Damals
Alice
Die Schwangerschaft ist für Jake und mich eine überaus romantische Zeit. Mein zweites Trimester, in dem es mir ausgesprochen gut geht, fällt mit einer Periode ständiger Stromausfälle zusammen, sodass wir häufig bei Kerzenlicht zusammensitzen. Jake lässt immer dreißig oder vierzig Kerzen im Wohnzimmer brennen, in Korbflaschen gesteckt oder in die eingedellten Kerzenhalter, die er auf dem Markt in der Golborne Road kauft. Inzwischen baden wir auch bei Kerzenlicht, wenn es genug heißes Wasser gibt, und wenn nicht, gehen wir früh ins Bett und er liest mir vor, Buch in der einen Hand, Kerze in der anderen, dicht ans Gesicht gehalten wie eine Figur aus Dickens.
Manchmal liest er Lyrik, nicht Blake oder Keats oder Coleridge, sondern Texte von Bob Dylan, Joni Mitchell, James Taylor, James Brown. Einen Songtext von Dylan, »The Man in Me«, liest er öfter als alle anderen in diesen Nächten. Gesungen ist er berührend und einsichtsvoll, die Geschichte einer Frau, die begreift, was in ihrem Liebsten vorgeht, obwohl er es zu verbergen versucht. Flach auf dem Papier wirkt der Text überraschend schnulzig, aber die Botschaft geht nicht an mir vorbei.
An den meisten Abenden bleiben wir zu Hause, arbeiten oder liegen auf dem Sofa und hören Musik. Ich gewöhne mich rasch an diese neue Häuslichkeit, die ein Gefühl von Erwachsensein mit sich bringt. Vom College nach Hause zu kommen, wo es schon nach dem Abendessen duftet, das Jake für uns zubereitet: eine seit Stunden köchelnde Bolognesesoße, eine Lasagne, die es mit der köstlichen in Siena aufnehmen kann, die Bouillabaisse, für die er extra nach Billingsgate gefahren ist. Er sorgt dafür, dass eine Schale immer mit Äpfeln und Orangen gefüllt ist, und ermuntert mich, so viel Obst zu essen wie möglich. Er kauft ein Babybuch, in dem jedes Stadium des ersten Lebensjahrs genau beschrieben wird, und zitiert daraus, während ich ein ausgiebiges Bad nehme und heißes Wasser nachlaufen lasse, solange es geht.
»Mit etwa zwölf Wochen wird er anfangen zu lachen.« Oder: »Wenn er sieben Monate alt ist, krabbelt er schon und versucht, sich an Möbelstücken hochzuziehen.«
Jake hat keinen Zweifel daran, dass wir einen Sohn bekommen. Ich hoffe, dass er nicht enttäuscht ist, wenn es ein Mädchen wird.
Als es auf Weihnachten zugeht, bin ich zunehmend gekränkt, dass meine Mutter sich noch nicht gemeldet hat. Meine Eltern wissen nicht, dass ich schwanger bin, und ich kann mich nicht überwinden, es ihnen zu sagen. Mein Vater wird toben, und ich will nicht, dass unser Glück durch irgendetwas getrübt wird. Also schicke ich ihnen nur eine selbst gemalte Weihnachtskarte, ein etwas kitschiges Winterbild, von dem ich denke, dass sie es mögen. Darauf schreibe ich den unverfänglichsten Gruß, der mir einfällt.
Liebe Mum, lieber Dad, ich wünsche Euch frohe Weihnachten. Alles Liebe, Alice
Doch es kommt keine Antwort. Sie haben meine Adresse, ich musste sie ihnen geben, damit meine Post nachgesendet werden kann. Es wäre ein Leichtes für meine Mutter gewesen, mir ebenfalls eine Karte zu schicken, aber sie steht unter der Fuchtel meines Vaters, so war es immer und wird es immer sein. Und mein Vater nimmt nie etwas zurück. Er hat mich gezwungen, mich zwischen Jake und ihnen zu entscheiden, und die meiste Zeit bin ich froh darüber.
