Heute
Luke
Als Alice den Teddybär sieht, hat sie einen kleinen Nervenzusammenbruch. Ich stehe mit Samuel auf dem Arm am Wohnzimmerfenster und warte auf ihre Ankunft. Samuel hält den Teddy im Arm, Gesicht nach vorn, sodass die hässlichen neuen Augen sofort auffallen. Hannah hat zwar ihr Bestes getan, aber letztlich ist es billige plastische Chirurgie. Der Bär mit den freundlichen bernsteinfarbenen Glasaugen hat jetzt ein ausdrucksloses, kaltes Kreuzstich-Starren.
Sobald ich Alice klopfen höre, gehe ich mit Samuel zur Tür, so machen wir es jeden Morgen. Sie zieht ihre Grimassen, er lacht und streckt die Arme nach ihr aus, und ich eile los zu meinem vollgepackten Arbeitstag. Diesmal aber fällt ihr Blick sofort auf den Teddy, und sie schreit entsetzt auf.
»Was habt ihr gemacht?«
Samuel strahlt und jauchzt, dass es eine wahre Freude ist, aber Alice beachtet ihn nicht.
»Das hier, meinst du?« Ich gebe mich gleichmütig. »Hannah hat etwas gegen Glasaugen, sie denkt, da besteht Erstickungsgefahr.«
Doch meine Antwort kommt heraus wie Sägemehl, trocken und leblos.
»Der Teddy hat mal dir gehört, Luke. Er bedeutet mir sehr viel. Vielleicht war es ein Fehler ihn … Samuel zu schenken.«
Dieses kurze Zögern macht das Maß voll.
»Trinken wir erst mal einen Kaffee zusammen, Alice. Ich denke, wir sollten miteinander reden.«
In der Küche setze ich Samuel auf dem Boden ab, wonach er gleich mit seinen anstrengenden neuen Krabbelversuchen beginnt: flach aufs Gesicht, halbe Liegestütze, Brust raus, flach aufs Gesicht. Alice breitet einen Läufer auf dem Boden aus und hebt ihn auf den weichen, wollenen Untergrund.
»Der Boden ist zu rutschig, mein Vögelchen«, sagt sie.
Das Wasser im Kessel kommt zum Kochen, donnernd laut in meinen Ohren, die ich spitze, um ihren Tonfall aufzufangen. Wie schnell der Teddy zu einem Symbol für nicht wiedergutzumachendes Unrecht geworden ist. Dass Alice mich weggegeben hat, dass ich von ihr fortgerissen wurde, ist ein Kreisdiagramm ohne Überschneidungen, zwei Bereiche, die sich nicht vermischen, genau wie die verschiedenen Welten, in denen wir gelebt haben. Getrennt, das ist der Ausdruck, den man für Adoptierte verwenden sollte. Ein getrenntes Kind. Eine getrennte Mutter.
Ich trage die Presskanne voll Kaffee und zwei Becher zum Tisch, hole Milch aus dem Kühlschrank. Wir setzen uns an den Küchentisch, und ich muss mir einen Ruck geben, um Alice ins Gesicht zu sehen. Nur um festzustellen, dass sie wie üblich ruhiger ist als ich, die Rolle der Erwachsenen einnimmt.
Ich sehe zu, wie sie ihren Becher zum Mund führt und ohne getrunken zu haben, wieder absetzt. Vielleicht ist der Kaffee noch zu heiß. Vielleicht ist sie einfach in Gedanken.
»Du hast diesen Teddy geliebt«, sagt sie, und jedes Wort ist Balsam für meine Seele. »Rick hat ihn dir geschenkt, und schon mit wenigen Wochen hast du ihn beim Schlafen an einem Arm oder Bein gehalten. Du warst noch zu klein, als dass ich mir Gedanken wegen der Glasaugen gemacht hätte, oder vielleicht war ich zu jung, um über so etwas Bescheid zu wissen. Nachdem du fort warst, habe ich den Bären behalten. Jahrelang habe ich mit ihm auf dem Kissen geschlafen, bis ich ihn irgendwann in ein Regal verbannte, eine Erinnerung, nicht mehr. Ich redete mir ein, das sei ein Fortschritt.«
So lange hat sie noch nie über die Vergangenheit gesprochen.
Samuel neben uns stößt kleine Stöhnlaute aus, so ein kurzatmiges Hü-hü, das schwer zu überhören ist und anzeigt, dass er gleich anfangen wird zu weinen. Alice steht auf und hebt ihn hoch.
»Komm her, mein Freund«, sagt sie und setzt ihn sich auf den Schoß, gibt ihm die Salz- und Pfefferstreuer zum Spielen und einen Kuss auf die Wange.
»Wie war ich als Baby?«
Sie sieht mich überrascht an.
»Du warst genau wie er. Glücklich. Hast immer gelächelt. Und viel gelacht.«
Glücklich. Immer gelächelt. Ich denke wieder an Christinas Beschreibung meiner ersten Wochen – »du hast geweint und geweint, wolltest gar nicht aufhören«.
»Alice?«
Ihr Gesicht, schön wie immer, ist ungerührt.
»Du nennst Samuel manchmal Charlie. Ist dir das bewusst?«
»Ach das. Ja, das passiert mir manchmal. Er sieht dir so ähnlich, dass ich euch verwechsele.«
Ich nicke mehrmals, zu oft, während ich die richtigen Worte zu finden versuche.
