Damals
Alice
Im August wird die Hitze unerträglich. Das kleine Studio im Souterrain, in dem die Band aufnimmt, ist tagsüber ein Backofen, nur in der nächtlichen Kühle zu ertragen. Jake gibt allen eine Woche frei.
Tom und Eddie sind damit zufrieden, am Pool zu liegen, an ihrer Bräune zu arbeiten, Karten zu spielen und abends fässerweise billigen Rotwein zu trinken. Jake dagegen nimmt schon nach dem ersten so verbrachten Tag den Bus nach Florenz und kommt mit einem zitronengelben Kleinwagen wieder. Eddie, Tom und ich laufen zusammen und sehen zu, wie er seine lange, schmale Gestalt aus dem Auto faltet. Es ist ein Wunder, dass er mit seinen einsfünfundachtzig überhaupt hineingepasst hat.
»Wir machen eine Fahrt«, sagt er zu mir, »nur du und ich.«
»In dem Zwergenauto?«
»Dieses exzellente Gefährt ist ein Cinquecento. Wir können unmöglich in etwas anderem herumfahren.«
Ob Autos oder Cappuccino, Authentizität ist Jacobs Ding.
Der Cinquecento fährt maximal achtzig Sachen, also entscheiden wir uns für ein paar Nächte in Siena, das nicht weit entfernt liegt. Der Überschwang dieser ersten Stunden, wir zwei endlich mal wieder allein, gemütlich durch die toskanische Hügellandschaft tuckernd, die nach Wochen unter sengender Sonne jetzt bronzefarben ist. Es sieht aus, wie ich mir Afrika vorstelle, schön, aber ausgetrocknet, ausgebleicht, kahl durch den Mangel an Grün. Jake schaltet das Radio ein, die ersten Takte von »All Along the Watchtower« ertönen, und er sagt: »Verdammt«. Wir hören schweigend zu, Lautstärke voll aufgedreht, und danach erzählt er mir, wie er Jimmy mal in einem winzigen Londoner Club namens The Toucan erlebt hat.
»Man merkte sofort, dass er was Besonderes war, schon vor diesen irren Gitarrensolos. Er hatte es drauf wie sonst keiner, weder Jagger noch Bowie, schon gar nicht die Beatles. In dem Moment wurde mir klar, dass nichts so wichtig ist wie die Musik. Nach diesem Gig bin ich nach Hause gekommen und hab wie besessen angefangen, Gitarre zu spielen, die ganze Nacht durch. Schlaf war Zeitverschwendung. Ich wollte werden wie er. Ich habe mir selbst Bass- und Rhythmusgitarre beigebracht, war darauf aus, in allem besser zu sein als die anderen.«
Er hält meine Hand, und wir sind wieder still. Ich weiß, dass er an Jimi denkt, an seinen Tod durch eine Überdosis Schlafmittel, der hätte verhindert werden können, sagen manche Leute, wenn seine Freundin eher reagiert hätte. Ich erinnere mich an ihren Namen, Monika Dannemann. Hätte sie eine halbe Stunde früher den Notruf gewählt, würde er vielleicht noch leben.
»Aber er wäre möglicherweise gehirngeschädigt gewesen«, sagt Jake, als hätten wir das Gespräch laut geführt statt nur in unseren Köpfen.
»Wie sich Monika wohl fühlt?«
»Kaum vorstellbar, dass sie je darüber hinwegkommt.«
Hendrix´ Manager fand ein Gedicht, das er nur Stunden vor seinem Tod geschrieben hatte, »The Story of Life«. Ein Lovesong eigentlich, Monika gewidmet, in dem es um Liebe als eine Abfolge von Hellos und Goodbyes, von Zusammenkommen und Abschieden geht. Ein schönes Gedicht oder ein Abschiedsbrief? Niemand wird es je erfahren.
Jimi Hendrix’ Tod hat uns allen zugesetzt, doch Jake ist anzumerken, dass er ihn immer noch nicht verwunden hat. Er versucht stets, allem Negativen aus dem Weg zu gehen, und doch umfängt uns jetzt leise Traurigkeit in unserem kleinen Auto. Ich lege ihm meine sonnengebräunte Hand auf den Oberschenkel. Er nimmt sie und küsst sie rasch. Wir brauchen keine Worte in solchen Momenten.
Als wir ein Hinweisschild für ein Weingut sehen, biegt Jake ab, und wir fahren mit etwa fünf Stundenkilometern einen holperigen Feldweg entlang, Olivenhaine zu beiden Seiten. Endlich, nach langem Durchgerütteltwerden, kommt ein Gutshaus in Sicht, von der typisch toskanischen Sorte aus hellem Naturstein mit einem roten Ziegeldach. Dahinter erstrecken sich die Weingärten bis zum Horizont.
Eine ältere Frau erscheint und begrüßt uns in einem schnellen, melodiösen Italienisch, von dem wir kein Wort verstehen. Wir sehen uns ratlos an.
»Mangiare?«, fragt sie und deutet mit den Fingern auf ihren Mund.
