Heute

Luke

Adoptierte und ihre leiblichen Eltern sind grundsätzlich zunächst einmal Fremde füreinander. Wie soll man jemanden verstehen, wie soll man seine oder ihre Handlungen begreifen, wenn man die verschiedenen Aspekte, den sozialen Hintergrund und die verhaltensbezogenen Komplexitäten nicht kennt, die eine Persönlichkeit geformt haben?

Joel Harris, Wer bin ich? Das verborgene Trauma adoptierter Kinder

Samstags lässt Hannah mich immer ausschlafen. Sonntags ist sie dran, auch wenn sie es selten in Anspruch nimmt.

»Ich will nicht noch mehr Zeit mit Samuel verpassen«, sagt sie dann und erscheint unten in der Küche, während wir beide noch dabei sind, unser Frühstück zu verputzen: Milch und Babybrei für ihn, Toast mit Marmite für mich.

An diesem Samstag schlafe ich lange, erschöpft sowohl vom Stress im Job – werden sie mein Plattenlabel dichtmachen oder nicht? – als auch von der anhaltenden Enttäuschung wegen Alice.

Meine Liebste und mein Sohn sitzen draußen auf unserer kleinen Terrasse, Samuel auf Hannahs Schoß.

Er lacht, sobald er mich sieht, und Hannah sagt: »Ja, er ist schon komisch, dein Daddy, nicht? Ist dir klar, dass du fast zwölf Stunden geschlafen hast? Du musst fix und fertig gewesen sein.«

Sie steht auf und gibt mir Samuel.

»Ich wollte jetzt Sandwiches mit gebratenem Speck machen, dann können wir in den Park gehen.«

»Klingt gut, ich bin am Verhungern.«

Erst als sie drinnen ist, bemerke ich die lange Reihe von Schlafstramplern an der ausziehbaren Wäscheleine, alle weiß, die Farbe, in der Hannah Samuel am liebsten sieht. Acht an Klammern hängende Strampler, die in der Mittagssonne trocknen, und am Ende ein Teddybär. Mit einem merkwürdigen engen Gefühl in der Brust nehme ich ihn ab, diesen nassen Plüschbär, der jetzt nicht mehr nach Alice’ Parfüm und früher riecht, sondern nach Persil.

Ich gehe in die Küche zu Hannah, Samuel unter den einen Arm geklemmt, den Teddy unter den anderen.

»Du hast den Teddybären gewaschen.«

Sie dreht sich lächelnd vom Herd um, wo sie den Speck brät.

»Ja, und ihm die Augen abgeschnitten. Die können tödlich sein, diese Glasdinger. Ich werde ihm ein paar neue aufsticken.«

»Du hast ihm die Augen abgeschnitten?«

Ich lege Samuel so vorsichtig ich kann auf seinem Schaffell ab. Und dann stehe ich da mitten im Raum, den feuchten Bären an meine Brust gepresst, während die Jahre von mir abfallen. Dieser Teddy hat einmal mir gehört. Dieser alte, verunstaltete Teddy hat mir gehört, damals, als ich noch zu Alice gehört habe. Damals, als Alice sich um mich gekümmert hat, wie sie sich jetzt um Samuel kümmert.

Ich bekomme keine Luft mehr und spüre einen stechenden, unablässigen Schmerz in der Brust. Ich gehe in die Knie, die Arme um mich gelegt.

»Luke?«, sagt Hannah, aber sie hört sich fern an, als wäre ich unter Wasser.

Ihre Stimme wird schrill, angstvoll.

»Was ist los? Was hast du?«

Der Druck in meiner Brust ist so groß, dass ich das Gefühl habe, meine Lunge könnte platzen. Eine Panikattacke. Die hatte ich früher schon manchmal, aber jetzt seit Jahren nicht mehr. Nicht, seit ich Hannah kenne.

Einatmen, Luft anhalten und bis vier zählen, ausatmen. Eins, zwei, drei, vier. Ich weiß, was zu tun ist.

»Ich glaube, der Teddy hat mal mir gehört«, sage ich, als es besser ist, und stehe auf, erstaunt über meine nassen Wangen. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich weine.

Hannah nimmt mir den Teddy ab und streichelt über sein nasses, verfilztes Fell, eine Geste von unerträglicher Zärtlichkeit.

