Damals
Alice
Die Loslösung von meinen Eltern ist beglückend und beängstigend zugleich. Zum ersten Mal habe ich meinem Vater die Stirn geboten, und obwohl ich auf der Heimfahrt fast die ganze Zeit geweint habe und Jake nur mit einer Hand lenkte, um mir mit der anderen die Hand zu halten, gibt mir doch ein grimmiger Stolz neuen Auftrieb. Ich bin nicht wie meine Mutter und werde nie so sein.
»Also eigentlich ist das doch total flippig«, sagt Jake mit Betonung auf dem letzten Wort, weil er immer weiß, wie er mich zum Lachen bringen kann. »Wir leben im Jahrzehnt der Befreiung, und du, Alice Garland, kämpfst an vorderster Front.«
Ich schaffe meine Siebensachen – zwei schäbige schwarze Müllsäcke mit Kleidern und Büchern und etwa hundert Skizzenblöcken – von meinem Studentenzimmer in Jakes Wohnung. Mein Shampoo, mein Conditioner stehen nun in seinem Bad, meine Kleider liegen in zwei Schubladen, die er für mich freigeräumt hat.
»Gehen wir ein paar Dinge für dich kaufen, damit du dich hier mehr zu Hause fühlst«, sagt er am ersten Abend, als wir bei Kerzenschein nackt auf seinem braunen Cordsofa liegen.
»Alles, was ich brauche, habe ich hier«, sage ich und streichele über die lang gestreckte S-Form seines Körpers, seinen Oberschenkel, der in die kantige Wölbung der Hüfte übergeht, die Einbuchtung unter seinem Brustkorb.
Jake schüttelt den Kopf.
»Nein, ich meine es ernst. Ich möchte, dass das hier genauso deine Wohnung ist wie meine.«
Er fährt mit mir zu Nice Irma’s Floating Carpet, wo wir dunkelrote Sitzsäcke, Räucherstäbchen, einen Läufer mit braun-orangefarbenem Spiralmuster und einen Wandbehang mit einem juwelengeschmückten Shiva erstehen.
Auch sonst überrascht er mich gern mit Geschenken, Kleinigkeiten anfangs: ein orangefarbener Krug, den er mit Sonnenblumen gefüllt hat, ein Paar gestreifte Wollsocken vom Markt, weil ich immer kalte Füße habe, gebrauchte Exemplare von Zimmer mit Aussicht und Der Leopard zur Einstimmung auf unsere Italienreise.
Als ich eines Nachmittags nach Hause komme, steht sogar ein kleines Holzpult in einer Ecke des Wohnzimmers, so eines, wie wir es früher in der Schule hatten, mit einem Klappdeckel und einer Vertiefung für das Tintenfass. Jake hat es mit meinen Skizzenblöcken und Aquarellfarben gefüllt und meine Stifte in einen Halter aus einer mit hellblauem Papier bezogenen Bohnendose gesteckt. Das ist so rührend, dass ich in Tränen ausbreche und er mich besorgt in den Arm nimmt.
»Ich wollte dir eigentlich eine Freude machen.«
»Ich freue mich ja auch«, sage ich, weinend und lachend zugleich.
»Ich bin jetzt deine Familie. Und du bist meine. Sonst brauchen wir niemanden.«
Abends arbeiten wir jetzt oft noch. Ich zeichne an dem kleinen Pult, während Jake auf dem Sofa oder auf dem Boden sitzt und Akkorde auf seiner Gitarre zupft, Texte in ein Notizbuch schreibt. Wenn er an neuen Songs sitzt, arbeiten wir schweigend und spornen uns gegenseitig durch unsere Konzentration an, sodass wir manchmal erst um ein oder zwei Uhr morgens aufhören.
Wir fallen erschöpft ins Bett und schlafen sofort ein, aber manchmal wache ich ein paar Stunden später auf und merke, dass ich allein bin. Ich taumele schlaftrunken ins Wohnzimmer, und sehe Jake dort sitzen, umgeben von brennenden Kerzen, über seine Gitarre gebeugt. Einmal habe ich ihn von der Tür aus beobachtet, und der Ausdruck auf seinem Gesicht hat mich erschreckt. Mir war klar, dass ich Zeugin von etwas sehr Persönlichem war, etwas, das er stets zu verbergen versuchte. Ich schlich mich zurück ins Bett, konnte aber den Schmerz nicht vergessen, den ich auf seinem Gesicht gesehen hatte, Schmerz und noch etwas anderes, Bedrohlicheres. Es wirkte auf mich wie Hass oder Verzweiflung. Ich lag wach, wartete darauf, dass er zu mir kam, und nahm mir wieder einmal vor, ihn dazu zu bringen, mir von seiner Vergangenheit zu erzählen. Zusammen würden wir diese schlimmen Erinnerungen ausmerzen, würden ihn stark machen.
