Heute
Luke
Heranwachsende Adoptivkinder neigen dazu, ihre wahren Gefühle zu verbergen. Das kann zur Gewohnheit werden und sich bis ins Erwachsenenalter fortsetzen.
Joel Harris, Wer bin ich? Das verborgene Trauma adoptierter Kinder
Mittagszeit an einem normalen Dienstag, ich will mit Alice und Samuel in den Park. Einer der Vorteile, wenn man in der Musikindustrie arbeitet, ist, dass in der Branche lange Mittagspausen üblich sind. Ich habe also reichlich Zeit, nach Hause zu fahren, mir ein Sandwich zu machen und dann zum Clapham Common aufzubrechen.
Ich hatte erwartet, Alice zu Hause anzutreffen, Samuel beim Vormittagsschläfchen auf seinem Schaffell, doch es ist niemand da. Das ist mein Haus hier, warum schleiche ich dann herum wie ein Eindringling, nehme Alice’ Sachen in die Hand und untersuche sie? Ein Schal hängt überm Treppengeländer, lang und aus feiner blauer Seide mit einem Muster aus roten und cremefarbenen Blumen. Ich befühle ihn, er ist wunderbar weich, und kann den Drang, ihn ans Gesicht zu halten und daran zu schnuppern, nicht unterdrücken. Ihr Duft ist mir schon öfter aufgefallen, etwas Würzig-Zitrusartiges, eher wie ein Aftershave als ein Parfüm. Den Kopf über mich selbst schüttelnd, werfe ich ihn wieder übers Geländer – was bin ich eigentlich für ein Loser?
In der Küche stelle ich fest, dass Alice uns schon etwas zum Abendessen gemacht hat. Unser orangefarbener Le-Creuset-Topf steht auf dem Herd. Ich hebe den Deckel ab und spähe hinein: Rindfleischeintopf mit schwammig aussehendem Wurzelgemüse, von dem ein köstliches Rotweinaroma aufsteigt. Sie hat diesen Eintopf schon einmal gekocht, und es muntert mich auf, daran zu denken, wie sie ihn liebevoll zubereitet, eine Mahlzeit für ihren verlorenen Sohn, den wiederzufinden sie nie erwartet hätte (obwohl ich den Verdacht habe, dass sie es nicht auf diese Weise romantisiert).
Auf dem Küchentisch stehen frische Blumen, was bedeutet, dass sie heute Morgen schon drüben auf der High Street war. Ich stelle mir vor, wie sie mit Samuel Rindfleisch beim Metzger kauft, Möhren beim Gemüsehändler, Iris im Blumenladen. Ich beuge mich vor, um den zart-süßen Duft einzuatmen. Hannah liebt Iris. Verblüffend, wie Alice immer die richtigen Blumen auswählt, dieses unkomplizierte, reibungslose Einverständnis zwischen ihnen. Wieder ein Stich der Eifersucht.
Die Hand schon nach Alice’ Skizzenblock auf dem Küchentisch ausgestreckt, halte ich inne. Er enthält bestimmt Zeichnungen von Samuel, und die will ich furchtbar gern sehen. Spricht irgendetwas dagegen? Ich führe eine kleine Debatte mit mir selbst, während meine Hand über dem Block schwebt, bereit, das Deckblatt umzuschlagen. Die meisten Leute würden einfach einen Blick hineinwerfen, oder? Trotzdem werde ich das Gefühl nicht los, dass ich herumschnüffele, dass es das Gleiche wäre, wie jemandes Tagebuch zu lesen. So tief will ich nicht sinken. Ich hoffe darauf, dass Alice einen Teil ihrer Zuneigung bald auf mich überträgt, und fände es schlimm, sie zu enttäuschen.
Also mache ich mir mein Sandwich – Räucherlachs mit Avocado auf Brot, das schon bessere Tage gesehen hat. Ich räume auf, spüle Teller und Messer und tue beides in den Schrank zurück, wische die Krümel von der Arbeitsfläche und gehe hinaus auf die Terrasse in die Sonne. Ein Blick auf die Uhr, es ist erst halb zwei, also noch Zeit für einen kurzen Spaziergang im Park, bevor ich wieder ins Büro muss.
Wir wohnen nur rund zehn Minuten zu Fuß vom Clapham Common, je nachdem, wie man geht. Ich nehme die Abkürzung über den Grafton Square, einen historischen Platz mit weißen Regency-Häusern drum herum und einem kleinen Spielplatz in der Mitte, sehe kurz nach, ob sie da sind, und komme bei einem Zebrastreifen am Rand des Parks heraus. An dem Eingang hier ist das Hippie-Café, außen lila Wände mit aufgesprühten Blumen, innen Flohmarktmöbel, vegane Brownies und die obligatorischen nackten Titten (zum Stillen). Mehrere Mütter sitzen an den Holztischen davor und plaudern bei Schalen voll Linsensuppe, während ihre Kleinkinder sich um die bunte Plastikwippe streiten. Bald werden wir auch dazugehören. Ich liebe Samuel mit seinen sechs Monaten so sehr, sein wonniges Gemüt, sein ausgelassenes, ansteckendes Lachen, seine aufmerksamen braunen Augen und die runden rosigen Wangen. Jede Phase geht mir viel zu schnell vorbei, das merke ich jetzt schon.
Auf der neuen Skatebahn sausen zwei Jungen im Teenageralter synchron aneinander vorbei und vollführen dabei akrobatische Drehungen in der Luft. Ich überlege kurz, warum sie nicht in der Schule sind, und frage mich dann, was mich das angeht. Ich bin siebenundzwanzig, nicht fünfzig. Hannah würde mich auslachen. »Dann geh doch und verpetz sie, Opa.«
Gleich hinter dem Skatepark ist der Teich, auf dem dicke braune Enten durch dunkelgrünen Schleim gleiten. Möglichst ungezwungen sehe ich mich um, halte vergeblich nach einer großen, dunkelhaarigen Frau mit einem Buggy Ausschau.
Als ich gerade umkehren will, kommen die beiden in Sicht. Sie sind zu weit weg, um mich zu entdecken, halten sich unter einem Baum auf der anderen Seite des Teichs auf. Offenbar schläft Samuel, während Alice ihn in aller Ruhe mit einer Hand herumschiebt. Das Naheliegende, das einzig Normale wäre jetzt, hinüberzugehen und Hallo zu sagen, kurz mit Alice zu plaudern und meinen Sohn zu knuddeln, falls er gerade aufwacht.
Stattdessen bleibe ich wie angewurzelt stehen und starre zu ihnen hinüber, bis mir die Augen wehtun. Es ist, als würde ich einen Ausschnitt aus meiner verpassten Kindheit zu sehen bekommen, meine nichts ahnende Mutter und das Baby in ihrer Obhut. Reglos stehe ich da, völlig gebannt von diesem bruchstückhaften Blick auf das, was mir entgangen ist.