Damals
Alice
Ich wusste, dass meine Eltern es früher oder später herausfinden würden. Zum Beispiel, indem sie jeden Tag sämtliche Krankenhäuser abtelefonierten. Möglich auch, dass das Krankenhaus sie informiert hat, die Eltern dieser unverheirateten und offenbar unstabilen jungen Mutter, die beim Stillen ihres Baby so sehr weint, dass sein flaumiges Köpfchen nass von Tränen ist.
Sie kommen am dritten Tag meines Aufenthalts, als Charlie neben mir in seinem Rollbettchen schläft. Ich freue mich immer, wenn er von der Neugeborenenstation herübergebracht wird, alle vier Stunden zum Stillen.
»Deine Eltern sind endlich da, Liebes«, sagt Penny, die netteste der Schwestern, mit dem weichen schottischen Akzent und den norwegisch hell blondierten Haaren.
Mein Vater trägt Anzug und Krawatte, seltsam förmlich für einen Krankenhausbesuch, und auch meine Mutter hat einen Rock mit passender Bluse an, ihre selten getragene Perlenkette eine weitere Unstimmigkeit, ein Hinweis auf etwas, das ich nicht verstehe. Sie hält einen Strauß Nelken in Zellophan in der Hand – habe ich ihr nie gesagt, wie sehr ich Nelken hasse? –, den ich wegwedele.
»Auf den Tisch da, danke«, sage ich.
Meine Mutter will meine Hand nehmen, doch ich ziehe sie rasch weg.
»Es tut mir so leid«, sagt sie.
»Schau dir das Baby an.« Ich deute auf Charlie in dem einsehbaren Rollbettchen, der mit der Faust an der Wange und dem rosigen Schmollmund schläft.
»Sehr hübsch«, sagt meine Mutter.
»Also, Alice«, sagt mein Vater, ohne zu ihm hinzusehen, und setzt sich auf den Stuhl an meinem Bett.
Ich blicke unverwandt auf meinen wunderschönen schlafenden Sohn, Jakes Sohn, und versuche, das Dröhnen meines Vaters auszublenden.
»Wir sind gekommen, um dir zu helfen. Und wir vergeben dir, ganz und gar. Lass uns gemeinsam ein neues Kapitel aufschlagen. Ich bin sicher, dass du für dieses Kind …«
»Mein Kind, nicht dieses …«
»Dein, äh, Kind nur das Beste willst. Deshalb haben wir Mrs. Taylor Murphy von der Adoptionsagentur gebeten, sich hier mit uns zu treffen. Nur zu einer ersten Unterhaltung, ganz unverbindlich, verstehst du, damit du mehrere Möglichkeiten hast.«
»Verschwinde, verdammt! Ich gebe mein Kind nicht her.«
Diesmal übergeht er mein Fluchen (früher habe ich nie geflucht, es erstaunt mich genauso wie ihn), aber ich sehe, wie er violett anläuft, erkenne die Gewalt in seinem Blick.
»Hast du darüber nachgedacht, wie du ohne die Unterstützung deines … äh … Freundes zurechtkommen willst? Wie deine Mutter schon sagte, uns tut das alles sehr leid. Aber du hast keine Wohnung, Alice, und kein Geld. Bitte sei vernünftig. Wirf dein Leben nicht weg. Du könntest dich den Sommer über bei uns zu Hause erholen und dann im Herbst dein Studium wieder aufnehmen. Es wird sein, als wäre das alles nie passiert.«
»Schafft ihn raus!«
Niemand reagiert. Mein Vater sitzt auf seinem Stuhl und starrt mich an mit seinem roten Gesicht und den hervorquellenden Augen; meine Mutter blickt aus dem Fenster mit dem maskenhaften Ausdruck, den sie sich über die Jahre antrainiert hat. Ihr Leben ein einziges ununterbrochenes Sinnieren.
In dieses heitere Familienidyll kommt Mrs. Taylor Murphy getrippelt, angezogen wie für eine Gartenparty und mit dem passenden munteren Tonfall, der nicht einmal aufgesetzt wirkt.
»Alice, meine Liebe, was Sie alles durchgemacht haben! Ich hoffe, es stört Sie nicht, dass ich hier so hereinplatze?«
Sie gibt einen entzückten Ausruf von sich beim Anblick meines schlafenden Kindes – »Ist er nicht wunderhübsch?« – und fragt dann meine Eltern, ob sie kurz mit mir allein sprechen könne.
