Heute

Luke

Ich fahre mit dem Taxi von Clerkenwell nach Clapham, zu unglücklich und verwirrt, um es mit der U-Bahn, der Rückkehr ins Büro oder irgendwas anderem aufzunehmen als der Konfrontation, die jetzt ansteht.

Meine Gedanken kreisen nur um Ricks Antwort – »Ich bin nicht dein Vater« – und seine anschließende Weigerung, mir mehr zu verraten.

»Denkst du etwa, sie hat seine Identität ohne Grund vor dir geheim gehalten?«

Er klang wieder ungeduldig und frustriert, dieser Mann, den ich so bewundert habe, zuerst als Kunstfan und dann als jemand, der, wie ich glaubte, eine Art biologischen Anspruch auf mich hat.

»Gut, wenn du es mir nicht sagst, dann zwinge ich Alice dazu«, erwiderte ich mit einer Kühnheit, von der ich jetzt nichts mehr spüre.

Es ist kurz vor halb drei, mehrere Stunden früher, als ich sonst von der Arbeit nach Hause komme, und als ich die Tür aufschließe, frage ich mich, was ich drinnen vorfinden werde. Ich höre Gesang aus der Küche – o Gott, nicht schon wieder dieses verdammte Lied.

Alice hat eine schöne Stimme, und sie klingt glücklich beim Singen, glücklich und versunken. Als ich hereinkomme, bemerkt sie mich zuerst nicht. Sie sitzt mit ihrem Skizzenblock am Küchentisch, Samuel vor sich in seiner Babywippe. Betrachtet ihn mit schräg geneigtem Kopf, ein kleines Lächeln auf den Lippen. Ich könnte ihnen stundenlang zusehen, aber offenbar gehen irgendwelche Schwingungen von mir aus, denn sie blickt plötzlich auf und stößt einen überraschten Schrei aus.

»Luke! Schleich dich doch nicht so an, du hast mich erschreckt.«

Ihre Miene drückt etwas aus, das ich nicht klar einordnen kann – Schuldbewusstsein vielleicht? Als hätte ich sie bei etwas ertappt.

»Warum bist du nicht bei der Arbeit? Bist du krank?«

Könnte man so sagen. Krank im Kopf, krank am Herzen.

»Warum hast du mir nicht die Wahrheit über meinen Vater erzählt?« Mehr Anschnauzer als Frage. »Warum machst du das?«

Und siehe da: Ihr fällt sofort alles aus dem Gesicht. Sie schlägt die Hand vor den Mund und starrt betroffen auf den Tisch.

»Du hast mich gerade gefragt, ob ich krank bin, und ich glaube langsam, ich bin es. Hannah denkt, ich stehe kurz vor einem psychischen Zusammenbruch.«

»Das hat sie gesagt?«

»Unmissverständlich. Sie denkt, dass unser Wiedersehen mich völlig verstört hat.«

»Geht mir genauso«, sagt Alice mit einem halben Lächeln.

Dieses Lächeln, ihre Ungerührtheit, ist der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Meine Wut gleicht einem Vulkan, sie ist größer als ich, größer als alles. Ich kann nicht anders, als ihr nachzugeben und zu brüllen wie ein gepeinigtes Kind.

»Wer ist mein Vater? Wer? Sag’s mir! SAG ES MIR

Alice schreckt vor mir zurück, doch ich kann nicht aufhören. Mir ist nach … Gewalt. Ich schlage mit der Hand auf den Tisch, dass es wehtut.

»Sag mir, wer mein Vater ist. Du musst es mir jetzt sagen!«

Ich warte, ich bin dämonisch, Alice hält schützend die Hände vors Gesicht.

»Ist ja gut!« Jetzt schreit sie auch. »Setz dich hin, Luke. Und beruhige dich, um Himmels willen. Denk an Samuel, wenn schon nicht an mich.«

Trotz des Gebrülls schläft der Kleine seelenruhig weiter. Und sein Anblick – ich sehe den oberen Teil seines Köpfchens über die Wippe ragen – besänftigt mich tatsächlich. Ich setze mich Alice gegenüber. Atme tief ein und langsam wieder aus.