»Es geht um Alice, nicht wahr?«

»Ich pack das nicht, ich komme einfach nicht an sie ran, Hannah. Ich habe sie in all den Wochen kein Stück näher kennengelernt. Du scheinst dich besser mit ihr zu verstehen als ich.«

»Das liegt daran, dass wir Frauen sind, wir haben einen anderen Draht zueinander. Und natürlich das Ding mit der Kunst, aber das ist alles.«

»Nein, da ist noch was anderes. Es gibt da eine unüberwindliche Distanz zwischen mir und Alice, ich spüre das. Ich habe den Eindruck, dass sie sich nur für Samuel interessiert, vielleicht noch ein bisschen für dich.«

»Ach, Schatz.« Hannah drückt meine Hand so fest, dass es wehtut. »Das ist unheimlich schwer für dich, ich weiß. Aber Samuel ist ein Baby, um das man sich viel kümmern muss. Und Alice macht das toll, aber das heißt nicht, dass ihr mehr an ihm liegt als an dir.«

»Du hast recht«, sage ich und denke: Du hast immer recht. Warum kann für mich nicht alles so klar und einfach sein?

»Was war das denn eben? Eine Panikattacke?«

»Ja, ich glaube. Ich hatte sie früher schon ab und zu mal, als ich im Job angefangen habe. Ist vor allem der Stress.«

»Wegen Spirit? Und Reborn?«

»Eher wegen der ganzen Geschichte mit Alice. Aber zum Teil auch beruflich, ja. Ich mache mir Sorgen, dass Michael mir Spirit wegnehmen könnte.«

»Mein Bauchgefühl sagt mir, dass das nicht passieren wird«, sagt Hannah. »Und ich will nicht, dass du dir deswegen das Wochenende verdirbst. Komm, wir genießen jetzt unser Zusammensein, nur wir drei, ja?«

»Willkommen in Nappy Valley«, sagte die Immobilienmaklerin, nachdem wir den Kaufvertrag für das Haus unterschrieben hatten, worauf ich ihn am liebsten auf der Stelle zerrissen hätte. Aber sie hatte gar nicht so unrecht. Wir passen perfekt in die Umgebung, meine Minifamilie und ich, als wir zu dem neuen, aufgemotzten Spielplatz im Park kommen, empfangen von fröhlichem Gekreische.

Samstagnachmittags sind die Wochenendväter hier stark vertreten, besonders die lauten von der Sorte »Hoppla, hier komm ich« in ihren Freizeitshirts. Irgendein Posten im Bankenviertel vermutlich und unfähig, sich einzufügen; angetrieben von Wettbewerbsdenken und Selbstüberzeugung, tönen sie herum, als wollten sie den ganzen Spielplatz coachen.

»Sehr gut, Pandora, jetzt versuch mal, zur nächsten Stange zu kommen. Ich weiß, du kannst das.«

Die fünfjährige Pandora wird über das Klettergerüst gejagt, Scheitern ist keine Option. Sie wird es ganz nach oben schaffen, und wenn man sie hinaufzerren muss, es sei denn, sie ist wie ich, ein schwarzes Schaf, eine Niete am Klettergerüst und allem, was danach noch kommt.

Doch wir haben heute Nachmittag selbst eine Mission. Samuel hat gerade sitzen gelernt, und Hannah will es mit ihm auf der Babyschaukel versuchen. Alle vier Schaukeln sind besetzt, ein Babytrio und ein wohlgenährter Dreijähriger, den böse anzustarren ich mir gerade noch verkneife. Raus mit dir da, Kleiner.

Während wir warten, schauen wir uns um, immer noch neu genug in diesem Umfeld, um von den Wechselwirkungen auf einem Spielplatz fasziniert zu sein. Eine Mutter zählt immer bis zehn, während sie ihr Kind schaukelt, und kurz darauf fängt die Mutter neben ihr ebenfalls an zu zählen, hineingesogen in die Welt der Tigermütter, ohne es überhaupt zu merken.

