Heute
Luke
Das Aufeinandertreffen der verschiedengeschlechtlichen Beteiligten kann problembehaftet sein. Häufig ist der biologische Elternteil noch jung und attraktiv, und es besteht die Gefahr, dass das Kind seine Bindungssehnsucht mit einer Art Schwärmerei verwechselt.
Joel Harris, Wer bin ich? Das verborgene Trauma adoptierter Kinder
Ich habe ein Date mit meiner Mutter, so scheint es mir jedenfalls, als ich beim Nachhausekommen sehe, wie Alice vor dem Spiegel im Flur Lippenstift aufträgt. Sie begleitet mich heute Abend zu einem Konzert von Reborn, eine ziemlich nervenaufreibende Angelegenheit.
Ich stehe total unter Strom, mein Normalzustand, würde Hannah sagen. Zum einen bin ich wegen der anderen A&R-Haie nervös, die um Reborn kreisen, denn ich will die Band so furchtbar gern unter Vertrag nehmen, dass es schon wehtut. Bisher habe ich noch keinen erfolgreichen Act an Land gezogen, und ich muss mich endlich beweisen.
Zum anderen ist da die Sache, dass ich mit meiner leiblichen Mutter ausgehe, die ich immer noch kaum kenne, obwohl sie ständig bei uns zu Hause ist. Wie sehr habe ich mich danach gesehnt, Zeit mit ihr allein zu verbringen, und jetzt, da es soweit ist, fürchte ich mich beinahe davor.
Wie immer hilft mir Alice über die Anspannung hinweg.
»Luke, mach dir keine Gedanken um mich heute Abend. Ich weiß, dass du mit jeder Menge Leuten reden musst, und ich bin gut darin, mich im Hintergrund zu halten. Du wirst nicht mal merken, dass ich da bin.«
Das bezweifele ich allerdings. Alice ist eine Frau, nach der sich alle umdrehen, egal wo sie auftaucht. Sie sieht immer noch unglaublich toll aus, groß und schlank, die schulterlangen brünetten Haare ohne eine Spur von Grau. Außerdem versteht sie es, sich anzuziehen, trägt heute Abend dunkle Jeans mit einem blau-weiß-karierten Hemd und dunkelblauen Converse. Sie wird nicht fehl am Platz wirken bei dem Gig – nicht dass das mit siebenundvierzig so sein müsste. Alice hat meine Einstellung zum Älterwerden verändert. Früher war Ende vierzig für mich weit weg und unvorstellbar, jetzt dagegen sehe ich kaum einen Unterschied zu meiner Generation.
Ein unangenehmer Augenblick, als Hannah von der Arbeit nach Hause kommt und Samuel nicht zu ihr auf den Arm will. Er klammert sich an Alice und fängt an zu weinen, und Hannahs betretene, niedergeschmetterte Miene macht mich fertig.
»Sei kein kleiner Dummkopf.« Alice löst seine Händchen von ihrem Hals und übergibt ihn Hannah, verlässt rasch das Zimmer. Doch der Zwischenfall schmerzt, und wie.
»Er ist einfach nur müde«, sage ich und küsse Hannah zum Abschied, drücke auch dem Kleinen einen Kuss auf den Kopf. »Jetzt hast du ihn ganz für dich.«
Dennoch sehe ich in ihrem Lächeln die Beschämung darüber, dass ihr Kind, das sie die ersten sechs Monate seines Lebens ständig mit sich herumgetragen hat, jemand anderen ihr vorzieht.
Auf der U-Bahn-Fahrt nach Camden sprechen Alice und ich über diesen kurzen Moment, der bestimmt nichts zu bedeuten hat, aber mit Sicherheit an Hannah nagen wird.
»Es ist nur, weil er zahnt und ich ihn den ganzen Tag auf dem Arm hatte«, sagt Alice. »Trotzdem, ich weiß genau, wie Hannah sich fühlt.«
»Sie hat ohnehin schon mit der ganzen Situation zu kämpfen. Sie liebt ihren Beruf, meint aber, dass sie zu wenig von Samuel mitbekommt. Neulich abends hat sie deswegen geweint. Sie denkt, dass sie ihn im Stich lässt.«
»Eine ideale Lösung gibt es nicht, es ist immer ein Opfer damit verbunden.«
Als wir durch die Camden High Street gehen und nur noch ein paar Minuten von der Location entfernt sind, spreche ich an, wie wir uns in der Öffentlichkeit präsentieren wollen. Ich kann schlecht von ihr verlangen, die anderen zu belügen. Doch wenn wir ihnen die Wahrheit erzählen, würden sie nur neugierig werden, was wir beide gern vermeiden wollen.
