Damals

Alice

Der Anruf kommt an einem kalten Abend Ende Januar. Jake und ich schauen gerade einen Spionagethriller auf BBC2, Anruf für einen Toten.

»Lass doch«, sagt Jake, als ich vom Sofa aufstehen will. »Die können es morgen wieder probieren.«

Doch es klingelt erneut. Hört auf, fängt zehn Sekunden später wieder an.

»Herrgott noch mal«, sagt Jake, springt auf und reißt den Hörer von der Gabel.

Als er hört, wer dran ist, kehrt er mir den Rücken zu. Wortlos lauscht er der Stimme am anderen Ende.

»Verstehe«, sagt er schließlich.

Er spricht wenig und einsilbig, und ich kann mich nicht mehr auf den Film konzentrieren, weil ich die Ohren spitze und mir einen Reim auf diesen Anruf zu machen versuche.

»Nein, das werde ich nicht … Warum fährst du nicht hin, wenn dir so viel daran liegt? … Ich bin ihr gar nichts schuldig … Meinetwegen, ich denk drüber nach. Aber glaub mir, ich werde meine Meinung nicht ändern.«

Beim letzten Satz wird er lauter, knallt dann den Hörer auf und stürzt aus dem Zimmer.

In der Küche schüttet er Whisky in ein Weinglas, macht es randvoll. Ich sehe, wie seine Hand zittert, als er es an den Mund führt und zwei große Schlucke nimmt.

Er stellt es auf dem Tisch ab, hat mich immer noch nicht angesehen.

»Was ist passiert?«

»Meine Großmutter ist gestern gestorben. Meine Mum will, dass ich zur Beerdigung gehe.«

»Geht sie denn selbst nicht hin?«

Er schüttelt den Kopf.

»Sie kann nicht aus Kanada rüberkommen, sagt sie. Die Flüge sind zu teuer.«

»Ich komme mit, wenn du möchtest.«

»Keinen Fuß setze ich mehr in das verdammte Drecksloch! Warum sollte ich?«

Wir stehen nur ein paar Meter auseinander, getrennt durch unseren kleinen Resopaltisch, und ich sehe, dass er am ganzen Körper bebt.

Ich denke daran, was er mir an Weihnachten erzählt hat, an die Schläge in seiner Kindheit, aus dem Haus ausgesperrt zu werden in einer eiskalten Winternacht wie dieser, und gehe um den Tisch herum, um ihn in die Arme zu nehmen. Ein paar Sekunden lang lässt er es geschehen, ehe er sich losmacht und in der engen Küche im Kreis herumläuft. Er nimmt das Glas und stürzt den Whisky in drei, vier Schlucken herunter.

»Sprich mit mir, Jake.«

Er setzt sich an den Tisch, von mir abgewandt, die Hände vors Gesicht geschlagen, ein Bild der Verzweiflung.

»Es gibt nichts zu sagen«, antwortet er und schenkt sich nach, rührt das Glas aber nicht an. »Nichts.«

Die Gedanken überschlagen sich in meinem Kopf, auch wenn ich mich nicht traue, sie zu äußern. Heißt das denn nicht, dass es vorbei ist? Beide Großeltern tot, Jake von den Schreckgespenstern seiner Kindheit befreit. Und wenn er jetzt als Erwachsener zu diesem Haus zurückkehren würde, zusammen mit seiner Freundin, die ein Kind von ihm erwartet, und sich dem alten Grauen stellen würde?

»Komm, wir schauen uns den Rest des Films an.«

Er nimmt sein Glas, reicht mir die Hand, und wir kehren zum Sofa zurück, aber es ist nicht mehr dasselbe. Jake blickt zwar auf den Bildschirm, aber ich weiß, dass er nichts als seine Vergangenheit sieht.

Grimmigkeit legt sich über Jake wie eine Staubwolke. Er ist schweigsam, geistesabwesend, ruhelos. Am Morgen nach dem Anruf spricht er kein Wort mit mir. Stumm duschen wir und ziehen uns an, als wären wir nur Mitbewohner und kein Liebespaar, und ich merke, dass es ihn zu viel Kraft kostet, auf mich einzugehen.

Wir verlassen zusammen das Haus, doch als ich die Bar Italia ansteure, sagt er: »Ich verzichte heute auf den Kaffee. Geh du allein.«

Er greift in die Hosentasche und will mir einen Pfundschein für mein Frühstück geben. Ich schüttele den Kopf.

