Heute
Luke
London, 2000
Die Frau, die da schüchtern und abwartend vor mir steht, ein Spiegelbild meiner eigenen Verlegenheit, ist so überraschend schön, dass mir im ersten Moment die Worte fehlen.
»Hallo, Alice«, stoße ich hervor.
»Luke.«
Sie sagt meinen Namen, als würde sie eine Fremdsprache ausprobieren. Ich will ihr die Hand geben, doch sie zieht mich in eine rasche, feste Umarmung. Dann setzen wir uns an einen Tisch, der schon mit Besteck, Gläsern und einem Krug Wasser gedeckt ist.
»Wasser?«, frage ich und merke beim Anheben des Krugs, dass meine Hand zittert.
»Wein«, sagt Alice, und dieses erste Lächeln, bei dem mir ihre weißen Zähne auffallen und die Fältchen um ihre Augen, die ihr tatsächliches Alter verraten, berührt irgendwie mein Herz.
Nachdem der Wein bestellt und die Speisekarte verlangt worden ist, gibt es nichts weiter zu tun, als sich anzuschauen. Alice hatte ihrem Brief aktuelle Fotos von sich beigelegt, weshalb ihre Schönheit mich nicht derart verblüffen sollte. Offenbar muss sie mein Aussehen aber auch erst einmal verarbeiten.
»Du siehst deinem Vater so ähnlich, ich bin total … überwältigt.«
»Richard Fields? Er ist der Lieblingsmaler meiner Freundin. Wir konnten es kaum fassen.«
Etwas zuckt über Alice’ Gesicht, Schmerz oder Kummer, aber sie fängt sich schnell wieder.
»Was hat dich dazu gebracht, mich zu suchen?«
Ich denke daran, wie oft ich kurz davor stand. All die Jahre, in denen ich als kleiner Schüler auf dem Rugbyfeld zur Seitenlinie hinübergeblickt und mich gefragt habe, ob meine echte Mutter unter den dort versammelten Frauen ist: die Blonde in dem Pelzmantel, die Dunkle mit dem Pferdeschwanz. Später als Teenager, wenn ich mich nach einem weiteren Streit mit meinen Eltern in mein Zimmer eingeschlossen und wütend aufs Bett geworfen hatte, mit dem Gedanken tröstend, dass meine echte Mutter, der Mensch, zu dem ich eigentlich gehörte, ganz anders ist. Und dann, nachdem ich Hannah begegnet war, die ewigen Fragen: »Willst du sie nicht mal kennenlernen? Willst du denn nicht wissen, wie sie ist?«
Hannahs Neugier, die das Rätsel meiner Herkunft fasziniert, war tatsächlich eine treibende Kraft hinter dieser unverhofften Wiedervereinigung. Doch der wahre Grund, mein kleiner Sohn mit den braunen Augen und den langen Wimpern, liegt gerade ein paar Kilometer von hier in den Armen seiner Mutter.
»Ich glaube, es war Samuels Geburt.«
»Ja, das kann ich mir vorstellen«, sagt Alice.
Ich sehe sie Tränen hinunterschlucken und habe kein schlechtes Gewissen. Sie hatte einen Sohn und hat ihn weggegeben. Nun, da ich selbst Vater bin, kann ich das noch weniger verstehen.
»Wie alt ist er?«
»Drei Monate.«
Alice legt die Hand auf ihre Herzgegend, als müsste sie eine Wunde zusammendrücken.
»Oh«, macht sie, und es klingt wie ein Keuchen. »Ich glaube, das hier wird schwerer als gedacht.«
Wir sehen uns an, diese Frau und ich, und wollen beide am liebsten davonlaufen, werden jedoch von dem einladend gedeckten Buchentisch daran gehindert, von dem Gebot der Höflichkeit, dieses vorschnell verabredete (nachhaltig bereute?) Mittagessen irgendwie durchstehen zu müssen.