Zumindest was seine Musik angeht, ist Jakes Selbstvertrauen ungebrochen. Nie beschleichen ihn irgendwelche Zweifel, ob er das Zeug zum Erfolg hat.
Mir dagegen kamen schnell Bedenken, nachdem Robin mir die Ausstellung in seiner Galerie angeboten hatte.
»Ich bin noch nicht gut genug für so was«, jammerte ich immer wieder, bis Jake schließlich die Geduld verlor.
»Wie sollen denn die Leute an dich glauben, wenn du nicht mal an dich selbst glaubst? Robin hat dir die Ausstellung nicht angeboten, um mir einen Gefallen zu tun. Er ist Geschäftsmann, er denkt, dass deine Arbeiten sich verkaufen werden. Er ist davon überzeugt.«
Jake meint – und hat natürlich recht damit –, dass eine Kindheit im Schatten eines unberechenbaren, jähzornigen Vaters mein Selbstbewusstsein untergraben hat. Doch langsam lerne ich dazu.
Mehr als jeder andere Kunsthändler oder Galerist in London hat Robin Armstrong die Macht, eine Künstlerkarriere voranzutreiben, und ich versuche, mich nicht als Hochstaplerin zu fühlen, weil ich diese Chance bekomme statt Rick oder sonst jemand von den Stars aus den höheren Jahrgängen.
Kaum hat Lawrence Croft von meiner bevorstehenden Ausstellung erfahren, ruft er mich zu einer Besprechung mit Gordon und Rita.
»Ich kann mit Bestimmtheit sagen, dass so etwas noch nie einem unserer Studenten im ersten Jahr passiert ist. Meinen Glückwunsch, Alice«, sagt er. »Was für eine Möglichkeit. Nun müssen wir überlegen, wie wir Sie am besten unterstützen.«
»Du hast es verdient«, sagt Rita. »In letzter Zeit hast du wirklich Hervorragendes geleistet im Unterricht. Du hast viel an dir gearbeitet.«
Das stimmt. In den vergangenen zwei Wochen haben Jake und ich kaum geschlafen und die Nächte durchgearbeitet. Ich finde es wunderbar, dieses stillschweigende Übereinkommen, uns ganz unserer Kunst zu widmen. Jake habe ich es zu verdanken, dass ich mich mittlerweile wie eine Künstlerin und nicht wie eine Schwindlerin fühle.
»Ich fände es sinnvoll, Alice zu gestatten, sich im nächsten Semester ganz auf ihre Arbeit für die Ausstellung zu konzentrieren, das sollte dann auch für ihren Abschluss zählen«, sagt Gordon. »Rita und ich können ihre Fortschritte mit Einzeltutorials überwachen. Es stimmt, dass du große Fähigkeiten hast und Anerkennung verdienst. Aber was dich wirklich von deinen Kommilitonen unterscheidet, ist dein Mumm.«
Hinterher geht Jake mit mir zu Kettner’s, unserem Stammlokal, wenn es etwas zu feiern gibt, egal ob es etwas Großes oder Kleines ist. Wir bestellen Pizza Vier Jahreszeiten und trinken den weißen Hauswein aus einer kleinen Karaffe.
»Was dich auszeichnet, Alice Garland«, sagt er mit pseudo-schottischem Akzent, »ist dein Mumm!«
Später dann, als wir aneinandergekuschelt im Bett liegen, nimmt er meine Hand.
»Er hat aber recht, weißt du«, sagt er. »Du hast wirklich Mumm. Und das kommt von deiner Kindheit, weil du all die Jahre mit diesem Widerling von deinem Vater durchgestanden hast. Dich gegen ihn behauptet hast, so wie neulich. Ich bin stolz auf dich.«
Ich kann sein Gesicht im Dunkeln nicht erkennen, aber ich weiß, dass er mich auf diese spezielle Art ansieht, als wollte er seine Gedanken wortlos auf mich übertragen.
»Du bist eine Überlebenskünstlerin, Alice«, sagt er, kurz bevor wir beide einschlafen.
Ein hingeworfener Satz, der sich als ungeahnt vorausschauend erweisen sollte.