Damals

Alice

Die Disciples spielen einen Showcase-Gig im St Moritz in der Wardour Street. Zwanzig Musikjournalisten plus Robins Elite-Gästeliste mit lauter schönen Menschen, sodass ich mich, im siebten Monat schwanger, garantiert fett und unsicher fühlen werde. Rick kommt als meine Begleitung mit, ein prachtvoller Anblick in seiner maulbeerfarbenen Samtschlaghose und einem Patchworksakko in Smaragdgrün und Goldgelb. Es erscheint uns beiden noch ziemlich unwirklich, dass unsere Partner in einer Stunde auf der Bühne stehen werden.

Es ist das erste Konzert der Disciples seit Längerem und war sofort ausverkauft. Sie haben die neuen Songs wochenlang geprobt, und die erste Singleauskoppelung hat es direkt in die Top 10 geschafft. Trotzdem ist Jake unruhig. Er war in letzter Zeit ständig in Gedanken, hat oft ganze Abende lang kaum mit mir geredet. Ich bin froh, wenn der Gig vorbei ist, nur dass ich dann schon bang die Tage bis zur Europatour der Band zählen werde.

Rick und ich lassen uns auf der Gästeliste abhaken und dürfen Backstage in die Garderobe, eine kleine, verqualmte Kammer mit von Kippen überquellenden Aschenbechern, schmutzigem Teppichboden und nirgends Platz zum Sitzen. Alle rauchen und reichen eine Flasche Jack Daniels herum, und auch Jake nimmt einen Schluck.

»Du trinkst ja«, sage ich so ruhig wie möglich.

»Nur ein bisschen. Ich trinke immer was vor einem Auftritt. Ganz nüchtern kann ich das nicht, dazu bin ich zu hibbelig. Was ist, wenn die Songs nicht gut ankommen?«

»Du wirst toll sein.« Ich umarme ihn, aber nur kurz, merke, dass er Raum für sich braucht.

»Wir sehen uns hinterher«, sagt er. Ein sanfter, aber deutlicher Rausschmiss.

»Er trinkt«, sage ich zu Rick, sobald wir die Tür hinter uns geschlossen haben.

»Jake ist wieder gut drauf, du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Wie er sagt, er trinkt sich nur ein bisschen Mut an.«

Das St Moritz ist ein dunkles Kellerloch und so vollgeräuchert, dass mir die Augen brennen. An der Bar treffen wir Robin, der gerade Wein bestellt hat und die Flasche angewidert mustert.

»Was für ein Gesöff. Das kriege ich nur mit zugehaltener Nase runter. Wollt ihr was davon?«

Wir kämpfen uns zu dritt durch die Menge, bis wir dicht vor der Bühne stehen, ringsum eingezwängt. Mir ist ein bisschen unwohl bei dem Gedanken, dass ich hier nicht ohne Weiteres rauskomme.

»Ich bin ein bisschen klaustrophobisch«, flüstere ich Rick zu, der meine Hand nimmt und sagt: »Dauert ja nur eine halbe Stunde. Ich pass auf dich auf.«

Robin zeigt uns ein paar Leute, den Herausgeber des NME, einen Reporter von Sounds, einen Musikkritiker vom Evening Standard, jemanden von Time Out.

»Jake ist nervös«, sage ich zu ihm. »So habe ich ihn noch nie erlebt. Sonst wirkt er immer so überzeugt von seiner Musik.«

»Es gibt viel Druck von der Plattenfirma. Das zweite Album muss sich gut verkaufen. Aber keine Angst, sie waren großartig bei der letzten Probe.«

Es ist ein fast surreales Erlebnis, meinen Liebsten die Bühne betreten und nur wenige Meter vor uns stehen bleiben zu sehen. Er ist ein schöner Mann – das weiß ich natürlich, aber dort oben kommt es noch mehr zur Geltung. Ich fühle mich an das erste Konzert im Marquee erinnert, seine Sogwirkung auf mich. Er hebt eine Hand zum Gruß, und das Publikum heißt die Band mit Rufen und Beifall willkommen.

»Wir spielen heute Abend zum ersten Mal live auf der Bühne ein paar neue Songs von unserem Album Apparition. Wir hoffen, sie gefallen euch.«

Die Band legt direkt mit »Sinister« los, der rockigsten Nummer auf der Platte. Jake ist vom ersten Moment an in seinem Element, singt schnell und kraftvoll, Mund dicht am Mikro, seine Stimme so sanft und zugleich rau, eine mich süchtig machende Mischung.

Ich hätte wissen sollen, wie sehr er die Bühne liebt, keine Spur mehr von Selbstzweifeln, als er von einer Seite zur anderen stolziert und mit zurückgeworfenem Kopf tanzt, alles vergessend außer der Musik.

Das Publikum ist begeistert, soweit ich es sehe. Ich schiele zu den Journalisten hinüber und stelle fest, dass sie ganz bei der Sache sind, alle Augen auf die Bühne gerichtet, keiner redet.