Jake legt sich voll ins Zeug bei den Weihnachtsvorbereitungen. Wir kaufen einen Baum, den er allein nach Hause schleppt, wobei die Spitze auf dem Gehweg schleift. Er will nicht, dass ich irgendetwas trage, »wegen des Babys«, obwohl wir beide genug Ratgeber gelesen haben, um zu wissen, dass ich eigentlich ganz normal leben und mich bewegen kann. Auf dem Markt in der Berwick Street finden wir eine bunte Lichterkette und Kugeln und Lametta und behängen den Baum damit, bis fast keine Zweige mehr zu sehen sind.
»Ein Disco-Baum!«, ruft Jake, als wir die Lichterkette zum ersten Mal anmachen und feststellen, dass sie blinkt. »Sehr modern, sehr zeitgemäß.«
Ich gebe mir viel Mühe mit seinen Geschenken zu unserem ersten gemeinsamen Weihnachten. Im Platten- und Kassettentauschladen entdecke ich eine Single von Jimi Hendrix, eine Originalpressung von »The Wind Cries Mary« von 1967, mit »Highway Chile« auf der B-Seite. Sie war teuer, womit ich gerechnet hatte, denn nach Jimis Tod haben sich die Preise für seine Platten vervierfacht. Doch das ist es wert, allein schon um Jakes Gesicht zu sehen, wenn er sie auspackt.
In einer Mittagspause nehme ich Rick mit ins Kaufhaus Liberty, ein altmodisches Weihnachtsparadies mit wunderschön geschmückten Bäumen auf jeder Ebene, alle in Silber und Weiß gehalten, das genaue Gegenteil von unserem Disco-Exemplar zum Sparpreis.
»Also, woran hast du gedacht? Schmuck? Schal? Hemd? Uhr?«, fragt Rick.
»Das hat er alles. Ich würde ihm gern etwas schenken, das er jeden Tag tragen kann und das ihn an mich erinnert, wenn er auf Tour ist.«
»Wie wär’s dann mit einem Aftershave?«
Die Verkäuferin am Parfümstand mustert uns zuerst etwas abschätzig. Rick und ich tragen unsere mit Farbe beklecksten Kunststudentenklamotten – er eine zitronengelbe Latzhose, ich Jeans unter einer Schaffelljacke –, und sie denkt natürlich, dass wir kein Geld haben. Aber ich bin extra sparsam mit meinem Stipendium umgegangen, um für meinen Liebsten keine Kosten scheuen zu müssen.
Als ich nach einem Fläschchen Eau Sauvage für sieben Pfund greife, zeigt die Frau mehr Interesse. Rick tupft sich etwas davon auf den Puls und hält ihn mir zum Schnuppern hin.
»Verdammt lecker, oder? Ich wünschte, jemand würde mir das schenken. Vielleicht könntest du Tom einen kleinen Tipp geben.«
»Ja, aber es passt nicht zu Jake. Es ist zu sehr … Anzug und Krawatte.«
Die Verkäuferin grinst.
»Wie ist er denn, Ihr Freund?«
Ich verheddere mich ein bisschen bei meiner Beschreibung.
»Äh, er ist groß und schlank, hat lange dunkle Haare und ein Renaissancegesicht, ein bisschen engelhaft, wie auf einem Botticelli-Gemälde.«
Rick kichert, aber die Frau verzieht keine Miene.
»Er ist Musiker, Sänger und Songwriter. Ein Künstlertyp. Er trägt Hemden mit weiten Ärmeln und Samtanzüge und jede Menge Schals und Schmuck.«
»Vielleicht gefällt ihm dann ein Unisexduft?«
»Aber nichts zu Feminines.«
»Aber ehrlich gesagt auch nichts zu Maskulines«, fügt Rick hinzu, und diesmal stimmt die Verkäuferin in unser Lachen mit ein.
»Wie wäre es mit etwas Italienischem?«, schlägt sie vor, worauf Rick und ich einstimmig »Perfekt!« rufen.
»Er ist verrückt nach Italien. Wir beide. Wir haben den Sommer in der Nähe von Florenz verbracht.«
Sie zeigt uns einen schönen türkisfarbenen Flakon mit kobaltblauem Deckel.
