Damals
Alice
Am vierten Tag von Jakes Sauftour weiß ich nicht mehr ein noch aus. Wir leben aneinander vorbei. Morgens schläft er zu tief, um mich zu hören, und ich fahre direkt zur Slade, verzichte auf meinen Frühstücks-Cappuccino, weil ich es nicht ertragen könnte, ohne ihn in der Bar Italia zu sitzen. Abends ist er nie zu Hause, weshalb ich es mir angewöhnt habe, allein ins Bett zu gehen und mich zum Einschlafen zu zwingen, wenn ich kann, oder auf das tastende Kratzen und Klappern seines Schlüssels in der Tür zu warten, wenn nicht.
Ich komme nicht mehr an ihn heran, aber ich weiß, dass er Qualen leidet. Das merke ich an den Zetteln, die ich beim Nachhausekommen vorfinde, den zerknirscht hingekritzelten Nachrichten auf einer aus seinem Notizbuch herausgerissenen Seite.
Alice, verzeih mir. Es tut mir so leid. Ich hasse mich selbst. Es wird aufhören, das verspreche ich dir.
Doch es hört nicht auf. Aus vier Tagen werden fünf. Ich rufe Eddie an, und wir verabreden uns für den Mittag, gehen in ein Café in der Nähe des Colleges, wo er ein englisches Frühstück bestellt: halb angebratener Speck, blasse Würstchen, Bohnen, Spiegelei, Dosentomaten, dazu weißen Toast. Mir wird schon beim Anblick schlecht. Ich trinke eine Tasse Tee und versuche, eine gebutterte Toastscheibe herunterzubringen, schaffe aber nur ein paar Bissen.
»Du musst am Durchdrehen sein«, sagt Eddie.
»So ziemlich.«
»Er macht das manchmal, Alice, wenn ihm alles zu viel wird.«
»Ich verstehe nicht, warum ihm das so lange nachhängt. Er hat sich entschieden, nicht zu der Beerdigung zu fahren, damit könnte die Sache doch erledigt sein, oder?«
»Es ist nicht nur die Beerdigung. Das hat was mit seinen Depressionen zu tun, mit Selbsthass, es ist ein Teufelskreis. Es klingt wahrscheinlich verrückt, aber Jake bestraft sich selbst.«
»Aber wofür?«
»Hängt mit seinen Großeltern zusammen. Er hört immer noch ihre Beschimpfungen. Leidet immer noch darunter.«
»Es ist, als würde er mir aus dem Weg gehen.«
»Er geht dir aus dem Weg. Er schämt sich, will nicht, dass du ihn so siehst.«
»Wann hört das auf?«
Eddie zuckt die Achseln. »Früher oder später hat er sich ausgetobt.«
»Sollte er nicht zum Arzt gehen?«
»Sollte er, will er aber nicht. Er wird bald zur Vernunft kommen und aufhören zu saufen. Und dann ist eine Zeit lang alles wieder gut.«
Mitten in der Nacht wache ich auf und spüre Jakes Gegenwart, bevor ich ihn sehe. Er sitzt auf dem Boden, an die Schlafzimmertür gelehnt, als hätte er sich daran herunterrutschen lassen, die Knie an die Brust gezogen.
»Jake?«, flüstere ich, und er antwortet: »Hey.«
Schon an dem kleinen Wort merke ich, dass er nüchtern ist. Sein vom Mond beschienenes Gesicht ist schöner denn je, und ich werde von Sehnsucht nach ihm überwältigt.
»Ich vermisse dich. Kommst du ins Bett?«
Er schüttelt den Kopf.
»Willst du wirklich wissen, was damals passiert ist, als ich sechzehn war?«, fragt er.
»Ja. Wenn du es mir erzählen willst.«
Er braucht so lange, um anzufangen, dass ich schon wieder am Einschlafen bin, als seine Stimme durch die Dunkelheit dringt.
»Meine Großmutter wusste von den Schlägen. Und sie gab mir die Schuld daran. Sagte immer: ›Dein Großvater ist ein guter Mann, aber du reizt ihn bis aufs Blut.‹ Es störte sie, dass ich bei ihnen wohnte, und das ließ sie mich jeden Tag spüren. ›Nicht mal deine eigene Mutter will dich haben‹, sagte sie. ›Meinst du nicht, du solltest dich mal ein bisschen anstrengen, damit man dich gernhaben kann?‹
Ich gab mir Mühe, versuchte, brav zu sein, aber ich konnte es ihnen nie recht machen. Und jedes Mal, wenn mein Großvater mich wieder verprügelt hatte, hieß es: ›Jetzt sieh dir an, zu was du ihn getrieben hast.‹ Ich bin mit dem Gedanken aufgewachsen, dass ich schlecht bin. Aber es gab einen Hoffnungsschimmer, und der half mir durchzuhalten. Sobald ich sechzehn geworden war, sollte ich bei meiner Mutter in London wohnen. ›Wart nur, bis du mit der Schule fertig bist‹, sagte sie, ›wir werden ganz viel Spaß haben, wir zwei.‹ Ich würde mir einen Job suchen und genug Geld verdienen, um mir eine anständige Gitarre zu kaufen. Und dann könnte ich in einer Band spielen.«
Mir ist klar, dass ich nichts sagen und ihn nicht berühren darf, nichts tun darf, das seinen Erzählfluss unterbrechen könnte. Doch ich stehe geräuschlos auf und setze mich mit einigem Abstand zu ihm auf den Boden, in einen Flecken Mondlicht.
