Heute

Luke

Offen gestanden bin ich ein bisschen süchtig geworden nach meinem Amateurdetektivtreiben. Ich bin nämlich gut darin, das ist es. Der Tagesablauf von Alice und Samuel ist mir bestens bekannt, ich weiß genau, wo sie in meiner Mittagspause sein werden. Meistens debattiere ich morgens ein bisschen mit mir. Heute wirst du deine Mutter nicht beschatten, nehme ich mir vor, wenn ich mich an den Schreibtisch setze. Doch schon mittags überkommt mich wieder das Verlangen. Ich brauche meine Dröhnung, muss sehen, beobachten, kontrollieren. Ich möchte Alice’ Parfüm in der Luft schnuppern, Zitrus, Zeder, Feige, diesen undefinierbaren und doch so speziellen Duft, der mich langsam, aber sicher in den Wahnsinn treibt.

Alice, stelle ich fest, ist ein Gewohnheitsmensch. Nachdem sie Samuel mittags gefüttert hat – stets unerbittlich pürierte Pampe, der arme Kerl –, fährt sie ihn im Park oder auf der High Street spazieren, je nachdem, ob sie vormittags zum Einkaufen gekommen ist oder nicht. Manchmal machen sie bei der Bücherei halt, aber ihnen dort hineinzufolgen, habe ich mich bisher nicht getraut. Ich warte vor dem alten Sandsteingebäude und sehe dem Kommen und Gehen zu: Clapham-Mamis, die ihre Buggys die Treppe hinaufbugsieren, Rentner, die Zeitung lesen wollen oder auf ein Hallo hier und da hoffen, einmal ein zotteliger Penner, der wenige Minuten später wieder hinausgeworfen wurde.

Mir ist es lieber, wenn sie, wie heute, einkaufen gehen und ich ihnen nur mit etwas Abstand folge. Ich mag es, hinter Alice herzulaufen, man kann einiges aus dem Verhalten von jemandem schließen, der sich unbeobachtet fühlt. Ich sehe, dass sie froh und gelöst ist, gelegentlich höre ich sie sogar singen – sie hat eine gute Stimme, klar und kräftig. Vor allem aber beobachte ich, wie liebevoll sie sich um Samuel kümmert, sanft mit ihm spricht, wenn er wach ist, ihm ständig erzählt, was um ihn herum vorgeht. Ich verstehe aus der Distanz nicht genau, was sie sagt, höre nur ein Murmeln. Manchmal bleibt sie stehen und dreht den Kinderwagen zu einem Schaufenster herum, um ihm etwas Interessantes zu zeigen. Beim Metzger mit den hängenden Schweineteilen im Fenster kommt mir das ein bisschen unsensibel vor nach Samuels Mittagessen aus Möhrenbrei.

Einmal wäre ich fast aufgeflogen, als sie plötzlich vor Arcadia, dem Geschenkeladen, anhielt. Ich stand völlig ungeschützt da, starr vor Angst, dass Alice nach links blicken und mich entdecken könnte, ihren Sohn, Samuels Vater, der sich hier in übler Absicht herumtreibt. Ein Moment, der mich vorübergehend wachrüttelte.

Scheiße, Mann, was soll das?

Ich rede mir ein, dass ich Alice ab und zu kontrollieren muss, so wie es jeder Vater tun würde, der sich vergewissern will, dass die Frau, der er sein Kind anvertraut hat, ihren Job gut macht.

Heute stehe ich seit knapp fünf Minuten am Anfang der Clapham Manor Street, als Alice und Samuel direkt an mir vorbeikommen. Ich rieche ihr Parfüm. Sie wollen vielleicht zu Woolworth, Alice geht oft dorthin. Ich habe es schon ein- oder zweimal riskiert, zwischen den Krabbeltischen herumzuschleichen, um sie im hinteren Teil des Kaufhauses zu beobachten, wie sie Keksdosen oder Ofenhandschuhe begutachtete, die später in unserem Haus auftauchten. Noch eine kleine Aufmerksamkeit von ihr, etwas Nützliches, eine gute Neuerung, so wie die Korkpinnwand, die sie in der Küche aufgehängt hat.

»Damit wir uns Mitteilungen hinterlassen können«, sagte sie. »Und ich besorgen kann, was ihr braucht.«

So einfach, so naheliegend, ich weiß gar nicht, wie wir bisher ohne ausgekommen sind. Und Alice macht uns diese Geschenke so beiläufig und charmant, dass es leichtfällt, sie anzunehmen.