»Das ist Acqua di Parma, ein Eau de Cologne. Sehr in Mode gerade in Italien, es wird sowohl von Frauen als auch Männern getragen.«
Rick und ich atmen es tief ein.
»Wunderbar, riecht nach Farnkräutern«, sagt Rick, »und Zitrone und Zeder.«
»Das ist genau das Richtige für ihn«, sage ich und öffne mein Portemonnaie.
Am Weihnachtsmorgen wachen wir spät auf (kein Kirchgang, noch so ein Luxus), und Jake besteht darauf, mir Frühstück ans Bett zu bringen. Cappuccino in Styroporbechern und dicke Stücke Panettone von der Bar Italia, die jeden Tag geöffnet hat.
»Von Luigi spendiert, mit lieben Grüßen«, sagt er und schlüpft wieder zu mir unter die Decke.
Er rutscht ein Stück herunter, um meinen Bauch zu küssen.
»Frohe Weihnachten, Baby«, sagt er.
Er zählt die Monate an den Fingern ab.
»Nächste Weihnachten bist du schon ein halbes Jahr alt, stell dir vor. Möchte wissen, ob wir dann noch hier wohnen.«
»Aber wir ziehen nie aus Soho weg, oder?«
»Nie, das kann ich dir versprechen. Es sei denn, wir wandern nach Italien aus.«
Es ist ein wunderbarer Tag, nur wir beide, Zeit für uns. Während etwas im Ofen brutzelt, hören wir klassische Musik, zuerst das Violinkonzert von Brahms, dann Vivaldis Gloria. Ich muss kurz an meinen Vater denken, wie immer bei Chören und allem Kirchenmusikartigen, schiebe aber das Bild von meinen Eltern, wie sie allein vor ihrem Truthahn sitzen, schnell beiseite. Mein Vater, der eine teure Flasche Wein in Beschlag genommen hat, meine Mutter, die sich duckt, während er sich ein drittes, viertes, fünftes Glas einschenkt und das Schreckgespenst eines Tobsuchtsanfalls seinen Kopf hebt.
»Wie war Weihnachten bei dir früher als Kind?«, frage ich Jake ohne nachzudenken, woraufhin er sehr still wird.
»Das hing davon ab, wo ich war«, sagt er schließlich. »Manchmal habe ich mit meiner Mum allein gefeiert, das war in Ordnung. Aber meistens waren wir bei meinen Großeltern auf der Farm, und oft hat meine Mutter mich dort zurückgelassen. Sie flog gern in die Sonne über Weihnachten, wenn sie es sich leisten konnte, nach Spanien, Marokko oder auf die Kanarischen Inseln.«
Seine Atmung verändert sich, und auch mein Herzschlag wird schneller. Ich nehme seine Hand.
»Ich werde nie von dir verlangen, über Dinge zu sprechen, über die du nicht sprechen willst.«
»Das weiß ich.«
»Aber manchmal denke ich, dass es dir helfen würde, die Gespenster der Vergangenheit zu vertreiben. Und ich würde dir zuhören. Ich liebe dich. Ich will, dass es dir gut geht.«
»Okay«, sagt er, steht auf und geht zu unserem Baum mit seinen blinkenden Lichtern und den Kugeln in den Farben von Quality-Street-Konfekt. Er zieht ein flaches, rechteckiges Päckchen, das in glänzendes rotes Papier eingepackt ist, darunter hervor.
Ich lese, was auf dem Anhänger steht: Für dich, Alice, in Liebe.
Es ist ein gerahmtes Foto, ein direkter Schuss ins Herz. Ein Schulfoto von Jake mit neun oder zehn Jahren, ein hübscher Junge mit kurzen Haaren und ernsten Augen. Er trägt einen grauen V-Pulli, ein weißes Hemd darunter und eine rot-grau gestreifte Krawatte, und was mir am meisten auffällt an dieser gewöhnlichen, schlechten Standardaufnahme, ist seine Weigerung zu lächeln.
»Das habe ich neulich gefunden und dachte, es würde dir gefallen. Weil ich weiß, dass du neugierig auf meine Kindheit bist.« Er küsst mich.
