Damals

Alice

Er ist tot. War noch nicht tot, als ich ihn fand, nicht richtig, nicht klinisch, nicht vollständig. Er starb kurz darauf im Krankenwagen, wie man mir sagte. Doch mein Verstand kann diese Information nicht fassen, also liege ich nur auf unserem Bett, Vorhänge gegen das Tageslicht zugezogen, ein paar Hemden von ihm als Decke, die Ärmel um mich geschlungen. Rick ist bei mir, während aus Stunden Tage werden, und er sagt nichts außer gelegentlich meinen Namen, ein geflüstertes Alice, weil er versteht, dass es nichts zu sagen gibt.

Leute kommen und gehen. Eddie, Tom, Robin. Ich spreche mit niemandem, Robin kümmert sich um alles.

Sie reden von Beerdigung, ein grässliches, aufdringliches Wort, aber ich werde hier bleiben in meiner Starre, und Rick wird wissen, ohne dass ich es ihm zu sagen brauche, dass das alles ist, was ich tun kann.

Er bringt mich dazu, Wasser zu trinken und etwas zu essen, winzige, puppenmundgerechte Stückchen Brot – »Für das Baby«, sagt er –, und obwohl das Kind in meinem Bauch sich bewegt und tritt und bereit scheint, sich herauszukämpfen, spüre ich keine Verbindung mehr zu ihm.

»Alice, möchtest du hier in der Wohnung bleiben?«, fragt Rick. »Robin wird die Miete weiterzahlen, bis du weißt, was du machen willst«, aber ich mag das Thema nicht, weil er mir damit Veränderung hinter meine Augenlider zwingt.

»Hierbleiben«, sage ich, denn auch wenn ich an nichts denke, Nichtdenken mein selbst gewählter Zustand ist, glaube ich irgendwo in den hinteren Regionen meines Bewusstseins, dass Jake immer noch unterwegs auf Tour ist. Und ich auf seine Rückkehr warte.

Rick lässt mir ein Bad ein, das Wasser ist kaum mehr als lauwarm. »Wir wollen doch das Baby nicht verbrennen«, sagt er und stützt mich beim Hineinsteigen. Er nimmt das Shampoo und wäscht mir die Haare, und als ich fertig bin, hält er mir ein Handtuch hin und wickelt mich darin ein wie ein Kind. Nachdem er mich abgetrocknet hat, reicht er mir einen alten blauen Bademantel von Jake, der so stark nach ihm riecht, nach diesem Duft aus Zedern und Farn und Zitrone, dass es mich aufrüttelt und ich echte Tränen des Grams weine, weine wie zum ersten Mal.

Wir setzen uns auf das braune Sofa, Rick nimmt mich in die Arme, und wir weinen und weinen, während das Licht hinterm Fenster schwindet.

»Was soll ich jetzt machen?«, frage ich ihn, und er schüttelt den Kopf.

»Wir werden das irgendwie durchstehen. Eine Minute nach der anderen, wenn’s sein muss.«

Das Baby kommt in derselben Nacht. Ich wache auf, das Bettlaken unter mir ist durchnässt, und humpele hinüber ins Wohnzimmer, wo Rick auf dem Sofa schläft.

»Die Fruchtblase ist geplatzt«, sage ich, und er ist schon hellwach, bevor ich ausgeredet habe.

Ohne mein Wissen hat Rick die Babybücher studiert und weiß genau, was zu tun ist.

»Wir rufen im Krankenhaus an und sagen Bescheid. Aber wir sollten nicht zu früh hinfahren, sonst schicken sie uns nur wieder weg. Wir müssen warten, bis die Wehen im Abstand von fünf Minuten kommen.«

Es hat fast etwas Komisches, hier mitten in der Nacht mit Rick zu sitzen und Kräutertee zu trinken, während er Dauer und Abstand meiner Wehen mit seiner Armbanduhr misst.

