Heute
Luke
Erwachsene Adoptivkinder sehnen sich danach, die absolute Liebe zu erfahren, die eine Mutter ihrem Kind bei der Geburt entgegenbringt. Das ist jedoch unmöglich. Man kann den Schutzpanzer, der im Laufe von zwanzig oder dreißig Jahren aufgebaut wurde, nicht einfach abwerfen. Man kann die Erfahrung eines Neugeborenen nicht replizieren.
Joel Harris, Wer bin ich? Das verborgene Trauma adoptierter Kinder
Als ich bei Alice’ Atelier ankomme (ich habe mich nicht telefonisch angekündigt, schon allein, weil sie samstags, wenn sie malt, nie ans Telefon geht), kann ich es kaum erwarten, die Sache hinter mich zu bringen. Ich habe vor, bei ihr hereinzuplatzen, sie bei der Arbeit zu überraschen, ihr meine Botschaft gleich beim Hereinkommen vor die Füße zu knallen, kurz, knapp, brutal, die gleiche Zurückweisung, wie ich sie von ihr erfahren habe.
Trotzdem bleibe ich zuerst einen Augenblick vor dem roten Ziegelsteingebäude stehen. Das Atelier liegt im Erdgeschoss, ein offener, loftartiger Raum, stelle ich mir vor, denn sie hat mich ja nicht hereingelassen, als ich mit Richard hier war. Ich zögere. Ich überlege. Meine Hand verharrt unschlüssig an der Türklingel. Mein Puls rast. Ich bin kurzatmig vor Empörung und Nervosität. Der Mann, der es sich zum Beruf gemacht hat zu vermitteln, ein Gleichgewicht herzustellen, wird nun das Gegenteil davon tun. Mit ein paar wenigen, ablehnenden Worten: »Alice, wir möchten nicht mehr, dass du Samuel betreust.«
Ich drücke probehalber den Türgriff, es wäre leichter, einfach reingehen zu können und zu sagen, was ich zu sagen habe. Zu meinem Erstaunen gibt er nach. Was mich drinnen erwartet, ist allerdings noch viel verblüffender.
Wie soll ich diese ersten Sekunden der Erschütterung beschreiben, als ich die Bilder von Samuel sehe, die jedes Stückchen Wand, jede Oberfläche bedecken. Mittendrin eine große, halb vollendete Leinwand auf einer Staffelei. Wie ein Spiegelkabinett oder eher ein Albtraum, mein lachender, schlafender, weinender Sohn. Eine Ecke hängt voller Polaroidfotos mit dieser seltsamen, gespenstischen Belichtung.
Mein Blick irrt von einem Bild zum nächsten, so viele, solche Ähnlichkeit, solche Genauigkeit, ihr künstlerisches Können, die Aussagekraft sind bemerkenswert. Hier sitzt Samuel auf einer mir unbekannten blau-weiß-gemusterten Decke, an einen Berg Kissen gelehnt, der Teddy mit seinen Glasaugen neben ihm. Dort trägt er ein senfgelbes Jäckchen mit braunen Streifen und orangefarbene Shorts. Auf einem anderen schläft er in seiner Babywippe und hat die winzige Latzhose von neulich an. Er guckt ein bisschen verlegen drein in seinem Siebzigerjahre-Aufzug, scheint mir, als verstünde er die Gleichsetzung, die Alchemie, die hier in Alice’ Atelier stattfindet, die Verwandlung von ihm in mich.
»Luke!«
Alice klingt halb erfreut, als sie hereinkommt. Dann aber sieht sie mein Gesicht, als ich mich umdrehe.
»Ich kann das erklären …«, sagt sie, hat jedoch nichts zu ihrer Verteidigung vorzubringen.
Etwas Merkwürdiges passiert mit mir, eine beinahe übersinnliche Erfahrung. Ich sehe sie an und fühle, wie jede Verbindung zu ihr sich auflöst. Vor meinen Augen wird sie zu dem, was sie im Grunde immer war: eine Fremde. Wem wollte ich etwas vormachen mit meinem erbärmlichen Versuch, meine Mutter in ihr zu sehen? Ich habe eine Mutter, eine, die ich in letzter Zeit ziemlich schlecht behandelt habe.
»Verdammt, was soll das, Alice? Das ist der reinste Kult hier. Gruseliger, obsessiver Mist. Wie irgend so ein, ich weiß nicht …« Ich wedele mit den Armen. »Wie irgend so ein Psychozeugs.«
Unsere schlimmsten Befürchtungen haben sich bewahrheitet, schießt es mir durch den Kopf, doch wie immer bleibt Alice ruhig.
