Damals
Alice
Ich habe viel über Jake erfahren in den letzten Wochen und weiß, worauf ich achten muss. Wie Eddie passe ich auf ihn auf, erwähne aber seine Depressionen oder die Schatten seiner Kindheit nie. Es gibt jetzt so etwas wie eine stillschweigende Vereinbarung zwischen uns, immerhin. Ich rede ihm gut zu, Alkohol zu meiden und mit Sport anzufangen, und er tut es mir zuliebe, joggt fast jeden Tag im Hyde Park. Wenn er still ist und Kummer ihn befällt, werde auch ich still. Still, aber präsent, das ist mein Vorsatz. Ich kann seine Einsamkeit lindern, ich kann ihm zeigen, dass er sich nie allein zu fühlen braucht. Und wir sind wieder glücklich miteinander, der Tiefpunkt seines fünftägigen Exzesses ist fast, wenn auch nicht ganz, vergessen.
Zum Zeitpunkt der Ausstellungseröffnung bin ich im sechsten Monat schwanger, und das lange Seidenkleid in leuchtendem Klatschmohnrot, das ich für den Abend ausgesucht habe, schmiegt sich um meinen schwellenden Bauch. Ich bewundere mein Profil vor dem Badezimmerspiegel, während Jacob sich blind rasiert.
»Eindeutig schwanger«, sage ich, und er lacht.
»Warum, hattest du noch Zweifel?«
»Es gefällt mir, dass man es sieht. Dass die Leute Bescheid wissen.«
»Mir auch«, sagt er. »Aber heute Abend wird auch die Presse da sein, und das bedeutet Fotos …«
Mehr braucht er nicht zu sagen. Ich habe meinen Eltern immer noch nicht gestanden, dass ich mit neunzehn und unverheiratet im Mai ein Kind erwarte. Im Jahr 1973 sollte das keine große Sache mehr sein, aber für meinen Vater wäre es eines der schlimmsten Verbrechen. Jäh kommt mir eine seiner besonders peinlichen Predigten in den Sinn – an einem Sonntag nach dem Gottesdienst, nach einer halben Flasche Wein, beim Mittagessen, zu dem ich leichtsinnigerweise eine Schulfreundin eingeladen hatte. Der Wein war wie immer nur für ihn, die Moralpredigt speziell auf die beiden jungen Mädchen an seinem Tisch zugeschnitten. Das Grässlichste war, erinnere ich mich, wie er lallend einen angestaubten Bibelvers zitierte: »Wem ein tugendsam Weib beschert ist, die ist viel edler denn die köstlichsten Perlen« oder so ähnlich. Die Freundin, Matilda hieß sie, ließ mich kurz danach fallen, und ich habe nie wieder jemanden zu mir nach Hause eingeladen.
Trotzdem bin ich ein bisschen wehmütig, als ich mich auf meinen großen Abend vorbereite, weil die Frau, die mich zur Welt gebracht und mich, so gut sie es mit ihren beschränkten Fähigkeiten konnte, aufgezogen hat, nicht dabei sein wird. Jake merkt wie immer, was in mir vorgeht.
»Wir werden bald eine eigene Familie haben«, sagt er, als wir uns auf den Weg zu Robins Galerie machen, »nur darauf kommt es an.«
Beide verspüren wir ein tiefes Bedürfnis, unserem Kind all das zu geben, was wir selbst nicht hatten. Stärker als Worte, stärker als Instinkt. Es soll selbstbewusst und zuversichtlich sein, sich geliebt, wahrgenommen und ermutigt fühlen, frei, seinen eigenen Weg zu gehen. Wahlmöglichkeiten, Freiheit, uneingeschränkte Unterstützung, oh, wir können ziemlich missionarisch werden, wenn es um die Frage geht, was eine glückliche Kindheit ausmacht. Das Gegenteil von unserer, wäre die Kurzform.
Wie das Gefühl beschreiben, eine Galerie zu betreten, in deren Schaufenster mein Gemälde von Jake und Eddie hängt? In der mein Name in großen Druckbuchstaben an der weißen Wand prangt: ALICE GARLAND. Auf Robins Anweisung hin kommen wir eine halbe Stunde vor der Eröffnung, doch es gehen schon einige Leute mit einem Glas in der Hand herum und betrachten die Bilder. Mir wird flau im Magen bei dem Anblick.