»Ist schon gut«, sagt sie mit einem knappen, bemühten Lächeln und scheint bewusst in die Rolle einer Erwachsenen, eines Elternteils, zu schlüpfen. »Wenn wir es langsam angehen lassen, schaffen wir das. Fangen wir mit etwas Einfachem an. Erzähl mir von deiner Freundin.«
Ich habe Hannah auf einer Vernissage unseres gemeinsamen Freunds Ben kennengelernt, der tatsächlich den mutigen Entschluss gefasst hat, sein Leben voll und ganz der Malerei zu widmen. Er hält sich mit staatlichen Almosen über Wasser, schläft auf irgendwelchen Sofas und arbeitet die Nächte durch, um ungewöhnliche, höchst originelle Porträts hervorzubringen, die eigenartigerweise schon mit den Bildern von Richard Fields verglichen wurden. Hannah sollte etwas über Ben für ihre Zeitung schreiben, und ich beobachtete sie, wie sie mit ihrem Notizblock durch die Galerie ging und vor jedem Bild einen Moment stehen blieb, bevor sie ihre Gedanken notierte. Ich fragte mich, was sie wohl schrieb. Wer sie war. Ob sie Single war. Mir gefiel es, wie ihre dichten dunklen Locken ihr ins Gesicht fielen und ihre Augen verdeckten. Sie strich sich ständig eine Strähne hinters Ohr, die sich aber gleich darauf wieder löste.
Als ich sie dann mit Ben sprechen sah, er in einem ungewohnten Anzug zu seinen schmutzigen weißen Turnschuhen, beschloss ich, hinzugehen und Hallo zu sagen. Ein kurzer Moment der Verlegenheit, während ich wartete, bis Ben ausgeredet hatte.
»Für mich hat sich nie die Frage gestellt, ob ich etwas anderes machen soll als malen. Klar, es wäre schon schön, einen Beruf zu haben, bei dem man gut verdient, aber das war einfach keine Option. Ich würde mich nie von irgendwas am Malen hindern lassen.«
Er sah mich grinsend an.
»Gott, steh nicht da rum und lass mich labern wie ein Vollidiot.«
Wir sind schon seit der Vorschule miteinander befreundet, zwei Außenseiter in einer Masse aus dumpfem Anspruchsdenken.
»Das ist Hannah«, stellte er vor. »Sie arbeitet für die Sunday Times. Hat also einen anständigen Beruf.«
»Und du?«, fragte Hannah mich. »Künstler oder anständiger Beruf?«
»Ach, ich lebe sozusagen vom Talent anderer Leute.«
»Luke ist ein A&R-Mann«, erklärte Ben mit dem üblichen stolzen Unterton, wenn er Leuten von meinem Job erzählt. »Er sucht und promotet neue Bands und hatte schon mit fünfundzwanzig sein eigenes Plattenlabel.«
»Toll, jetzt hast du mich als Vollidiot hingestellt«, sagte ich, worauf Hannah lachte.
Dann kamen Bens Eltern dazu, und wir wurden in ihre Pläne miteinbezogen, hinterher essen zu gehen.
»Es gibt einen netten kleinen Italiener um die Ecke, wir haben zwei Tische reserviert«, sagte Bens Vater, worauf Ben uns zuzischte: »Keine Sorge, sie bezahlen.«
Ich mag Bens Eltern, gute, freundliche Leute, die mich jeden Sommer zu ihrem Frankreichurlaub eingeladen haben, aber Hannah und ich ließen uns stillschweigend zurückfallen und verloren Ben und seinen Anhang bald aus den Augen.
»Gleich sind wir in Chinatown«, bemerkte Hannah, und ich zögerte nicht. Wenige Minuten später saßen wir in einer Nische meines Lieblingsrestaurants.
Es gefiel mir, wie geschickt sie ihre Pfannkuchen rollte: zwei Streifen Frühlingszwiebeln, Kante auf Spitze um eine Lage Hoisin-Soße gelegt, bescheidene Stückchen Ente, die sie in aller Ruhe auswählte, kein Fett, keine Haut. Beim Essen erzählte sie mir von ihrer Kindheit im nördlichen Cornwall, wo sie in einem Haus am Meer aufgewachsen war.