Nach vier Songs, es sind nur noch zwei weitere geplant, gibt es einen Stimmungswechsel mit den ersten Akkorden von »Cassiopeia«. Ich sehe Rick an, während Jake seine Ballade gegen Homophobie anstimmt, die als doppelsinniges Liebeslied daherkommt. Überlege, was wohl in ihm vorgeht bei dieser Geschichte unseres Abends in Southwold. Dann drehe ich mich wieder zu Jake um, der jetzt mit seiner Gitarre am Bühnenrand sitzt, genau wie beim ersten Mal, als wir ihn sahen.

Als er den Refrain singt, »Sie haben sich gegenseitig aufgebaut, doch ihr habt das kaputt gemacht«, nimmt Rick meine Hand und drückt sie.

Die Schlägerei kommt aus heiterem Himmel. Wir werden von hinten geschubst, Robin, Rick und ich, als die Menge plötzlich nach vorn drängt, es gibt nicht einmal Platz zum Fallen. Ich gehe in die Knie und werde von Rick hochgerissen, der brüllt: »Hier ist eine Schwangere! Ihr zerquetscht sie!«

Doch es ist so gut wie unmöglich, auf den Beinen zu bleiben, denn das Stoßen und Schieben geht weiter. Ich bekomme einen Ellbogen in den Bauch, und immer wieder tritt mir jemand schmerzhaft auf die Füße.

»Rick, hilf mir!«, schreie ich, als ich erneut zu Boden gehe, verschwommene Leiber ringsherum, und er zieht mich wieder hoch.

»Hört auf zu drängeln!«, schreit er. »Um Gottes willen, ihr trampelt sie nieder.«

Die Musik bricht ab, die Verstärker rauschen, und dann Jakes Stimme übers Mikrofon.

»Kommt mal alle wieder runter. Das hier ist ein friedliches Konzert. Könnt ihr euch bitte alle beruhigen!«

Kurz darauf donnert er lauter: »Meine Freundin ist da unten. Sie ist schwanger. Hört auf zu drängeln, verdammt noch mal!«

Um mich herum ist nur Schwärze, Kopf gesenkt in der Masse, mühsam gestützt von Rick, der auf mich einredet wie auf ein Kind.

»Alles okay, ich halte dich. Ich pass auf, dass dir nichts passiert. Wir beschützen das Baby.«

Der Abend wird abrupt beendet. Sicherheitsmänner, vier oder fünf davon, klischeehafte Schränke, bahnen sich einen Weg durch die Menge und rufen: »Alle raus. Die Show ist vorbei. Verlasst alle den Saal.«

Rick und ich halten uns in der Mitte umschlungen, während das Chaos sich allmählich auflöst. Erst jetzt merke ich, dass mein Atem stoßweise geht, wie nach einem Weinkrampf. »Oh, Alice«, sagt Rick, und ich lehne meinen Kopf an seine Brust.

»Ich dachte, ich würde das Kind verlieren.«

»Ich auch. Aber es ist alles in Ordnung.«

»Offenbar gab es eine Keilerei dort hinten, und alle wollten panisch weg davon. Hätte richtig schlimm ausgehen können«, sagt Robin, als er uns ein paar Minuten später wiederfindet. »Alice, meine Liebe, ist alles okay mit dir? Ich hole dir ein Glas Wasser.«

Nachdem ich ein paar Schluck Wasser getrunken habe und meine Atmung sich normalisiert hat, gehen wir zu dritt hinter die Bühne.

»Shit, das war ein Desaster«, sagt Eddie, legt den Kopf in den Nacken und schüttet einen Strahl Whisky in sich hinein.

Entsetzt sehe ich, wie Jake ihm die Flasche aus der Hand reißt und das Gleiche tut.

»Jake? Trink bitte nichts mehr.«

»Diese Arschlöcher«, sagt er. »Die hätten dir sonst was tun können, Alice. Und dem Baby.«

»Haben sie aber nicht«, sagt Robin. »Seien wir dankbar dafür.«

»Robin hat recht«, stimmt Tom ihm zu. »Niemand ist verletzt worden. Wir sollten versuchen, das Ganze zu vergessen.«

»Wollen wir nicht irgendwohin gehen, wo wir was Anständiges zu trinken bekommen? Ich lade euch in den Chelsea Arts Club ein«, schlägt Robin vor.

»Jake, können wir nach Hause, du und ich?«

Er seufzt.

»Ich muss ein bisschen für mich sein. Sorry. Ich kann das nicht einfach so abschütteln wie ihr anderen offenbar. Dir hätte echt was passieren können.«

Nein, ich werde ihn nicht abstürzen lassen, das werde ich nicht zulassen.

»Jake?«

Ich warte, bis er mich ansieht.

»Das war ziemlich beängstigend. Ich brauche dich jetzt. Können wir bitte einfach nach Hause gehen?«

Ich sehe, wie sein Blick wieder klar wird, und habe das Gefühl, ihn vom Strudel der Dunkelheit wegzuziehen.

»Natürlich«, sagt er. »Es war nur schlimm zu wissen, dass du da unten in dem Gedränge bist und ich dir nicht helfen kann.«

Er gibt die Flasche Rick.

»Du hast recht. Ich brauche das nicht zu trinken.«

Ich sehe zu Eddie hin, der die Szene verfolgt hat. Er nickt mir fast unmerklich zu, und ich verstehe. Wir ziehen an einem Strang, er und ich, jetzt und immer. Krise abgewendet, scheint er zu sagen. Fürs Erste.