»Ich weiß nicht, ob ich das schaffe«, murmele ich Jake zu.
»Hast du doch schon.« Er gibt mir einen Kuss und umfängt die Galerie und all meine Bilder mit ausgebreiteten Armen.
»Deine Zeit ist gekommen«, sagt er. »Und du, Alice Garland, bist hundertprozentig bereit dafür.«
Rick ist auch schon da, trinkt Champagner und plaudert mit Robins Gästen. Im Gegensatz zu mir fühlt er sich pudelwohl in einem Raum voller Kunstliebhaber und kann gar nicht genug davon bekommen, als Robins »neueste Entdeckung« vorgestellt zu werden. Wenn er mit seiner avantgardistischen Porträtmalerei weitermacht, wird auch er bald eine Einzelausstellung bekommen, hat Robin durchblicken lassen.
»Deine Bilder sind wundervoll«, sagt er und umarmt zuerst mich, dann Jake. »Ich habe allen Ernstes geweint, als ich hier davorstand. Seht ihr den Typ da hinten?«
Er zeigt auf einen Mann mittleren Alters, vermutlich ein Sammler.
»Der in dem roten Cordsakko und dem schwarzen Rolli? Robin meinte, er hätte letztes Jahr achttausend Pfund in der Galerie gelassen.«
Cordsakko scheint von meiner Pietà mit dem Titel Apparition angetan zu sein, die, auf der ich mich sitzend mit dem schlafenden Jake im Schoß dargestellt habe. Mir gefällt, wie seine dunklen Haare über meine linke Hüfte fallen, seine Hand locker zwischen meinen Beinen liegt, sein Gesicht mit den geschlossenen Augen so wunderschön aussieht in der Ruhe.
Robin eilt mit zwei Gläsern Orangensaft herbei (Jake trinkt seit ein paar Wochen keinen Alkohol mehr und ist besser in Form denn je).
»Ich habe Jasper eingeladen, vor den anderen zu kommen«, sagt er, mit dem Kopf auf den Mann deutend. »Die ersten Äußerungen klingen wohlwollend. Er wird das eine oder andere heute Abend kaufen, denke ich, aber das da mag er am liebsten.«
Bei seinen eingeführten Künstlern nimmt Robin einen Anteil von sechzig Prozent des Verkaufspreises als Provision. Als einfache Kunststudentin habe ich einen großzügigen Vorschuss erhalten, sämtliche Einnahmen jedoch gehen an die Galerie.
»Wenn wir alle verkaufen, bekommst du noch einen dicken Bonus«, meinte er, als wir über die Konditionen sprachen, »und auf jeden Fall ein Abendessen im San Lorenzo.«
»Dieses Bild will ich nicht verkaufen«, platze ich unversehens heraus. Robin und Jake sehen mich verdutzt an.
»Aber Alice, meine Liebe«, sagt Robin langsam und deutlich, wie zu einem Kind, »alle Arbeiten sind mit einer Preisangabe versehen. Das Gemälde habe ich dir mit dem Vorschuss quasi abgekauft, ich dachte, das hättest du verstanden.«
Im ersten Augenblick kann ich nichts erwidern und muss zu meinem Ärger die Tränen zurückhalten.
»Es ist so persönlich, ich und Jake. Ich glaube, ich möchte nicht, dass es bei irgendeinem Fremden an der Wand hängt. Können wir nicht einen roten Aufkleber daran machen?«
»Es ist das beste Gemälde der Ausstellung. Mit dem höchsten Preis.« Robins Ton ist freundlich, geduldig.
»Du kannst doch ein neues malen«, flüstert Jake mir zu.
Ich schüttele den Kopf, schlucke. Meine Stimme klingt trotzdem ein bisschen brüchig.