»O Gott. Tut mir leid. Ich bin total ausgeflippt.«

»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Ich verstehe, wie schwer das für dich ist. Aber ich habe lange nicht mehr mit deinem Vater sprechen können. Siebenundzwanzig Jahre genau. Dein Leben lang. In all dieser Zeit habe ich seinen Namen nicht mehr laut gesagt. Ich weiß nicht, ob ich es überhaupt noch kann.«

»Dann schreib ihn auf. Schreib mir einen Brief. Aber sag mir die Wahrheit. Bitte, kann ich endlich die Wahrheit erfahren?«

»Ein Brief ist eine gute Idee. Es gibt so viel zu erklären.«

»Bist du meine Mutter, Alice? Oder ist das auch eine Lüge?«

»Natürlich bin ich das!«

»Ich verstehe nicht, warum du mich wegen Rick angelogen hast.«

»Weil dein wahrer Vater schon fort war, als du geboren wurdest, und Rick eingesprungen ist und sich um dich gekümmert hat und dich geliebt hat, als wärst du sein eigenes Kind. Er war wie ein Vater für dich.«

»Er hat dich also verlassen? Mein Dad? Dein Partner?«

»Ja. Und ich bin nie darüber hinweggekommen.«

»Wer war er, Alice?«

»Ich schreibe dir einen Brief, Luke. Ich erzähle dir alles, versprochen. Noch heute Abend.«

»Danke. Tut mir leid, dass ich dich angeschrien habe. Ich möchte einfach …« Ich zögere unsicher.

»Sprich weiter«, sagt Alice.

»Ich möchte, dass es besser wird zwischen uns.«

Sie nickt, aber ich sehe, dass sie den Tränen nahe ist.

»Dann hoffe ich, dass es hilft, wenn du die Wahrheit erfährst.«

»Lass uns noch mal von vorn anfangen, ja? Geht das?«

Kaum habe ich es gesagt, fällt mir ein, woher der Satz stammt. Christina, meine andere Mutter, hat das immer gesagt, wenn wir uns gestritten hatten. »Sollen wir noch mal von vorn anfangen?«

Vielleicht erkennt auch Alice das Kindliche daran, denn sie lacht und gibt mir die Hand.

»Einverstanden«, sagt sie.

Wir lächeln uns an, und da ist ein Schimmer von gegenseitigem Verständnis, den man als Fortschritt bezeichnen könnte.

»Ich sollte jetzt besser zurück ins Büro.«

Das hätte es sein können, das konstruktivste, verbindlichste Gespräch, das wir seit Wochen hatten. Mit dem Versprechen, dass ich endlich erfahren werde, was damals war.

Ich stehe auf und blicke über den Rand der Babywippe auf meinen schlafenden Sohn. Und in dem Augenblick kippt alles, gerät aus den Fugen, und die momentane Wärme zwischen uns wird von dem Eisesschauer des alten Verdachts verdrängt. Denn Samuel trägt nicht das Gap-Shirt und die Cargohose, in der wir ihn gern sehen, auch nicht einen seiner Schlafstrampler, sondern eine altmodische Latzhose mit gelben und orangefarbenen Streifen, die ihm zu klein zu sein scheint. Alte, überholte, selbst genähte Sachen. Sachen, die in eine andere Zeit gehören, eine andere Ära. Zu einem anderen Baby.

»Seine Kleider«, sage ich und merke, dass Alice mich wachsam beobachtet.

»Nur für die Zeichnung«, sagt sie, doch ich weiß mit der untrüglichen Gewissheit eines Schlags in die Magengrube, dass das nicht stimmt.

Sie zieht mein Kind an wie ihr Kind damals. Unsere kleine Unterhaltung von eben ist bedeutungslos. Sie will nur eines, nämlich dass Samuel ich ist, ihr gehört. Alice will ihr Baby zurück.