Damals
Alice
Beim Stillen morgens um drei lässt man mich immer allein. Charlie ist um diese Zeit am hungrigsten und saugt eine Dreiviertelstunde lang, erst an einer Brust, dann an der anderen. Nachdem ich die Adoptionspapiere unterschrieben hatte, versuchten die Schwestern trotz meines Protests, ihn ans Fläschchen zu gewöhnen, aber er wollte es nicht nehmen.
»Hier ist Ihr kleiner Grummelbär«, sagt die Nachtschwester und legt mir den schreienden Charlie in die Arme. »Ich lasse euch dann mal allein.«
Ich höre das Mitleid in ihrer Stimme, alle wissen, dass wir uns später voneinander verabschieden müssen.
Sobald sie weg ist, hieve ich mich aus dem Bett, den saugenden Charlie mit einem Arm haltend. Bei der kleinsten Störung wird er vor Zorn brüllen und die ganze Station aufwecken. Ich bin barfuß wie geplant und habe nur mein Nachthemd an, wickele den Kleinen aber in den grünen Kaschmirschal, den Rick mir gebracht hat.
Im Dunkeln ist das Baby auf den ersten Blick nicht zu sehen, ich bin nur eine junge Wöchnerin, die mitten in der Nacht mal aufs Klo muss. Einen Augenblick bleibe ich noch hinter dem Vorhang stehen und nehme all meine Kraft zusammen, während mein Herz gegen die Rippen hämmert und Charlie in seinem smaragdgrünen Kokon weiternuckelt.
Es gibt fünf weitere Betten in diesem Raum, alle mit zugezogenen Vorhängen, und ich zwinge mich, langsam und, wie ich hoffe, mit beruhigendem, wiegendem Gang zwischen ihnen hindurchzuschleichen. Dann durch die Schwingtür, kurz stehen bleiben, die anschwellende, Übelkeit verursachende Woge reiner Furcht aushalten. Links von mir, nur wenige Meter entfernt, ist der Empfangstresen, an dem zwei Schwestern miteinander sprechen. Sie kehren mir den Rücken zu, bräuchten sich aber nur kurz umzudrehen, um mich zu entdecken. Rechts von mir ein Flur mit Krankenzimmern zu beiden Seiten und einer Tür am Ende, die zu der Treppe führt, an der Rick auf uns wartet. Vorsichtig husche ich weiter, das Linoleum knarrt leise, das Baby saugt, meine Brust leert sich allmählich.
Ich habe es fast geschafft, als kurz vor der Gangtür eine Schwester ein Rollbettchen aus dem hintersten Zimmer schiebt.
»Wo wollen Sie hin?«
»Zur Toilette, Magenprobleme.«
Gott sei Dank gibt es gleich in der Nähe eine, in die ich mich stürze. Drinnen lehne ich mich gegen die Tür, wobei irgendwie das Baby verrutscht, das schreiend protestiert. Hastig stopfe ich ihm meine Brustwarze in den Mund und bete, dass er sich gleich wieder festsaugt. Das panische Pochen meines Herzens. Hat die Schwester ihn schreien gehört? Ich traue mich nicht hinauszuspähen. Ich warte, versuche, mich mit langen, tiefen Atemzügen zu beruhigen, aber jede Sekunde ist wie eine Ewigkeit. Wir haben nicht viel Zeit, ich muss es irgendwie hier rausschaffen. Also zähle ich bis zehn und zwinge mich dann, die Tür aufzumachen, vorsichtig, Zentimeter für Zentimeter, jedes kleine Quietschen wie ein Kreischen. Niemand da. Durch den Flur, rennend jetzt, hinaus ins Treppenhaus und zu Rick, der dort wartet, sein starres, ängstliches Gesicht ein Spiegelbild meines eigenen.