»Deshalb dachte ich, dass ich dich heute Abend einfach als eine Freundin vorstelle, wenn es dir recht ist?«
»Freunde sind wir ja auch, Luke«, sagt Alice und lächelt mich an.
Ich atme auf und werde spürbar lockerer. Es würde einen Rattenschwanz nach sich ziehen, meine bislang unbekannte biologische Mutter einer Schar von Kollegen vorzustellen, mit denen ich jeden Tag zu tun habe.
Der Pub ist gerammelt voll, und ich erspähe sofort einen Pulk von A&R-Männern um den Tresen. Es wird sich auf die Schultern geschlagen und kernig umarmt und das Neueste ausgetauscht, aber im Grunde ist jeder Einzelne nur darauf aus zu gewinnen. Es herrscht ein ungeheurer Druck in der Branche. Nimm eine Band unter Vertrag, die durch die Decke geht, und du hast die Zukunft der gesamten Plattenfirma gesichert, von den Packern im Lager bis hin zu den Gestalterinnen in der Designabteilung. Alle behandeln dich wie einen Gott. Aber sollte es ein Flop werden, giltst du im Haus als Loser.
Mit Erleichterung entdecke ich Ben an der Bar.
»Scheiße, Mann, ein Glück«, sage ich. »Ich war nicht sicher, ob du kommen würdest.«
»Probleme?«
»Nur meine eigene Verdrehtheit.«
Ben und ich brauchen uns nie viel zu erklären. Wir bestellen drei Bier und tragen sie hinüber in die Ecke, in der Alice, wie ich zu meinem Schrecken feststelle, mit Gareth, dem Buchhalter, spricht. Gareth ist Mitte fünfzig und hat ein immer gleiches Konzert-Outfit: einfaches weißes T-Shirt mit rundem Ausschnitt und Jeans, die nicht unbedingt nach reinem Denim aussehen, sondern einen Elasthananteil haben könnten. Nicht, dass das schlimm wäre. Das Problem mit Gareth ist ein anderes, zweifaches: Erstens ist er ein fürchterlicher Langweiler – eine Voraussetzung in seinem Beruf vielleicht – und zweitens leider notgeil. Und offensichtlich hat er ein Auge auf Alice geworfen. Verdammt, das hätte ich heute Abend nicht auch noch gebraucht.
»Hallo, Luke«, sagt Gareth, ohne Alice aus dem Blick zu lassen, »ich unterhalte mich gerade ein bisschen mit deiner reizenden Freundin.«
Alice umarmt Ben und fragt nach Elizabeth.
»Sie arbeitet noch, muss Berichte aufarbeiten. Sie wollte gern kommen, hat aber zu viel zu tun.«
»Es gibt bestimmt noch andere Gelegenheiten. Luke sagt, die Band ist toll.«
Alice’ Handy klingelt, und als sie rangeht, merke ich an ihrem Ton, dass der Anrufer Rick ist.
»Wie schade«, sagt sie danach zu mir. »Ich hatte gehofft, dass Rick auch kommt, aber er steckt mitten in einem Projekt und arbeitet noch bis spät.«
Als sie das Telefon wieder einstecken will, rutscht es ihr aus der Hand und landet mit dem Bildschirm nach unten auf dem Boden.
»Mist«, sagt sie, während ich es aufhebe. »Ist es gesprungen?«
Ich sehe nach und werde von einem kalten Gefühl des Unbehagens beschlichen. Ihr Bildschirmschoner ist ein Foto von Samuel, das ich nicht kenne. Warum hat sie ein Bild von meinem Kind auf ihrem Handy? Und wenn sie schon auf so etwas steht, sollte es nicht eins von mir sein? Für einen Augenblick bin ich zu bestürzt, um etwas zu sagen, und weiß noch nicht einmal, warum.