»An meinem sechzehnten Geburtstag kam meine Mutter zu Besuch. Sie schenkte mir eine Platte von Van Morrison, und meine Großmutter backte sogar einen Kuchen für mich. Am Morgen darauf sagte meine Mum, sie hätte große Neuigkeiten. Sie würde mit ihrem neuen Freund nach Kanada ziehen, und ich könnte in einem Jahr oder so nachkommen, wenn ich wollte. Sie hätte schon das Flugticket und würde in einem Monat abreisen. Es sei längst beschlossene Sache, aber sie hätte mir nicht den Geburtstag verderben wollen …«
Er schweigt einen Moment, und dieser herzlose Wortbruch vor zehn Jahren klingt zwischen uns nach, entfaltet seine volle Bedeutung.
»Ich wollte mich nicht umbringen. Es war eher eine Verzweiflungstat. Ich sah das Küchenmesser da liegen und fühlte mich davon angezogen. Doch die Ärzte hielten mich für selbstmordgefährdet. Ehe ich wusste, wie mir geschah, war ich in der geschlossenen Abteilung einer psychiatrischen Klinik in Epsom. Neun Monate lang war ich dort eingesperrt.«
»Jake.« Ich rutsche ein Stück näher an ihn heran.
»Nein, ich muss das zu Ende bringen, Alice.«
Er klingt entschlossen, fast kalt, also bleibe ich, wo ich bin, knapp außer Reichweite.
»Meine Mum hat mich ein paarmal besucht, bevor sie nach Kanada ging, aber sie ist nie lange geblieben. Es machte ihr zu viel Angst.«
»Wie war es dort drin?«
»Willst du das wirklich wissen?«
Ich nicke stumm.
»Es war die Hölle. Ich war so zugedröhnt, dass ich jedes Gefühl für mich selbst verlor. Ich habe nur noch dahinvegetiert an diesem Ort, wo die Leute den ganzen Tag gegen die Wände schlugen und schrien und weinten und stöhnten. Da war so ein junger Typ, der mit der Wand sprach, eine richtige Unterhaltung mit Pausen und allem, als würde er mit einem Unsichtbaren reden. Im Zimmer nebenan heulte eine Frau die ganze Nacht, lang gezogene, gequälte Schreie. Die Heulerin nannten sie sie. So viel Wut überall, alle am Schimpfen und Brüllen und Umsichschlagen, die Patienten, das Pflegepersonal. Und diese Traurigkeit. Als würde man die ganze Zeit darin baden. Diese Menschen hatten nichts mehr, und sie bedeuteten niemandem etwas. Und auf einmal war ich einer von ihnen.«
»Musstest du denn dort sein?«
»Nicht neun Monate lang. Ich war depressiv, nicht gefährlich. Doch das war den Ärzten egal. Sie pumpten mich mit Psychopharmaka voll, sodass ich nur noch apathisch herumlag, ein willenloses Bündel. Die Medikamente hielten mich davon ab, etwas zu fühlen, zu leben. Ich existierte nur noch.«
Nach einer Pause spricht er weiter.
»Eddie hat mich gerettet. Er hat mich jede Woche besucht. Und mir immer wieder gesagt: ›Du gehörst nicht hierher.‹ Er war selbst erst sechzehn, aber falls ihn das Ganze erschreckt hat, hat er es nie gezeigt.«
»Warum hast du mir das nicht schon früher erzählt? Warum hat Eddie nichts gesagt?«
»Weil ich meistens so tun kann, als wäre es nicht passiert. Aber jetzt, durch den Tod meiner Großmutter, ist alles wieder über mich hereingebrochen, und dieser ganze Mist, die Erinnerungen waren einfach zu viel …«
Er steht auf, reicht mir die Hand und zieht mich auf die Beine. Dann bin ich in seinen Armen und vergrabe mein Gesicht an seinem Hals, der nass wird von meinen Tränen.
»Du darfst nicht zulassen, dass ich je wieder an einen solchen Ort komme, versprich mir das.«
Jetzt begreife ich so vieles. Ich weiß, warum das Zusammensein mit ihm immer so eine starke Wirkung auf mich hat. Er lebt jeden Moment des Tages intensiv, vom morgendlichen Cappuccino über die Songs, die er hört, bis hin zu den Mahlzeiten, die er abends kocht. Jakes größte Furcht, wird mir bewusst, ist Leere.
»Ich hatte dich verloren«, sage ich, als ich wieder fähig bin zu sprechen. »Du hattest mich verlassen.«
»Das tut mir leid.«
Er drückt seinen Mund in mein Haar, hat die Arme um meine Taille geschlungen. Gleich werden wir ins Bett gehen und uns lieben, bis die Morgendämmerung zu den Fenstern hereindrängt, und dann werden wir eng umschlungen einschlafen, sodass unsere Gesichter sich berühren und unser Atem eins wird.
»Verlass mich nie wieder«, sage ich.
»Ist gut«, sagt Jake. »Versprochen.«
Und ich glaube ihm. Weil ich das muss.