Er wischt sich über die Stirn, Erleichterung mimend, und nimmt meinen freien Arm, um mir schrittweise die Stufen hinunterzuhelfen. Wir dürfen nicht hetzen, können es nicht riskieren, das Baby erneut durchzurütteln. Drei Treppenabschnitte, wir kommen nur qualvoll langsam voran. Unten dann neue Furcht, als wir die Tür zum Erdgeschoss öffnen, ohne zu wissen, wer oder was uns dort erwartet. Doch um halb vier morgens ist das Foyer verlassen, und niemand sieht uns durch einen Nebeneingang hinaus in die Nacht entkommen. Wir bleiben unbehelligt – Rick, der sich unbefugterweise in einem Krankenhaus herumgetrieben hat, ich, eine nicht ärztlich entlassene Patientin, und das kleine Bündel in meinen Armen, auf das morgen eine Adoptivmutter wartet.
Charlie hat sich inzwischen von meiner Brust gelöst und wirkt ganz zufrieden, als ich ihn über meine Schulter lege und ihm mit kreisenden Bewegungen den Rücken massiere wie Penny es mir am ersten Tag beigebracht hat. Ich höre sein süßes Rülpsen an meinem Ohr, eine winzige Kleinigkeit nur, die mir aber die Tränen in die Augen treibt. Wenn ich bedenke, dass ich das beinahe verpasst hätte.
»Wir sind fast da, Liebste«, sagt Rick und zieht einen Schlüssel aus seiner Jeanstasche, während wir auf den Parkplatz zugehen. »Wenn Sie sich Ihren fahrbaren Untersatz ansehen möchten, Madame.«
Ein taubenblauer Morris Minor mit roten Ledersitzen und verchromten Seitenspiegeln, die in der Dunkelheit schimmern.
»Sehr schick. Wo hast du den her?«
»Robin hat mir die Kohle gegeben. Ich habe ihn heute Nachmittag gekauft.«
»Robin weiß Bescheid?«
»Nur dass wir abhauen, nicht wohin. Das weiß niemand.«
»Nicht mal Tom?«
Er schneidet eine Grimasse. »Tom schon gar nicht. Zwischen uns ist es aus. Wir haben beide den Mut verloren nach … nach dem, was passiert ist. Sieh mich nicht so an, Tom ist jetzt unsere geringste Sorge.«
Ich klettere mit Charlie auf den Rücksitz, und sobald wir losfahren, schläft er ein. Ich drücke meine Lippen auf sein Köpfchen, ganz zart, damit er nicht aufwacht, und atme seinen Duft ein.
»Ich wusste gar nicht, dass du fahren kannst.«
»Natürlich kann ich das. Ich bin nur noch nicht dazu gekommen, den Führerschein zu machen.«
Wir sehen uns grinsend im Rückspiegel an.
»Richard Fields, ich liebe dich«, sage ich, und er wirft mir eine Kusshand zu.
»Ganz meinerseits, Alice Garland.«
Bei Sonnenaufgang kommen wir am Strand an, als hätten wir es extra so geplant, dass unser Neubeginn in Pink und Orange mit goldenen Streifen dazwischen getaucht ist. Charlie wird wach, als das Auto hält, doch statt nach Nahrung zu greinen, sieht er mit Jacobs Augen zu mir auf.
»Komm, wir setzen uns ein bisschen an den Strand«, sagt Rick, nimmt mir Charlie ab, der immer noch in den grünen Schal gewickelt ist, und gibt mir seine Jacke zum Überziehen über mein Nachthemd. Wir waren schon einmal bei Sonnenaufgang hier, Jake, ich, Rick und Tom. Die Trauer überwältigt mich, als wir hinunter zum Wasser gehen, der Sand unter meinen Füßen knirscht, die Salzluft mir ins Gesicht peitscht, und ich begreife, dass sie nie vergehen wird. Zugleich aber weiß ich, dass alles wieder in Ordnung kommt. Eines Tages. Irgendwann.
Ich nehme Ricks Hand, und so stehen wir da, wir drei, mit dem warmen Schein der Morgensonne im Gesicht.