Neugeborenen –, während Hannah und ich uns mit Blicken verständigen. Als ich meine Freundin so sehe, wie sie in ihrem Sessel lümmelt und Nicole mit gespielter Gleichgültigkeit straft, wird mir klar, dass uns das alles völlig egal sein kann. Hannah, ich und Samuel, unser kleiner Dreierclan gegen die Welt.

Die nächste Kandidatin, Carla, mögen wir sogar. Sie ist in Buenos Aires aufgewachsen, wo sie sich um ihre sechs Geschwister gekümmert hat, während ihre Eltern arbeiteten. Sie stürzt sich sofort auf Samuel, der inzwischen wach ist und zögerlich lächelt, und fragt, ob sie ihn hochheben darf.

Diesmal stellen wir die Fragen, Fangfragen eigentlich, und Carla besteht den Test mit Bravour.

»Finden Sie es richtig, ein Baby manchmal weinen zu lassen?«

»Meine Babys weinen fast nie. Ich wickele sie in ein Tragetuch, damit sie mich spüren. Sie sind glücklich.«

Sie lacht viel und küsst Samuel auf die Wange, ohne uns zu fragen, ob das okay ist. (Ist es.)

Nachdem sie gegangen ist, sagt meine Mutter: »Ihr mochtet sie, das habe ich gemerkt«, doch Hannah schüttelt den Kopf.

»Ja, aber nicht genug. Ich kann mir nicht vorstellen, Samuel bei ihr zu lassen. Ich kann mir nicht vorstellen, Samuel bei irgendwem zu lassen, Punkt.«

Als sie ihr verschlossenes Gesicht sieht, ist meine Mutter klug genug, nicht weiter zu insistieren.

»Ihr werdet schon jemanden finden, wenn ihr so weit seid«, meint sie. »Und wenn ich euch anfangs mal aushelfen soll, braucht ihr es nur zu sagen.«

Ein Nachmittag im Park, ein knoblauchlastiges Brathähnchen zum Abendessen, und dann ein angespannter Abend vor dem Fernseher mit unserer neuesten DVD, American Beauty. Bei der Masturbationsszene unter der Dusche am Anfang lacht niemand.

Gegen Ende des Films vermeldet mein Handy den Eingang einer SMS, und ich nehme es gleichgültig zur Hand, bis ich sehe, von wem sie ist. ALICE. Ihr Name in flammend roter Warnschrift. Mein Herz in der Hose. Meine Mutter ahnungslos. Meine Adoptivmutter. Meine wahre Mutter, ungeachtet der verwirrenden Begrifflichkeit. An Schuldgefühle bin ich gewöhnt, aber das ist noch etwas anderes. Als würde ich sie hintergehen.

Luke, lautet die Nachricht, wollen wir bald mal wieder zusammen essen? Ich würde mich freuen, dich zu sehen!

Später im Schlafzimmer zeige ich sie Hannah, die impulsiv ruft: »Prima, laden wir sie doch zu uns ein!«, bevor sie sich die Hand vor den Mund schlägt. Christina, die Frau, die mich großgezogen hat und seit siebenundzwanzig Jahren meine Mutter ist, liegt im Zimmer nebenan.

Als ich noch ein Kind war, wurden die Umstände meiner Geburt und Adoption kaum je erwähnt. Ich erinnere mich allerdings daran, wie meine Mutter einmal zu einer ihrer Freundinnen sagte: »Ach, Luke hat überhaupt kein Interesse daran, seine leibliche Mutter zu finden. Er ist kein bisschen neugierig, was das angeht.«

Mein Leben war bereits für mich vorgezeichnet, sorgfältig ausgearbeitet und abgesteckt wie auf einem Reißbrett. Bitte sehr, Luke, hier ist der Plan, nicht nötig, davon abzuweichen. Fragen? Warum um alles in der Welt solltest du welche haben? An meinem ersten Tag in der Privatschule bemerkte meine Mutter ganz beiläufig: »Übrigens, ich würde nicht erwähnen, dass du adoptiert bist. Die Leute machen gern unnötig viel Aufhebens darum.«

Ich hörte die Botschaft heraus: Verschweig deine Herkunft lieber, und das tat ich auch größtenteils. Ich war ein gehorsames Kind damals und wollte in der Schule unbedingt dazugehören.

»O Gott«, sagt Hannah, »das ist ja alles so kompliziert.« Ich spüre ihre Hand auf meinem Bein. »Dir ist klar, dass du es ihr irgendwann sagen musst, oder?«

Was? Meiner Mutter von meiner Mutter erzählen? Schon der Gedanke daran ist absurd.

Christina, fürchte ich, würde sich von Alice komplett an die Wand gedrängt fühlen. Denn an ihr nagt im Grunde derselbe Zweifel wie an mir, dieselbe unbeantwortete Frage: Ist die genetische Bindung, die aus Fleisch und Blut, eine andere? Ist sie stärker, enger, natürlicher? Insgeheim vermuten wir beide, dass es so ist.

Hannahs scherzhafter Titel kommt mir passender vor denn je. Der Mann mit den zwei Müttern, ja, das bin ich.