»Wenn es Ihnen recht ist, Alice?«
»Am besten, die kommen gar nicht wieder.«
Trotz ihres geblümten Kleids, ihres Parfüms – zu stark, zu süßlich, jetzt, da sie neben mir steht –, ihrer dunkelroten Lippen und der Lackpumps finde ich diese Frau auf Anhieb sympathisch.
Sobald meine Eltern den Raum verlassen haben, zieht sie den Vorhang um mein Bett herum zu.
»Damit wir ein bisschen Privatsphäre haben«, sagt sie.
Sie setzt sich auf den Stuhl, den mein Vater gerade geräumt hat, und betrachtet mich mit schräg gelegtem Kopf.
»Wie um alles in der Welt verkraften Sie das? Mutterschaft und Trauer, beides auf einen Schlag, Sie armes Ding.«
Ich erlaube ihr, meine Hand zu nehmen, während ich weine. »Lassen Sie nur alles heraus«, sagt sie, »das hilft. Man fühlt sich besser, nachdem man sich ordentlich ausgeweint hat.«
Danach sagt sie nichts mehr, hält einfach schweigend meine Hand. Was gäbe es auch zu sagen? Welchen Trost hätte sie mir schon zu bieten?
Nach einer Weile beginne ich, ihr mein Herz auszuschütten.
»Er hatte sich so auf das Baby gefreut«, sage ich, während Mrs. Taylor Murphy nickt und zuhört. »Wir haben abends im Bett gesessen und uns Namen überlegt. Charlie war am Ende unser Favorit, sowohl für ein Mädchen als auch für einen Jungen. Wir haben über unsere Zukunft geredet, wie wir es hinkriegen würden mit meiner Kunst und seiner Musik. Wie ich trotz Baby meinen Abschluss machen könnte. Wie ich zurechtkommen würde, wenn er auf Tournee ist. Wir hatten alles so schön geplant.«
»Ja, das glaube ich.«
»Er wollte sich nicht umbringen, das weiß ich. Er wollte nur nicht in eine Klinik. Es ist im Affekt passiert. Er wollte für mich und das Kind da sein, das hatte er noch kurz vorher zu mir gesagt.«
»Es ist eine Tragödie. Ich kann mir nicht einmal vorstellen, wie es in Ihnen aussieht.«
»Ich will Charlie nicht weggeben. Er ist alles, was ich noch habe.«
»Das verstehe ich sehr gut. Mir würde es genauso gehen. Aber ich möchte Ihnen etwas über Babys sagen, Alice. Sie saugen alles aus ihrer Umgebung auf wie ein Schwamm, und die Trauer, die Sie jetzt durchmachen, wird sich auf den Kleinen auswirken. Vielleicht können Sie für einen Augenblick aus Ihrer eigenen Situation heraustreten und sich die zwei Wahlmöglichkeiten ansehen, die es für Charlie gibt. Und dann überlegen, welche Sie für die bessere halten. Er könnte bei Ihnen, seiner natürlichen Mutter aufwachsen, die ihn von Herzen lieben und gewiss alles daransetzen würde, ihm ein gutes Leben zu ermöglichen. Es wäre allerdings schwer, sowohl für Sie als auch für ihn. Schwer, den Lebensunterhalt für beide zu verdienen. Schwer, Ihre gerade begonnene Laufbahn als Künstlerin fortzusetzen. Schwer, eine anständige Unterkunft zu finden. Sehe ich das richtig, dass Ihre Eltern die Entscheidung, das Kind zu behalten, nicht unterstützen?«
»Meine Eltern sind Arschlöcher.«
»Auf der anderen Seite«, fährt Mrs. Taylor Murphy ungerührt fort, »könnte Charlie bei einem Paar aufwachsen, das sich sehnlichst ein Kind wünscht, insbesondere einen kleinen Jungen, und genug Geld hat, um ihm die beste Schulausbildung zu ermöglichen, dazu ein schönes Haus in Yorkshire mit einem großen Grundstück, Swimmingpool und Tennisplatz.«
»Geld interessiert mich nicht. Wir reden hier über das Leben meines Kindes.«
»Eben. Sie verstehen doch, Alice, wie verschieden die Voraussetzungen für Charlie wären, oder?«
Und das Schlimme ist, das tue ich tatsächlich. Was sie sagt, ihre Argumente, das Angebot für meinen Sohn – es klingt alles so einleuchtend. Ich bin nicht sicher, ob ich es schaffe, ihn allein aufzuziehen. Wo soll ich wohnen? Wie mein Studium abschließen? Wie uns ernähren? Ich könnte vielleicht irgendeine staatliche Unterstützung für Alleinerziehende bekommen, aber würde das für Miete, Essen, Kleidung, Heizung reichen, all die Dinge, über die ich mir noch nie Gedanken zu machen brauchte? Ich bin gerade erst zwanzig Jahre alt und weiß nicht, wo ich anfangen soll.