»Ist das nicht dein Baby, Luke?«, fragt Gareth, worauf Alice und ich gleichzeitig antworten.
»Ja, ich kümmere mich um ihn, wenn Luke und Hannah arbeiten.«
»Alice ist meine leibliche Mutter.« Es rutscht mir plötzlich so heraus. »Also Samuels Großmutter.«
Ein peinliches Schweigen entsteht, bei dem Alice und ich uns anstarren und ihr die Hitze in die Wangen steigt.
»Oh, oh, die Katze ist aus dem Sack«, bemerkt Ben.
»Scheint so«, sagt Alice, lächelt aber dabei. »Wir müssen uns immer noch daran gewöhnen. Und ehrlich gesagt, Gareth« – er strahlt, weil sie sich seinen Namen gemerkt hat –, »ist es noch ein Geheimnis. Lukes Mutter weiß bisher nichts davon. Deshalb erzählen wir es nicht herum.«
»Meine Lippen sind versiegelt«, beeilt sich Gareth zu versichern. »Und eins kann ich dir sagen, du siehst kein bisschen aus wie eine Großmutter.«
Das ist genau die Heiterkeitseinlage, die wir brauchen.
»Wir treffen uns dann später«, sagt Alice und nutzt die Gelegenheit, um sich zu verdrücken. »Ich bin nicht gern mitten in Menschenmengen und werde wahrscheinlich weiter hinten stehen.«
Reborn sollen erst in zehn Minuten auftreten, aber man kommt jetzt schon nicht mehr zur Bühne durch. Time Out hat vergangenen Freitag einen Artikel über sie gebracht, das zieht natürlich die Leute an. Ich denke flüchtig an die Band in der Garderobe. Frage mich, ob sie aufgeregt sind oder es genießen, im Rampenlicht zu stehen. Währenddessen nicke ich den anderen A&R-Männern zu, die ich alle kenne. Es gilt ein stillschweigender Verhaltenscode bei Gigs wie diesem, bei dem wir erbitterte Konkurrenten sind – jedes Label will Reborn unter Vertrag nehmen, auch wenn nur drei oder vier das nötige Geld haben –, und der heißt Coolness. Muss man sich tatsächlich miteinander unterhalten, und wir versuchen, das möglichst zu vermeiden, dann nur kurz und über unverfängliche Themen. Ich entdecke Joel Richardson, den Chef von Universal, in einer Ecke, flankiert von zweien seiner A&R-Leute, Matt und Tommy, mit denen ich befreundet bin, wenn man das gemeinsame Feiern von früher so nennen kann. In der Zeit vor Hannah, Freitagabende, die meist mit einem kleinen Konzert anfingen, dann in einem Club fortgesetzt wurden und im Morgengrauen mit einer Wohnungsbesichtigung bei irgendwem endeten. Zu viel Alkohol, zu viele Drogen, brutale Kater, die mich auch damals schon aus dem Gleichgewicht warfen. Gute Zeiten, die mir rückblickend gar nicht mehr so toll vorkommen.
Ben und ich stehen mitten in der Menge und werden von allen Seiten geschubst und geschoben, auf die Füße getreten, mit Ellbogen in den Rücken geboxt und mit übergeschwapptem Bier bespritzt. Es ist ein guter Platz, ein paar Reihen hinter den Hardcore-Fans, aber noch nahe genug dran, um alles zu sehen, zu fühlen, mitgehen zu können. Nicht gerade geeignet, um sich zu unterhalten, aber ich brülle trotzdem über den Lärm hinweg.
»Fandest du es nicht auch komisch, dass Alice ein Foto von Samuel auf ihrem Handy hat?«
»Wieso? Sie ist doch den ganzen Tag mit ihm zusammen. Natürlich macht sie da mal ein Foto.«
»Du hast recht. Ich bin hier der Spinner. Hätte ich fast vergessen.«
Ben lacht. »Alice wird aus allen Wolken fallen, wenn sie merkt, wie du wirklich bist.«
Es geht gleich los, und eine Art Woge, eine Dynamik entsteht, sowohl durch das Geschiebe der Leute, die näher heranwollen, als auch durch die fast greifbare Energie gespannter Erwartung. Wie viele sind wohl in diesem kleinen Saal? Höchstens hundertfünfzig. Doch als die Band die Bühne betritt – Daniel, der Leadsänger als Erster, dann Arlo, der Schlagzeuger, Ingrid, die Gitarristin, und schließlich Bex, die Bassistin –, brandet Jubel auf wie in einem Fußballstadion. Sie legen sofort los mit ihrem ersten Song, »Special«, eine punkige Elektronummer, die garantiert ein Hit wird.