»Si, Signora, grazie«, antwortet Jake mit seinen paar Brocken Italienisch und setzt pantomimisch eine Flasche an den Mund, mit zurückgelegtem Kopf wie ein Säufer, worauf die Frau lacht.
»Ovviamente! Un Chianti Classico.«
Es könnte keinen schöneren Ort für eine Mahlzeit geben als diesen. Ein kleiner Holztisch im Schatten einer ausladenden Zypresse. Eine blau gewürfelte Tischdecke, darauf zwei Gläser Rotwein, ein Teller mit luftgetrockneter Salami, ein Korb mit Brot und eine Schale mit den dicksten Oliven, die ich je gesehen habe. Wir essen gierig und denken, dass es das war, aber wir sind in Italien und hätten es besser wissen sollen. Bald darauf kommen tiefe Teller voller Trüffel-Tagliatelle, breite, ölig glänzende Bänder, die so berauschend, so himmlisch schmecken, dass wir nur noch stöhnen können.
»O mein Gott«, sagen wir immer wieder zueinander.
Jake mit seinem Hamstervorrat an ausgefallenem Wissen kann mir alles über schwarze Trüffel erzählen. Über die spezielle Hunderasse, die zur Suche verwendet wird – Lagotto, er weiß sogar den Namen –, und die Fehden, die zwischen den Einheimischen ausbrechen, wenn einer über die geheimen Stellen eines anderen stolpert.
»Ein blutrünstiges Geschäft«, sagt er. »Es sind schon Leute gestorben für Trüffel. Man versteht, warum.«
»Manchmal glaube ich, ich habe mich in die Encyclopædia Britannica verliebt. Woher weißt du das alles?«
Er lacht und nimmt meine Hand.
»Übrigens, willst du mich heiraten? Wann immer du möchtest«, sagt er. »Heute, nächste Woche, in fünf Jahren.«
»Soll ich darauf antworten?«, frage ich, als ich meine Sprache wiedergefunden habe, worauf er mich schräg angrinst.
»Wäre nicht schlecht.«
»Dann ja, natürlich! Jederzeit. Heute, nächste Woche, in fünf Jahren.«
Siena im August ist wie leer gefegt. Nur dumme Touristen wie wir nehmen es mit der Hitze auf und drücken sich den halben Tag lang innerhalb der dicken Mauern des Duomo herum. Nicht dass es eine Strafe wäre, sich in dieser Wahnsinnskirche aufzuhalten, die opulenter, dramatischer ausgestaltet ist als alles, was ich bisher gesehen habe, ob in der Realität oder kunstgeschichtlichen Büchern. Marmor ohne Ende, schwarzweiß gestreifte, absurd hohe Säulen, ein Deckengewölbe wie ein atemberaubender Sternenhimmel. Es gibt einen Altar mit vier Heiligenskulpturen vom jungen Michelangelo, jede für sich perfekt, und ich kann es nicht fassen, dass wir hier in diesem Städtchen einfach so über Werke von Michelangelo stolpern.
»Können wir eines Tages hier leben?«, frage ich Jake, als wir uns gegen die sengende Sonne auf der Piazza wappnen.
»Genau mein Gedanke«, sagt er.
Wir mieten ein kleines, stickiges Zimmer über einer Bar und verbringen die Tage damit, schattige Restaurants ausfindig zu machen und lange ausschweifend zu speisen, Pappardelle mit Wildschweinsugo, Steinpilzrisotto mit Pecorino, alles eine Offenbarung. Nachts fällt es schwer zu schlafen, also machen wir nachmittags Siesta, erledigt von dem kalorienreichen Essen, den Karaffen voll Wein, und wachen durstig und benebelt auf, wenn der Himmel schon dämmert. Die Abende mag ich am liebsten, wir spazieren durch Gassen, die manchmal so schmal sind, dass wir hintereinander gehen müssen, zwischen hohen, farbigen Häusern entlang, die sich einander zuneigen wie Liebende. Wir machen bei einem Café an der Piazza halt und trinken Espresso, manchmal mit einem Glas Grappa dazu.
Die Skizzen, die ich am meisten mag, stammen aus dieser Zeit, Jake so frei und glücklich wie noch nie. Während ich zeichne, kritzelt er Ideen und Songtexte in sein kleines ledergebundenes Notizbuch, nippt an seinem Kaffee oder starrt in den Himmel hinauf, sucht nach den Fixpunkten seiner Kindheit, das Sternebeobachten ein Trost, eine Abwehr gegen die Dämonen, über die er nicht sprechen will. Wir sind so entspannt miteinander in diesen Tagen, dass ich versucht bin, ihn direkt zu fragen. Was ist passiert? Was ist es, das dich manchmal so traurig macht? Doch dann sehe ich ihn an, beinahe absurd schön in seinem losen weißen Hemd, den jetzt schulterlangen Haaren, und er prostet mir lächelnd zu, und ich weiß, dass ich es nicht übers Herz bringe, ihn zurück in die Düsternis zu stürzen.