»Kannst du wirklich dastehen und mir so etwas ins Gesicht sagen?«
»Allerdings kann ich das. Soll ich dir verraten, was heute passiert ist?« Ich klinge bitter. Gefühllos und kalt. »Wir wollten auf einen Kaffee ins North St. Deli. Klingelt’s bei dir?«
Zufrieden beobachte ich, wie sie schamrot wird.
»Offensichtlich ja. Und als wir hereinkommen, Hannah, Samuel« – fiese Überbetonung – »und ich, stürzt da gleich der Chef auf uns zu, dein Freund Stefano, um ›Charlie‹ zu begrüßen. Er fragt, wo Alice denn heute sei, Charlies Mutter. Ihr würdet jeden Tag bei ihm vorbeikommen, meinte er. Kannst du dir auch nur ansatzweise vorstellen, wie Hannah sich gefühlt hat?«
Ich bin total in Rage und zugleich den Tränen nahe. Derart verachtungsvoll mit meiner Mutter zu sprechen ist, als würde ich mir selbst ein Messer ins Herz bohren. Zu meiner Wut kommt Scham hinzu.
»Es tut mir leid«, sagt Alice.
»Es tut dir leid? Es tut dir leid, dass du uns unseren Sohn wegnimmst und ihn als deinen ausgibst? Dass du dir wünschst, er wäre ich?«
»Luke, ich verstehe, dass du aufgebracht bist, aber ich kann es dir erklären.«
»Erklären? Das da?« Mit ausholender Geste zeige ich auf die Wände voller Samuel. »Die Beweise sprechen für sich. Du siehst mich in Samuel, mich als Baby. Du willst mein Kind als Ersatz für das, das dir weggenommen wurde.«
»Nein, so ist es nicht, ich schwöre es.«
Doch ich will nichts mehr von ihr hören. Ich weiß, dass man ihr nicht trauen kann.
»Du darfst ihn ab jetzt nicht mehr betreuen. Ich bin hergekommen, um dir das zu sagen. Diese ganze Idee war ein Riesenfehler.«
Alice schnappt nach Luft. »Das ist nicht dein Ernst. Wer soll sich denn sonst um ihn kümmern? Du weißt doch, wie Samuel an mir hängt.«
»Wir finden schon eine Lösung. Meine Mutter wird uns erst mal unterstützen.«
Dieses heikle Wort, Mutter. So oft bin ich darüber gestolpert, aber jetzt nicht mehr. Der Unterschied zwischen Christina und Alice ist schonungslos deutlich geworden. Die eine hat mein ganzes Leben lang für mich gesorgt, die andere ist praktisch eine Unbekannte. Eine gefährliche noch dazu, wie es aussieht.
Alice beginnt zu weinen, sie hält die Hände vors Gesicht, ihre Schultern zucken. Ich wünschte, ich könnte irgendetwas Versöhnliches sagen, doch hier, in dieser bizarren Umgebung, in der mein kleiner Sohn von jeder Wand auf mich herabschaut, wird nur allzu klar, dass es kein Zurück gibt.
»Es tut mir leid, Alice. Hannah ist richtig ausgerastet, sie will dich nicht mehr in Samuels Nähe haben. Ich will dich nicht mehr in Samuels Nähe haben.«
Harte Worte, aber ich finde keine anderen. Mein Zorn ist unvermindert und hängt nicht allein mit dieser irrwitzigen Vergötterung meines Sohns zusammen. Alice hat mich die ganze Zeit belogen.
»Es geht nicht nur um Samuel, sondern auch um die Art und Weise, wie du mich behandelt hast. Kannst du dir vorstellen, wie es ist, nach siebenundzwanzig Jahren endlich meinen Vater kennenzulernen, nur um dann festzustellen, dass er es doch nicht ist, sondern ein ganz anderer, dessen Namen du mir nicht mal verraten willst?«
»Du hast recht«, sagt Alice mit gesenktem Blick. »Ich habe ein paar schwere Fehler begangen und will versuchen, das wiedergutzumachen. Ich erwarte nicht, dass du das verstehst, aber ich bin all die Jahre vor alldem davongelaufen. Es ist so … unglaublich qualvoll, mich damit auseinanderzusetzen.«
»Oh, Alice«, sage ich und denke in dem Moment, dass es vielleicht doch noch einen Weg für uns gibt. Doch dann vermasselt sie es komplett mit ihrer nächsten Äußerung.
»Bitte nimm ihn mir nicht weg. Das könnte ich nicht ertragen. Wann darf ich ihn wiedersehen?«
Nicht »dich«, sondern »ihn«. Nicht mich, sondern Samuel.
»Leb wohl, Alice«, sage ich.