»Das war eine mächtige, hat dreißig Sekunden gedauert. Wird jetzt nicht mehr lange dauern.«

Obwohl es höllisch wehtut, reagiere ich kaum, während die Kontraktionen durch mich hindurchschneiden. Danach habe ich mich gesehnt, dass mein Körper von Schmerz zerrissen wird.

Die erste Hürde im Elizabeth-Garrett-Anderson-Krankenhaus ist, dass sie Rick wegschicken wollen.

»Nur Familienmitglieder oder Ehepartner«, heißt es, und als ich zu weinen anfange, brüllt er: »Aber ich bin der Vater des Kindes, Herrgott noch mal, zählt das denn gar nichts?«, und ich weiß nicht, ob sie ihm glauben oder nur meinen Tränenfluss stoppen wollen, jedenfalls darf er dann doch bleiben.

Die Hebammen finden mich eigenartig, unbegreiflich, gestört. Die Schmerzen werden immer stärker, während mein Muttermund sich öffnet, meine Gebärmutter sich zusammenzieht und meine Bauchmuskeln zu einer Hülle aus Stahl werden. Und ich bin süchtig danach.

»Nein!«, schreie ich bei einer weiteren heftigen Wehe und lehne mit abwehrender Geste Lachgas und Sauerstoff ab, erst recht Pethidin und Periduralanästhesie. Ansonsten bin ich vollkommen still – »stoisch«, sagt eine Hebamme zu Rick –, nur eine einzelne Träne quillt, als ich daran denke, dass Jake sein Kind nie sehen wird.

Dann die letzten Momente der Entbindung, der überwältigende Drang zu pressen, und Rick, der ruft: »Der Kopf ist zu sehen. Oh, Liebste, das Baby kommt!«

Das Baby ist heraus, die Nabelschnur durchtrennt, und das Neugeborene schreit, leise und lang gezogen, eher das Wimmern eines Kätzchens.

»Es ist ein Junge, Alice«, sagt Rick, aber das wusste ich schon.

Er darf das Kleine als Erster halten, eingewickelt wie ein Paket in eine weiße Decke, nur ein Stückchen tiefrosa Haut schimmert hervor. Fasziniert betrachtet er das Bündel in seinen Armen, während er in dem kleinen, heißen Zimmer herumgeht.

»Du erinnerst mich an Josef aus dem Krippenspiel in der Schule«, krächze ich, worauf er sein lautes, ausgelassenes Lachen lacht.

»Hier, bitte sehr.« Rick legt mir meinen Sohn an die Brust. »Du bist dran.«

Er schiebt die Decke vom Gesicht des Kleinen weg, und wir sehen ihn uns zum ersten Mal richtig an. In dem Moment öffnet er die Augen, und er ist es, unverwechselbar. Ich beiße mir auf die Lippen, aber die Tränen sind nicht aufzuhalten, und Rick weint ebenfalls.

Die Hebamme kommt mit einem Klemmbrett herein.

»Name der Mutter, Alice Garland, Name des Vaters, Richard Fields, Zeit der Geburt, sechs Uhr siebzehn. Wollte nur noch mal alles überprüfen, ehe wir das losschicken.«

Rick sieht mich an, und ich nicke entschieden.

»Ja«, sagt er, »das stimmt so.«

»Und haben wir auch schon einen Namen für das Kind?«

»Charles Jacob Garland«, antworte ich nach kurzem Überlegen, und meine Stimme klingt fest und klar, obwohl es das erste Mal ist, dass ich seinen Namen seit seinem Tod wieder ausspreche.

Als die Hebamme weg ist, beugt Rick sich über das Bett, über das Baby, und flüstert mir ins Ohr.

»Alice Garland, du bist eine Überlebenskünstlerin.«

Genau das hat Jake auch einmal zu mir gesagt.

Und wenn er der Meinung war, wenn er es glaubte, sage ich mir, dann muss es wahr sein.