Als endlich eine Schaukel frei wird, setzen wir Samuel hinein und legen seine Hände um die vordere Stange. Er verzieht das Gesicht. Was? Wie jetzt? Wir schubsen ihn sachte an, man kann es kaum Schwung nennen, aber er guckt weiter indigniert, als sei das Ganze unter seiner Würde. Hannah schubst ein bisschen fester. »Guck mal, das macht Spaß«, sagt sie, und ich frage mich, ob er wie sein Vater bald alles glauben wird, was aus dem schönen Mund dieser Frau kommt. Wenn sie sagt, dass das Spaß macht, dann muss es so sein. Seine dunkelbraunen Augen werden groß, als es hinaufgeht, ein ängstliches Stirnrunzeln beim Zurückschwingen, das Auf und Ab des Lebens für ein sechs Monate altes Kind. Dann kapiert er es plötzlich und gibt sein aus dem Bauch kommendes Lachen von sich. Die Frau neben uns, die unwissentliche Tigermutter, lacht mit.

»Ist es nicht toll, wenn sie zu lachen anfangen?«, sagt sie.

Sie ist eine hübsche Blonde und trägt ein weißes, luftiges Oberteil zu Jeans und New-Balance-Trainers, eine typische Clapham-Mami, vielleicht ein paar Jahre älter als wir. Hannah und sie fangen ein Gespräch an, und es stellt sich heraus, dass unsere Kinder nur zwei Monate auseinander sind und Sarah eine Straße weiter wohnt. Ich merke, wie Hannah ihr Radar ausfährt. Seit sie wieder arbeitet, hat sie ständig Angst, etwas zu verpassen. An ihren freien Tagen fährt sie Samuel rüber zu Starbucks und sitzt dort mit ihrem einsamen Latte neben einer Gruppe vertraut miteinander lachender Vollzeitmütter und wünscht, sie könnte dazugehören. Doch sie leben in einer anderen Welt mit ihren täglichen Treffen in der Bücherei, im Park und bei der musikalischen Früherziehung. Die Tür ist zu, Hannah eine Außenseiterin, die sehnsüchtig hineinlugt.

»Du kannst leider nicht beides haben«, sagte Christina, als Hannah erwähnte, dass sie sich noch mit keiner der jungen Mütter in der Nachbarschaft angefreundet hätte. Wobei ich dachte: Warum eigentlich nicht?

Während Hannah und Sarah sich unterhalten, übernehme ich das Schaukeln und werde bei jedem Schubs mit Samuels Gelächter belohnt. Ich schaukele ihn höher, ohne es zu übertreiben, aber dieser Junge ist ein Draufgänger, und je fester ich schubse, desto lauter juchzt er.

»Er ist ein Abenteurer«, sage ich, um mich wieder ins Gespräch einzuklinken, worauf Hannah meint: »Tja, von wem er das wohl hat.«

»Ich habe euren Kleinen schon in der Bibliothek gesehen«, sagt Sarah. »Aber mit einer älteren Frau. Sie ist mir gleich aufgefallen, groß und glamourös, nicht zu übersehen. Ist das eure Tagesmutter? Sie geht wirklich toll mit ihm um, zuerst dachte ich sogar, er wäre ihr Kind, man sieht hier ja öfter auch ältere Mütter.«

»Das ist Alice«, sage ich mit dem merkwürdigen Gefühlsmix, der diese Antwort immer begleitet.

»Also, da habt ihr echt Glück. Sie hatte ihn auf dem Schoß und hat ihm Bilderbücher gezeigt, und er war total happy. Es war faszinierend. Sein Lachen gerade hat mich daran erinnert. Wo habt ihr sie gefunden?«

Die Sekunden, bevor ich reagiere, kommen mir wie eine Ewigkeit vor, aber Sarah scheint nichts aufzufallen.

»Sie ist eine Freundin von uns«, sage ich, und Hannah springt mir bei, indem sie fragt: »Hättest du Lust, dich mal auf einen Kaffee zu treffen an einem meiner freien Tage?«

»Sehr gern«, sagt Sarah und zieht ihr Handy aus der Tasche, damit sie Nummern austauschen können.

Nachdem sie sich verabredet haben, hebt Hannah Samuel aus der Schaukel, und wir verabschieden uns.

»Dann bis nächste Woche.«

»Tschüss, Hannah. Tschüss, Luke. Tschüss, CHARLIE«, sagt Sarah schelmisch. »Seht ihr, ich weiß seinen Namen, ohne dass ihr ihn mir gesagt habt.«

»Oh, er heißt eigentlich Samuel«, korrigiert Hannah gelassen, als würde dieser kleine Irrtum nichts bedeuten, als wäre es nicht der erste handfeste Beweis für das, was ich schon die ganze Zeit argwöhne.