»Es liegt direkt am Weg zum Strand runter. Wenn Flut ist, kann man in drei Minuten im Wasser sein. Wir haben als Kinder die Zeit gestoppt. Mit acht konnte ich surfen, und als ich älter war, habe ich jeden Sommer als Badeaufsicht gearbeitet.«
Sie schilderte, wie sie in warmen Nächten unter freiem Himmel in den Dünen geschlafen hatte, anfangs mit ihren Eltern, später mit Freunden. Es wurden Miesmuscheln gesammelt und über dem Lagerfeuer gekocht, heißer Kakao aus Thermosflaschen getrunken.
»Am Mittsommerabend geht immer das ganze Dorf an den Strand und macht ein großes Feuer. Die Leute bringen Essen mit und erzählen Geschichten, und alle sind da, die Jungen und die Alten. Manchmal vermisse ich das. Wenn ich morgens spät dran bin und mich rücksichtslos in die U-Bahn drängele, frage ich mich, was bloß aus mir geworden ist.«
Sie lachte, und ich konnte nur denken: Du bist wunderbar, das ist aus dir geworden. Mich hat es schon immer interessiert, wenn andere von ihrem Familienleben berichtet haben, aber so gebannt hatte ich noch nie zugehört, ich hing buchstäblich an ihren Lippen.
»Du bist sehr gut darin, nicht über dich selbst zu sprechen«, bemerkte Hannah irgendwann. »Du stellst eine Menge Fragen.«
»Das liegt daran, dass es nicht viel zu erzählen gibt. Ich hatte eine schöne, behütete Kindheit in Yorkshire, meine Eltern waren schon nicht mehr die Jüngsten. Ich bin ein Einzelkind und wurde im Alter von wenigen Wochen adoptiert.«
»Du bist adoptiert?«, fragte sie mit plötzlich aufflammendem Interesse, eine meiner Erfahrung nach typisch weibliche Reaktion. Männer scheren sich im Allgemeinen einen feuchten Dreck darum, wer einen aufgezogen hat. »Ich liebe ungewöhnliche Biografien«, sagte sie.
Und da fragte sie mich zum ersten Mal nach meiner leiblichen Mutter.
»Das ist also Hannah?«
Alice hat meine mitgebrachten Fotos wie eine Patience ausgelegt und betrachtet sie nacheinander. Gerade sieht sie sich meine Lieblingsaufnahme von Hannah an. Sie steht darauf am Steuer eines kleinen Ausflugsboots, das wir eines Nachmittags spontan in Falmouth gemietet hatten. Es fuhr maximal fünfzehn Stundenkilometer, und Hannah, die einen Powerboot-Führerschein besitzt, surft und segelt und wahrscheinlich ohne Weiteres eine Dreißig-Meter-Jacht steuern könnte, fand das urkomisch. Sie lacht so ausgelassen auf diesem Foto, dass man alle Zähne sieht, ihre Augen sind nur schmale Schlitze, ihr Kopf ist zurückgeworfen. Es zieht mir ein bisschen das Herz zusammen, wenn ich sie so sehe und mich an diesen vollkommenen Nachmittag erinnere. Was soll ich sagen, ohne sie wäre ich verloren.
»Sie wirkt wie jemand, der mit einem durch dick und dünn geht.«
Alice’ Scharfblick verblüfft mich. Als wäre diese Frau, diese Fremde, die mich einmal in ihrem Bauch getragen hat, immer noch so eng mit mir verbunden, dass sie meine privatesten Gedanken lesen kann.
»Da bin ich sieben geworden«, sage ich schnell und zeige auf ein Foto von mir zusammen mit drei Spielfreunden, auf dem wir Grillwürstchen an Stöcken hochhalten. Mein Geburtstag ist im Mai, und ich erinnere mich noch, wie warm es an diesem Tag war. Es gab selbst gemachte Limonade, die meine Freunde zu sauer fanden, und eine Torte in Form der Tardis aus Doctor Who.