»Dann verzichte ich auch.«

»Bis später«, sagt er. Und: »Tut mir leid.«

Ich sehe ihm nach, wie er mit gebeugten Schultern und schweren Schritten davongeht. Ich weiß nicht, was ich machen soll.

Im College versuche ich, mit Rick darüber zu sprechen.

»Er wirkt so niedergeschlagen, vollkommen down. Ein Anruf, und er ist wie ein anderer Mensch. Ich bringe kein Wort aus ihm heraus.«

»Wahrscheinlich ist dadurch alles wieder hochgekommen. Er braucht bestimmt nur ein bisschen Zeit für sich, Al.«

In der Mittagspause kaufe ich fürs Abendessen ein. Jake kocht sonst immer, aber heute will ich ihn mal überraschen. Ich habe vor, einen Auflauf mit Hühnerfleisch, Pilzen und Zucchini zu machen, das Rezept ist idiotensicher und das einzige, das ich von meiner Mutter gelernt habe.

Jake ist nicht zu Hause, als ich spätnachmittags zurückkomme, und ich vermisse es, von seinem Gitarrenspiel oder voll aufgedrehten Rolling Stones oder Fleetwood Mac empfangen zu werden. Trotzdem fange ich mit dem Auflauf an, wälze Hühnerschenkel und Bruststücke in Mehl und Gewürzen, brate Pilze, Zwiebeln und Zucchini an, bräune anschließend die Hähnchenteile.

Um acht ist das Essen fertig, aber Jake immer noch nicht zu Hause. Ich stelle den Herd auf niedrigste Stufe und gehe in der Wohnung umher, zu angespannt, um Musik zu hören, zu lesen, zu zeichnen oder irgendetwas anderes zu tun, als hinunter auf die Straße zu blicken und auf das Geräusch seines Schlüssels im Schloss zu lauschen.

Beunruhigt rufe ich schließlich Rick an, der gerade aus dem Haus gehen will, um sich mit Tom im The Coach and Horses zu treffen.

»Gott sei Dank«, sage ich. »Falls Jake da ist, sag ihm, er soll mich anrufen. Ich werde hier langsam verrückt. Sag ihm, ich habe gekocht.«

»Alice, Liebste.« Das unterdrückte Lachen in Ricks Stimme muntert mich ein wenig auf. »Meinst du nicht, dass du es ein klitzekleines bisschen übertreibst? Du bist neunzehn, nicht vierzig. Was ist schon dabei, wenn Jake sich mal volllaufen lassen will?«

»Du hast ja recht«, sage ich. Aber Rick …«, kann ich gerade noch hervorstoßen, ehe er auflegt. »Ruf mich an, wenn er nicht im Pub ist, ja? Bitte.«

Um Viertel vor neun schalte ich den Herd ab und nehme den Auflauf heraus. Ich habe keinen Appetit auf diese fettige, blassgraue Pampe, die vor noch nicht allzu langer Zeit zu meinen Lieblingsgerichten gehörte. Also setze ich mich ins Wohnzimmer, ein unaufgeschlagenes Buch neben mir, den Fernseher leise gestellt.

Um zehn ruft Rick an. Er war im Coach and Horses und ist jetzt im French House, aber keine Spur von Jake.

»Er war vorhin mit Eddie hier, vermutlich sind sie weitergezogen. Vielleicht was essen gegangen.«

»Warum hat er mich nicht angerufen?«

Ein Piepen unterbricht uns, weil Ricks Geld alle ist.

Danach sitze ich eine Weile im Dunkeln, Autoscheinwerfer malen Lichtstreifen an die Decke. Jake ist unterwegs und betrinkt sich mit einem seiner ältesten Freunde, dem einzigen Menschen, der die Wahrheit über seine Kindheit kennt. Es gibt keinen Grund, sich Sorgen zu machen.

Warum ist mir dann so eng um die Brust, als ich später im Bett liege, dass ich kaum Luft bekomme? Warum tobt in meinem Kopf ein Wirbelwind aus Angst und düsteren Visionen? Unter der Romantik und der Leidenschaft und der Euphorie unserer Liebe hat immer diese Bedrohung geschwelt. Der Mann, den ich liebe, ist labil. Er hat schon einmal versucht, sich umzubringen, und ich lebe in der Furcht, dass er es wieder tun könnte.