Ich hatte recht, sie steuern Woolies an, sehr gut. In so einem Laden kann ich mich notfalls damit herausreden, dass ich Stifte oder ein Notizbuch bräuchte, weil ich mein Schreibzeug im Büro vergessen hätte.

Wie immer schiebt Alice den Kinderwagen in den hinteren Verkaufsbereich. Sie sieht sich aber weder Küchenutensilien noch Schreibwaren an, sondern eine Auswahl an Spielzeug auf der linken Seite. Aus einiger Entfernung sehe ich sie zu einer Handpuppe greifen, einem orange-gelb-braunen Filzhuhn. Sie streift es über, hackt mit dem Schnabel nach Samuel und ahmt sehr naturgetreu ein Gackern und dann Kikeriki-Rufe nach. Ganz Woolworth muss Samuels Lachen hören, sein fröhliches, ausgelassenes Jauchzen. Ich schleiche mich ein Stück näher heran, magisch angezogen von der Szene, lauere drei Reihen entfernt bei einem Restposten von Caterpillar-Boots. Ich nehme ein Paar aus der Schachtel und tue so, als würde ich sie prüfend mustern.

Das Puppenspiel geht weiter. Alice hat sich jetzt ein Plüschkrokodil genommen, grasgrün mit hellgelbem Bauch und knallrotem Maul. Das lässt sie ein paarmal vor Samuel auf- und zuschnappen, stößt dann damit herab und zwickt ihn in die Nase. Noch mehr ungestümes Lachen, und Alice lacht jetzt auch. Die beiden können endlos Spaß miteinander haben. Gerade will ich meinen Beobachtungsposten verlassen, als eine blonde junge Frau mit einem Kleinkind an der Hand auf die beiden zugeht.

»Hallo«, sagt sie. »Ich habe Sie schon beim Kinderkreis in der Bücherei gesehen. Wie alt ist denn Ihr Kleiner? Er ist entzückend.«

»Sechs Monate, fast sieben«, sagt Alice. »Und Ihrer? Ein Jahr älter, oder?«

»Ja, achtzehn Monate jetzt. Ich bin übrigens Kirsty.«

»Schön, Sie kennenzulernen. Ich heiße Alice. Und das ist …«

»Möchten Sie die gern anprobieren?«

Das Mädchen vor mir in dem grünen Woolies-Nylonshirt sieht mich misstrauisch an. Vielleicht hat sie mich beobachtet. Vielleicht fragt sie sich, wieso ein junger Typ wie ich über einen Stand Schuhe zu einer Frau mittleren Alters mit einem Baby hinspäht.

Ich bin zu verdattert, um gleich zu antworten. Alice hat nicht richtiggestellt, dass Samuel nicht ihr Kind ist, dass sie ihn nur betreut. Sie hat so getan, als wäre er ihr Sohn.

»Nein, nein, danke.« Ich dränge mich an der Verkäuferin vorbei, nicht in der Lage, mich höflich zu benehmen.

Draußen renne ich die Straße entlang und merke erst nach ein paar Minuten, dass ich von der U-Bahn-Station weglaufe statt darauf zu, so sehr beschäftigt mich diese neueste Entwicklung. Gibt Alice Samuel wirklich für ihr Kind aus? Oder habe ich, paranoider Spinner, der ich bin, voreilige Schlüsse gezogen? Wenn ich Hannah davon erzählen würde, würde sie mich erstens für durchgeknallt halten, weil ich meiner Mutter in meiner Mittagspause hinterherspioniere – ich spioniere nicht, Hannah, ich kontrolliere –, und zweitens sagen, dass ich nicht albern sein soll. Ich höre direkt ihre Argumente.

»Alice sieht viel jünger aus, als sie ist, wahrscheinlich hält man sie ständig für Samuels Mum. Manchmal hat man eben keine Lust auf Erklärungen, das ist alles.«

Womit sie wahrscheinlich recht hätte. Doch das hemmt nicht die kalte, ahnungsvolle Furcht, die sich in meiner Brust ausbreitet. Ich bin dein Kind, Alice. Ich, nicht Samuel.

Ich merke, wie das klingt. Infantil, unreif, borderline-psychotisch. Tatsache aber ist: Ich bin ein Kind, das weggegeben wurde, und werde es immer sein. Ich bin liebeshungrig. Ich bin gestört. Ich giere danach, beachtet zu werden.

Auf der Treppe hinunter zur Station Clapham Common wische ich mir die Tränen weg und sehe der harten, hässlichen Wahrheit ins Gesicht: Ich bin eifersüchtig auf meinen eigenen Sohn.