»Weißt du, ich habe mehr und mehr den Eindruck, dass wir das Ganze falsch angegangen sind. Ich meine, dass du dich um Samuel kümmerst, statt mich besser kennenzulernen. Wir sind selbst schuld, weil wir es vorgeschlagen haben, aber ich finde, dass es uns zu sehr aufwühlt. Also, mich jedenfalls. Ich weiß nicht, ob das gesund ist.«
»Es ist so gesund, wie es nur sein kann. Wir sind verwandt, eine Familie. Ist das nicht besser, als dein Kind irgendeiner Fremden anzuvertrauen?«
Ich nicke ohne Überzeugung. Auf einmal, zum ersten Mal, macht mir das Ausmaß ihrer Liebe zu meinem Sohn wirklich Sorgen. Und eins steht fest: Ich kenne Alice nicht. Nicht richtig.
»Du willst doch nicht, dass ich aufhöre, mich um ihn zu kümmern, oder?«
Jetzt zeigt sich Angst in ihrer Miene. Brennende Augen. Ich kann sie kaum ansehen.
»Ich weiß, dass ich nicht genug mit dir über unsere gemeinsame Zeit spreche. Ich weiß, dass du darunter leidest. Manchmal versuche ich es, aber da ist einfach eine große Blockade. Erinnerungen, mit denen ich auch nach all den Jahren nicht fertigwerde.«
»Du kannst dir nicht vorstellen, wie gern ich etwas über damals hören möchte. Die Ereignisse um meine Geburt kommen mir so rätselhaft vor.«
»Ich erinnere mich an deine Geburt als wäre es gestern gewesen. Es ging sehr schnell für das erste Kind, dauerte nur ein paar Stunden.«
»Was haben wir zusammen gemacht? Ich weiß, in den ersten Wochen dreht sich fast alles nur ums Schlafen und Stillen, aber erinnerst du dich vielleicht noch an etwas anderes?«
Alice lächelt. »Also, du liebtest es zu schwimmen. Ich meine natürlich nicht richtig schwimmen, sondern auf so einem kleinen aufblasbaren Boot zu liegen. Du mochtest das Gefühl dahinzutreiben, glaube ich, das Geräusch der Wellen.«
»Wellen? Aber wir waren doch nicht am Meer, oder?«
Sie stutzt und reagiert etwas verdattert.
»Ich meinte das Geräusch von Wasser, das Plätschern. Irgendwann würde ich auch gern mal mit Samuel schwimmen gehen. Ich glaube, das würde ihm sehr gefallen.«
Alice lächelt jetzt wieder. Wenn ihr Gesicht leuchtet, wenn ihre geraden weißen Zähne zum Vorschein kommen und die Fältchen um ihre Augen, sieht sie unglaublich apart aus. Betörend. Bildschön.
»Es ist mir peinlich, das zu sagen, aber manchmal bin ich eifersüchtig auf Samuel. Weil er so viel mit dir zusammen sein darf und ich nicht.«
»Ach, Luke.« Sie drückt kurz meine Hand. »Wie kannst du auf dieses kleine Bündel eifersüchtig sein? Aber ich verstehe dich. Die ganze Situation ist schon ein bisschen seltsam, nicht?«
Samuel fängt an zu trällern wie ein Vogel, sodass wir beide lachen und unsere Stimmung sich aufhellt.
»Ja, du bist ein schlauer Junge«, sagt Alice.
Als das Telefon klingelt, lasse ich den Anrufbeantworter rangehen, rechne nicht damit, dass es meine andere Mutter sein könnte.
»Hallo, Liebling. Ich habe gerade im Büro angerufen, aber sie sagten, du wärst noch nicht da. Wollte mich nur vergewissern, dass du nicht krank bist. Gib dem Kleinen einen Kuss von mir und sag Alice schöne Grüße.«
Wir sehen uns an, Alice und ich, ich etwas kläglich wegen meines doppelten Spiels.
»Es ist ein bisschen, wie eine Affäre zu haben«, gestehe ich, »nur noch schlimmer.«
Alice lacht.
»Vielleicht solltest du es ihr sagen?«
»Ich weiß nicht, ob ich das kann. Die Lüge wird immer größer, je länger sie dauert.«
Ich sehe auf die Küchenuhr, schon halb elf.
»Ich muss los, bin spät dran. Ich hoffe, es war okay für dich, dass wir uns mal ausgesprochen haben?«
»Mehr als okay. Das war nötig. Luke?«
Alice’ Augen sind das Auffälligste an ihr. Von einem tiefen Schwarzbraun, umrahmt von dichten, langen Wimpern, Cartoonaugen.
»Das alles wühlt mich auch auf. Genau wie dich. Aber das hier hilft.« Sie drückt Samuel einen Kuss auf den Kopf. »Mit ihm zusammen zu sein hilft mir. Danke, dass du mich in deine Familie aufgenommen hast. Das war sehr großzügig von dir.«
Auf dem Weg zur U-Bahn-Station versuche ich, das alles zu verarbeiten, versuche zu verstehen, warum ihr letzter Satz mir ein dumpfes Unbehagen in der Magengrube verursacht.
Das war sehr großzügig von dir.