»Man kann nicht einfach so Kopien aus dem Ärmel schütteln, so funktioniert das nicht. Ich liebe dieses Bild, weil es all meine Gefühle für dich enthält. Wieso sollte ich wollen, dass es jemand anderem gehört?«
»Robin, können wir es nicht doch behalten?«, fragt Jake daraufhin. »Alice zahlt dir einen Teil des Vorschusses zurück, wie wär’s?«
»Den ganzen, wenn du möchtest. Ich habe nichts davon ausgegeben. Ich will nur dieses Bild behalten. Es ist zu privat, um es zu verkaufen.«
Ich frage mich, ob die Schwangerschaftshormone mit mir durchgehen, glaube aber nicht, dass das der Grund ist. Ich muss Jakes Verletzlichkeit abschirmen, dieses Bild gibt zu viel von uns preis. Meine Liebe zu ihm, meinen Wunsch, ihn vor der Dunkelheit in sich zu beschützen. Seinen Selbsthass, den ich jetzt verstehe. Das alles ist darauf zu erkennen.
Genau in dem Augenblick dreht Jasper sich um und sieht uns drei miteinander sprechen.
»Ah, les artistes«, sagt er mit affigem Akzent. »Meinen Glückwunsch. Ihre Arbeiten sind wunderbar, meine Liebe.«
Wir geben uns die Hand, und obwohl ich es vermeide, Robin anzusehen, spüre ich seinen eindringlichen Blick. Bitte vermassele es nicht. Er mag einen Namen haben in der Kunstwelt, muss aber trotzdem seine Rechnungen bezahlen und kann sich nicht von einem überemotionalen Mädchen das Geschäft verderben lassen.
»Ich interessiere mich besonders für Apparition«, sagt Jasper. »Der Stil erinnert an die religiöse Kunst der Renaissance. War das Ihre Absicht? Sie haben den Sommer in Florenz verbracht, wie ich höre?«
Also erzähle ich ihm von meinen Besuchen in der Galleria dell’Accademia und meiner Fixierung auf Stefano Pieri, insbesondere dessen Pietà.
»Das Gemälde drückt so viel Traurigkeit aus, ohne im Geringsten sentimental zu sein, als hätte man die Figuren mit der Kamera überrascht. So etwas wollte ich in dieser Ausstellung zeigen.«
»Und woher der Titel, Apparition?«
»Den habe ich vorgeschlagen«, sagt Robin. »Ich weiß selbst nicht genau, warum. Irgendwie hatte ich so ein Déjà-vu-Gefühl, als ich das Bild zum ersten Mal sah.«
»Es ist ein sehr persönliches Werk«, sage ich, und Jake drückt meine Hand.
»Genau das gefällt mir daran«, sagt Jasper. »Es steckt voller Emotionen, Liebe, Pathos. Ich habe mich entschieden. Ich werde es kaufen, und auch ein paar von den anderen.«
»Das freut mich, eine gute Entscheidung«, sagt Robin mit einem dezidierten Lächeln in meine Richtung, bevor die beiden sich entfernen, um die Formalitäten zu erledigen.
»Lass dir davon bitte nicht den Abend verderben«, sagt Jake. »Wir können so viele Pietàs machen, wie du willst. Ich bin dein Modell auf Lebenszeit.«
Die Galerie füllt sich jetzt mit den Jungen und Schönen, Robins handverlesenem Publikum aus Künstlern, Musikern, Schauspielern und Models, Kunstsammlern und Journalisten, Fotografen mit Kameras um den Hals. Jake ist daran gewöhnt, und als eine Fotografin vom Daily Express auf uns zukommt, während wir gerade neben der Pietà mit ihrem kleinen roten Punkt stehen, legt er den Arm um meine Taille.
»Könnten Sie sich ein bisschen mehr zu Jacob umdrehen, Alice?«, bittet die Fotografin und blickt durch den Sucher.
Unwillkürlich lege ich eine Hand auf meinen Bauch, betone meine Schwangerschaft wie es junge Mütter unbewusst tun.
»Noch ein Stückchen mehr zusammen, bitte.«
Weitere Fotografen umringen uns, schießen Fotos, rufen uns ihre Wünsche zu.
Es ist leichter für mich, wenn ich Jake ansehe, statt in die Kameras zu blicken. Er küsst mich auf die Stirn, seine Arme um mich gelegt, und das ist das Bild, das am nächsten Tag in den meisten Zeitungen erscheint, dasjenige, das meine Eltern sehen werden.