Heute
Luke
Die wahre Architektin des Gehirns ist die Erfahrung. Wird ein Kind kurz nach der Geburt von der Mutter verlassen, ist die erste Lebenserfahrung ein Gefühl von Bedrohung. Die Angst vor dem Unbekannten kann sich dann bis ins Erwachsenenalter hinein manifestieren.
Joel Harris, Wer bin ich? Das verborgene Trauma adoptierter Kinder
Joel Harris ist zu so etwas wie einem Experten für die seelischen Traumata von Adoptierten geworden. Er hat fast dreißig Jahre lang in der Drogenberatung gearbeitet, erzählt er mir, wobei ihm irgendwann auffiel, dass Adoptivkinder in den Kliniken und anderen Anlaufstellen übermäßig stark vertreten waren.
In den folgenden Jahren seiner Forschungen, sowohl empirischer als auch theoretischer, stellte er fest, dass das Trauma der Adoption oder die »Wunde der Ablehnung«, wie er es nennt, im Körper gespeichert wird. Adoptierte, sagt er, entwickeln so von Geburt an eine traumatisierte Persönlichkeit.
»Verlustängste sind bei Adoptierten weit verbreitet, aus naheliegenden Gründen, gehen aber häufig mit einem scheinbar widersprüchlichen Hunger nach Bindung einher. Verlassen zu werden fühlt sich lebensbedrohlich an, was kein Wunder ist. Gibt es ein größeres Trauma, als von der Mutter getrennt zu werden, dem Menschen, den man zu Beginn des Lebens so sehr braucht? Ich glaube nicht.«
Ich weine rückhaltlos in diesen Einzelsitzungen, teils aus Gram, teils vor Erleichterung. Zum ersten Mal in meinem Leben begreife ich, warum ich so verkorkst bin.
Joel erklärt mir die Trias der Trauer, die meine Anfänge bestimmt hat. Meine eigene über die Trennung von Alice, Alice’ über den Verlust ihres Kindes und Christinas über das Unvermögen, eigene Kinder zu bekommen.
»Menschen wie Sie beginnen ihr Leben mit einer unmöglichen Aufgabenstellung«, sagt er. »Sie müssen das Kind von Eltern sein, zu denen Sie genetisch nicht passen, und sollen deren Schmerz über ihre Kinderlosigkeit stillen. Und als Einzelkind lastet die ganze Bürde allein auf Ihnen.«
»Meine Mutter hat gestern zugegeben, dass sie es nie richtig verwunden hat, ihr Kind zu verlieren«, sage ich. »Es wurde im letzten Schwangerschaftsmonat tot geboren, und ich glaube heute, dass sie während meiner gesamten Kindheit gegen Depressionen angekämpft hat. Und das hat mir Schuldgefühle verursacht. Sie hat nie etwas gesagt, aber ich wusste auch so, dass sie um ihr totes Baby trauerte. Ich hatte das Gefühl, eine einzige Enttäuschung zu sein, weil ich nicht dieser Sohn war.«
»Glauben Sie, es wäre Ihnen anders ergangen, wenn Sie bei Alice aufgewachsen wären? Und Jacob?«
Jacob, mein unbekannter Vater. Schon die Erwähnung seines Namens bringt mich erneut zum Weinen.