Die ersten drei Nummern sind typisch Reborn, große Emotionen und politische Seitenhiebe geschickt verpackt in klassisches Songwriting. Dann überraschen sie das Publikum mit neuem Material, einem Song, den ich noch nicht gehört habe und der schnell in schamlose Discorhythmen übergeht. Und etwas Erstaunliches passiert: Mittendrin bemerke ich, dass die Leute tanzen. A&R-Typen tanzen nicht. Es wird höchstens mal mit dem Kopf genickt, im äußersten Fall der Takt mit dem Fuß geklopft. Ich schiele zu Universal hinüber, das Trio steht immer noch dicht beieinander, und sehe, dass sogar Joel Richardson die Hüften schwingt und die ausgestreckten Hände in der Luft wippen lässt, eine enthusiastische Post-Rave-Geste, die beinahe etwas Liebenswertes hat.
Nach genau einer halben Stunde verlässt die Band unter Beifallsstürmen die Bühne. Es ist keine Frage mehr, ob sie durchstarten werden oder wann. Ihr Erfolg ist da, ihr Moment ist gekommen.
Am Tresen drängelt sich natürlich alles, und es dauert gut zehn Minuten, bis Ben und ich bedient werden, wobei wir die ganze Zeit nach Alice Ausschau halten. Eine so auffallende Person wie sie kann sich doch nicht einfach in Luft aufgelöst haben? Ich frage mich, ob sie mitten im Gig gegangen ist.
»Wie kann Alice einfach verschwunden sein?«, frage ich mehrmals. »Meinst du, sie hat sich aus dem Staub gemacht?«
»Alter«, sagt Ben, »komm wieder runter. Entspann dich mal ein bisschen wegen Alice, okay? Sie ist erwachsen. Sie macht ihr eigenes Ding. Und sie ist wahrscheinlich nicht scharf darauf, im Gedränge mit Bier übergossen zu werden.«
Dann taucht sie wie aus dem Nichts auf, als wir unsere Getränke haben, und Ben reicht ihr sein Pint.
»Nimm das«, sagt er, »ich hol mir ein neues.«
»Oh, nicht nötig. Ich gehe jetzt. Wollte euch nur Tschüss sagen. Luke, die Band ist wirklich fantastisch, da hattest du ein gutes Gespür. Ich verstehe, warum du so hinter ihnen her bist.«
»Willst du nicht noch auf ein Glas bleiben? Ich habe kaum mit dir gesprochen. Wo hast du denn gestanden?«
Ben starrt mich an, funkt mir, wie schon so oft, die Botschaft »Bleib cool« zu.
»Ganz hinten. Ich bekomme leicht Panik, wenn ich nicht zum Ausgang durch kann.«
»Na, dann lass mich dich wenigstens nach draußen begleiten, damit wir uns verabschieden können.«
»Mach dir keine Umstände. Du willst doch sicher mit der Band sprechen, oder? Verpass deine Chance nicht. Wir sehen uns nächste Woche.«
»Müssen wir reden?«, fragt Ben, als Alice weg ist, unser Standardsatz, wenn einer von uns (meistens ich) völlig im Eimer ist.
»Ich kann nichts dafür, dass ich so zuwendungsbedürftig bin. Ich bin ein Adoptivkind.«
»Mit zwei brandneuen, supertollen leiblichen Eltern und einer extrem liebevollen Adoptivmutter. Mach es dir doch nicht schwerer als nötig.«
»Du hast recht«, sage ich. »Du hast ja recht.«
»Weißt du, was Elizabeth jetzt sagen würde? Grenzen setzen, mein Freund. Alice kann das, du aber nicht. Wir alle brauchen Grenzen.«