»Und das bin ich beim Rugby im Internat.« Ich tippe auf das Foto daneben.
»Du warst im Internat? Ab welchem Alter?«
»Acht.«
»Das ist viel zu jung«, sagt sie, schwächt es dann aber mit »meiner Meinung nach« ab.
Ich überlege, ob ich ihr von den tränenreichen Abschieden, von der absoluten Trostlosigkeit der sonntagabendlichen Fahrten zurück in die Schule erzählen soll. Als meine Eltern mich das erste Mal dorthin brachten, war ich viel zu aufgeregt und durcheinander, um zu weinen. Beim zweiten Mal jedoch wusste ich, was auf mich zukam, klammerte mich an den Türgriff des Wagens und rannte ihm noch die halbe Auffahrt hinterher, bis mein Vater beschleunigte und davonfuhr.
Nur zögerlich habe ich das Foto von dem Weihnachtsessen dazugelegt, auf dem ich zwölf bin und mit meinen Eltern und Großeltern am Tisch sitze. Mein Vater tranchiert stehend den Truthahn, während meine Mutter mir einen vollgetürmten Teller mit Fleisch und Gemüse reicht. Wir haben Papierkronen auf, Fetzen von Knallbonbons liegen über den Tisch verstreut. Wenn ich dieses Foto ansehe, denke ich: still, einsam, gelangweilt. Für mich springt es ins Auge, dass ich nicht dazu passe. Alice aber sieht etwas anderes. Sie sieht, wie meine Mutter mich anlächelt, als sie mir den Teller gibt. Sie sieht Zärtlichkeit, Vertrautheit. Zugehörigkeit.
»Das ist sie also«, sagt sie, ohne aufzublicken.
Da verstehe ich. Mein Adoptivvater interessiert sie nicht weiter, es geht ihr vor allem um die Frau, die ihre Stelle eingenommen hat.
»Was sagt sie dazu, dass du dich mit mir triffst? Deine … Mutter.«
»Sie weiß nichts davon. Ich habe nicht mit ihr darüber gesprochen. Wahrscheinlich könnte ich es, aber …«
Wie soll ich ihr die kühle Verschlossenheit meiner Mutter hinsichtlich der Umstände meiner Geburt erklären? Als ich acht Jahre alt war, kurz bevor ich ins Internat kam, eröffnete sie mir, dass ich adoptiert bin.
»Aber warum hat die andere Frau mich weggegeben?«, wollte ich wissen.
Die entscheidende Frage.
»Sie war ein junges Mädchen, das ungewollt schwanger geworden war und noch sein ganzes Leben vor sich hatte.«
»Meinst du, dass sie manchmal an mich denkt und sich fragt, wie es mir geht?«
»Das braucht sie nicht. Sie weiß, dass du glücklich bist, dass du ein schönes Leben hast, wie sie es dir nie hätte bieten können. Sie weiß, dass du es gut hast.«
Ich habe es gut, so gut, das Mantra meiner Kindheit.
Doch ich bringe es nicht über mich, Alice davon zu erzählen. Wie sie da so niedergeschlagen vor mir sitzt, umgeben von meinen Kindheitsfotos, wirkt sie ganz anders als das leichtfertige, unbekümmerte Mädchen in der Beschreibung meiner Mutter.
»Luke?«, sagt sie, und es klingt immer noch, als würde sie meinen Namen versuchsweise aussprechen, als sollte er eigentlich anders lauten. Charlie – den hatte sie mir gegeben.
»Ich werde bestimmt nicht versuchen, dir eine Mutter zu sein. Das wäre dumm. Wollen wir uns auf Freundschaft einigen?«
Sie nimmt ihr Weinglas und wartet, dass ich es ihr nachtue. Wir stoßen an, diese schöne, siebenundvierzigjährige Frau und ich, zwei Fremde in einem Restaurant, verbunden durch eine Vergangenheit, die ich erst noch verstehen lernen muss.