»Ich weiß nicht einmal, weshalb ich weine. Jacob ist noch vor meiner Geburt gestorben.«
»Ist es möglich, um jemanden zu trauern, den man nie gekannt hat? Absolut. Sie trauern um einen Mann, von dem Sie denken, dass er ein guter Vater hätte sein können, und um eine Frau, die gerne Ihre Mutter gewesen wäre.«
»Diese ganze Traurigkeit hat mir den Boden unter den Füßen weggezogen, dabei wusste ich bis vor ein paar Monaten noch nicht einmal etwas von Alice.«
»Das ist Teil des Systems. Eine Adoption beruht auf Geheimnissen und Schweigen, niemand spricht über seine oder ihre Gefühle. Wie absurd ist es doch, die ganze Kindheit über nicht zu wissen, wer die leiblichen Eltern sind, und dabei zu spüren, dass man nicht einmal danach fragen darf. Ohne dieses Hintergrundwissen beginnt man zu glauben, dass etwas mit einem nicht stimmt, dass man irgendwie fehlerhaft ist, denn warum sonst sollten die Eltern einen weggegeben haben? Kommt Ihnen das bekannt vor?«
»Als würden Sie mir in den Kopf gucken.«
Joel lacht. »Sie würden sich wundern, wie oft ich das schon gehört habe. Das Problem ist, dass alle, die Adoptiveltern, die leiblichen Eltern, die Sozialarbeiter, sich miteinander verbünden, um die Mär aufrechtzuerhalten, dass Adoption grundsätzlich eine tolle Sache ist. ›Du hast so ein Glück gehabt, adoptiert zu werden‹, wie oft haben Sie das gehört? Ich wette, Ihre Eltern haben Ihnen erzählt, sie hätten Sie ›ausgewählt‹, stimmt’s?«
»Meine Mutter sagte mal, sie seien ins Krankenhaus gegangen, in ein Zimmer voller Babys, und hätten mich wegen meiner abstehenden schwarzen Haare und meiner dunklen Augen ausgesucht.«
»Ihnen ist klar, dass das nicht sein kann, oder? So etwas gibt es nicht, ein Zimmer voller zur Adoption vorgesehener Babys, wie ein Bonbonstand im Kaufhaus. Wir reden hier nicht über einen Wurf Hundewelpen.«
»Außerdem hatte Alice es ja irgendwie geschafft, mich während der ersten Wochen bei sich zu behalten.«
»Hat sie Ihnen erzählt, wie Sie als Baby waren?«
»Glücklich, immer lächelnd. Angeblich habe ich nie geschrien.«
»Und in Ihrem neuen Zuhause, wie waren Sie da?«
»Während der ersten drei Wochen habe ich Tag und Nacht gebrüllt. Meine Mutter hielt es für Säuglingskoliken.«
»Geschichten wie Ihre höre ich jede Woche, und es wundert mich, wie dieses Komplott weiter existieren kann. Warum wollen die Leute nicht verstehen, was für ein Trauma es auslöst, verlassen zu werden? Das Leid der Trennung, das Sie als Baby durchlebten, Luke, ist immer noch da. Er ist in Ihnen eingeschlossen.«
Fast ohne es zu merken, habe ich während der letzten zehn Minuten geweint. Jetzt drücke ich mir ein Taschentuch aufs Gesicht, verberge es darin. Ein derartiger Schmerz durchdringt mich, dass mir buchstäblich das Herz wehtut.
Die Zeit ist wahrscheinlich abgelaufen, aber Joel bleibt schweigend sitzen. Er wartet, bis ich das Taschentuch wegnehme, dann sehen wir uns an, während ich versuche, etwas zu sagen.
»Wird es mir je besser gehen?«
»Ich denke, ja. Sie haben bereits angefangen, die Ursachen zu verstehen, weshalb es Ihnen schlecht geht. Das hilft schon, nicht wahr? Und mit einer Therapie können Sie Schritt für Schritt lernen, das Trauma zu bewältigen und rechtzeitig zu erkennen, wenn es sich bemerkbar macht, statt darauf zu warten, dass es Sie umhaut.«
Meistens holt meine Mutter mich vom Priory ab und wartet schon auf dem Parkplatz mit meinem Sohn und seinem zottigen Teddy hinten im Kindersitz. Samuel strahlt jedes Mal, wenn er mich sieht. Er kann jetzt schon auf seine Art winken, indem er eine Hand zur Begrüßung in die Luft wirft, begleitet von einem fröhlichen Juchzer.
Manchmal setze ich mich zu ihm nach hinten und küsse ihn, seine glatten, prallen Wangen, seine Augen mit den unglaublich langen Wimpern. Meine Mutter scheitelt ihm die Haare gern auf diese altmodische Art, und Hannah witzelt, dass er dann aussieht wie Oliver Hardy von Dick und Doof.
»Hallo, Oli«, flüstere ich, während Christina den Motor anlässt und losfährt.
Samuel klatscht lachend in die Hände, sein neuestes Kunststück, und wartet darauf, dass ich mitmache.