Penny kommt herein, um Charlie zum Baden zu fahren.
»Möchtest du eine Tasse Tee, Schätzchen? Dein Besuch vielleicht auch?«
Vielleicht liegt es einfach daran, dass ich meinen Sohn in dem Moment nicht vor Augen habe. Jedenfalls murmele ich, als die Frau die Adoptionsunterlagen hervorholt, damit ich sie mir »unverbindlich« – ständig betonen sie das – ansehen kann: »Sagen Sie mir einfach, wo ich unterschreiben soll.«
Meine Eltern sehe ich nie wieder, obwohl ich sicher bin, dass Mrs. Taylor Murphy ihnen die gute Nachricht, die bevorstehende Adoption meines Sohns, prompt mitgeteilt hat.
Kurz bevor sie geht, fragt sie mich, warum ich Rick als Kindsvater angegeben habe und nicht Jacob.
»Die Schwestern haben ihn nur bleiben lassen, weil er sagte, er wäre der Vater.«
»Wissen Sie was, Alice? Vielleicht ist das eine gute Sache. Dann wird Ihr Kind später, wenn es Kontakt zu Ihnen aufnehmen will, zwei Elternteilen begegnen können statt nur einem.«
Damit flößt sie mir eine Fantasievorstellung ein, an die ich mich klammere, die Aussicht, mein Kind wiederzusehen, wenn es groß ist.
Während der letzten gemeinsamen Tage rationieren die Schwestern in dem Wissen, dass ich ihn adoptieren lasse, meine Zeit mit Charlie.
»Pass auf, dass sie ihn nicht zu sehr lieb gewinnt«, höre ich eine von ihnen zu Penny sagen, die ihn manchmal außerhalb der Stillzeiten zu mir hereinschmuggelt. »Sonst fällt es ihr nur schwerer, sich von ihm zu verabschieden.«
Von ihm verabschieden. Wie soll das möglich sein? Jedes Mal, wenn ich daran denke, bekomme ich akute Herzschmerzen, ein Stechen, als würde ich von einem Speer durchbohrt. Beim nächtlichen Stillen, immer pünktlich um drei Uhr morgens, bin ich im Dunkeln mit ihm allein und flüstere ihm meine Geheimnisse zu, träufele Wünsche und Träume in seine kleinen Ohren, während draußen vor dem Klinikfenster die Sterne am Himmel blinken.
»Du wirst mal wie dein Vater. Groß und gut aussehend und witzig und mutig. Musikalisch. Künstlerisch begabt. Ich werde dich immer lieb haben, und wenn du achtzehn bist, finden wir uns wieder.«
An unserem letzten Tag – Mrs. Taylor Murphy soll Charlie um zehn am nächsten Morgen abholen und zu seinen Adoptiveltern bringen – kommt Rick zu Besuch.
»Tee und Kekse, Richard?«, fragt Penny, die ganz vernarrt in ihn ist und ihm immer die mit Vanillecremefüllung bringt.
»Sie sind eine Superfrau«, sagt Rick. »Meinen Sie, wir könnten ein paar Minuten ungestört sein? Ich will mich nur vergewissern, dass es Alice gut geht im Hinblick auf morgen.«
»Überlasst das ruhig mir«, sagt Penny und zieht die Vorhänge um das Bett zu.
Zuerst sehen wir uns nur an, brauchen keine Worte.
»Hack nicht auf mir herum, Rick.«
»Er sieht Jake jetzt schon so ähnlich, dabei ist er erst ein paar Tage alt. Stell dir mal vor, wie er mit zwölf, achtzehn, zwanzig sein wird. Und du wirst das nicht miterleben können. Wie willst du das aushalten?«
»Ich habe keine andere Wahl. Jedenfalls, wenn ich das Beste für ihn will. Und das will ich, ob du’s glaubst oder nicht. Wo soll ich denn wohnen? In eurem besetzten Haus?«
Rick schüttelt den Kopf. Er grinst, nimmt meine Hand und küsst sie.
»Weißt du was«, sagt er, »mir ist gerade eine geniale Idee gekommen.«