»Es gefällt mir sehr. Du bist so hübsch«, sage ich, das Foto betrachtend. »Aber du siehst nicht sehr glücklich aus.«
»Na ja, das war ich auch nicht.«
Er steht wieder vom Sofa auf und geht in unserem kleinen Wohnzimmer herum. Ich höre, wie seine Atemzüge tiefer und länger werden, und das Herz zieht sich mir zusammen vor Mitgefühl.
»Mein Großvater stand darauf, mich zu bestrafen. Ich denke, man kann ohne Übertreibung sagen, dass er ein Sadist war. Er hat mich regelmäßig geschlagen, hat mir mehrmals die Rippen gebrochen, und mich mitten im Winter aus dem Haus ausgesperrt. Ich habe im Auto geschlafen beziehungsweise nicht geschlafen. Das Schlimmste aber, was mich wirklich fertiggemacht hat, war, wie er über mich redete. Als wäre ich der letzte Dreck, die niedrigste Lebensform, verdorben, sündig, all so was. Ich war ein Kind, ich konnte nicht anders, als ihm zu glauben. Manchmal höre ich ihn immer noch. Manchmal ist seine Stimme die einzige, die ich höre.«
Erschüttert gehe ich zu ihm hin.
»Ist das der Grund, weshalb du …?«
»Ja. Er hat mir das Gefühl gegeben, ein Niemand zu sein. Dass mein Leben es nicht wert ist, gelebt zu werden. Und manchmal fällt es schwer, dieses Gefühl abzuschütteln.«
»Oh, Jake, das ist unerträglich …«
Ich nehme ihn in die Arme, schmiege mich an ihn. Es ist furchtbar, wie sachlich er klingt, als würde er diesen Herabsetzungen immer noch Glauben schenken. Seit Langem versuche ich, seine Dämonen zu verstehen, habe naiverweise gedacht, ich könnte ihm helfen, sie zu vertreiben. Doch jetzt erkenne ich langsam, wie tief verwurzelt seine Selbstverachtung ist, und bin nicht mehr sicher, ob das Kind und ich genügen werden, damit er sie überwindet.
»Bitte weine nicht. Ich hasse es, wenn du traurig bist. Können wir jetzt von etwas anderem reden?«
»Warum hat deine Mutter dir nicht geholfen?«
»Ich glaube, sie hatte selbst Angst vor ihrem Vater, sie muss gewusst haben, wie brutal er sein konnte. Aber vor allem war sie so auf Freiheit aus, dass sie sich kaum um etwas anderes scherte. Und dann lernte sie einen neuen Mann kennen und wollte mit ihm neu anfangen. Was darauf hinauslief, mich abzuschieben. Ich wünschte, sie hätte mich einfach von fremden Leuten adoptieren lassen. Wie oft habe ich davon geträumt, von einem netten älteren Paar, das eines Tages kommen und mich mitnehmen würde. Ich stellte mir ihr Haus vor, ein altes Farmhaus mit einem großen Garten und vielen Tieren, Ponys und Hunden und Katzen.«
»Meinst du wirklich, es wäre besser für dich gewesen, adoptiert zu werden?«
»Auf jeden Fall. Ich musste ganz allein die besinnungslose Wut meines Großvaters ertragen, und das jahrelang, fast meine gesamte Kindheit hindurch. Aber du weißt ja, wie das ist. Einzelkind, keine Geschwister, auf die sich das alles verteilt.«
»Manchmal hasse ich meine Mutter mehr als meinen Vater, weil sie ihm nie entgegengetreten ist. Mich nie beschützt hat.«
»Das haben wir gemeinsam, du und ich. Das hat uns unter anderem zusammengebracht.«
Als Jake in die Küche geht, um nach der Pute und den Röstkartoffeln zu sehen, setze ich mich wieder aufs Sofa und halte das gerahmte Foto auf meinen Knien. Es löst eine Art Schwindelgefühl in mir aus, dieses Bild, nicht nur als Zeugnis seiner Vergangenheit, die er bisher hermetisch in sich verschlossen hatte. Während ich unverwandt auf den zehnjährigen Jake starre, habe ich auch das Gefühl, in die Zukunft zu blicken und auf bizarre Weise in der Zeit vorwärtszureisen, um unserem ungeborenen Kind zu begegnen.