Epilog
Unsere Wallfahrt nach Southwold Ende August fällt mit dem Ende der Sommerferien zusammen. Wir halten uns nicht genau an den Tag, sondern nehmen den Samstag darauf und übernachten immer im Swan Hotel, das die Kinder lieben. Jedes Jahr buchen wir das Familienzimmer, und das Personal weiß, warum wir kommen.
Rick ist mit von der Partie und fährt mit seinem feuerroten Ferrari vor, den er einzig und allein gekauft hat, vermuten wir, weil unser Sohn ihn so toll findet.
Inzwischen gedenken wir Alice nicht mehr trauernd, sondern mit Blumen und Musik und einem Picknick, selbst wenn es wie heute regnet. Wir setzen uns zusammen auf eine Decke, halten Schirme über unsere Eiersandwiches und stoßen mit Cola und Champagner auf die Großeltern der Kinder an.
Dann besprühen wir uns mit Acqua di Parma aus dem knallblauen Flakon, und Rick erklärt uns, dass der Geruchssinn am direktesten mit dem Erinnerungsvermögen verbunden ist. Wir atmen den Duft ein, der so köstlich und mir inzwischen schmerzlich vertraut ist: Zitrone und Zeder und Waldflora. Der Duft von Alice und Jake.
Rick spielt Apparition auf seinem iPod mit den schicken neuen Bluetooth-Lautsprechern ab, und als »Cassiopeia« läuft, erzählt er vom Sternegucken an diesem Strand vor langer Zeit.
»Alice und Jake waren so glücklich in dieser Nacht. Sie hatte Jake zum ersten Mal gesagt, dass sie ihn liebt. Wir legten uns in den Sand und blickten in den Himmel, während Jake die Sternbilder für uns benannte. Wusstet ihr, dass Cassiopeia eine Königin war, die sich für die schönste Frau der Welt hielt?«
Rick zaubert jedes Mal eine neue Anekdote aus seinem Erinnerungsschatz hervor wie ein Geschenk. Manchmal geht es um Jakes Kochkünste, seine Vorliebe für italienisches Essen, Spaghetti Vongole, was er mit komisch übertriebenem Akzent ausspricht, um die Kinder zum Lachen zu bringen. Oder um die Songs, die er geschrieben hat. Meistens aber um die Liebesgeschichte von Jake und Alice.
»Sie haben sich gegenseitig Kraft gegeben«, sagt er, »so wie es Paare im besten Fall tun.«
Manchmal frage ich mich, wie es für unsere Kinder wohl ist, mit diesen unbekannten Persönlichkeiten aufzuwachsen, die Rick jeden August zum Leben erweckt. Dabei ist es für mich im Grunde nicht viel anders. Schließlich habe auch ich Jacob nicht gekannt und Alice nicht richtig. Und zu viel über die Alice nachzugrübeln, die ich hätte kennenlernen können, die Alice, die ich missverstanden, gefürchtet und verloren habe, führt nur zu selbstquälerischer Reue.
Samuel hat auch eine Geschichte beizutragen, die er gern ausschmückt.
»Alice ist mit mir für einen Tag ans Meer gefahren«, sagt er, und mittlerweile lächeln wir und lassen ihn die Wahrheit ein wenig zurechtbiegen. »Und da war eine Familie am Strand mit so einer kleinen Luftmatratze, ein bisschen wie die, auf die Alice Dad gelegt hat, als er noch ein Baby war, um mit ihm zu schwimmen. Die hat sie sich ausgeliehen.«
»Sie ist damit gepaddelt, oder?«, fragt seine Schwester Iris, die sich immer an der Geschichte beteiligen will, wenigstens ein bisschen.
Samuel nickt ernst.
»Aber es war windig, und die Luftmatratze wurde von einer Strömung erfasst, und wir wurden hinaus aufs Meer getrieben. Alice hat versucht zurückzuschwimmen, aber sie war nicht stark genug. Ein Mann ist vom Strand ins Wasser gerannt, um uns zu helfen, obwohl seine Frau geschrien hat, dass er dableiben soll. Und als er bei uns war, hat Alice ihm gesagt, er soll mich retten.«
Dieser Mann, Thomas heißt er mit Vornamen, wird für den Rest seines Lebens gezeichnet sein von dieser Entscheidung, die er innerhalb weniger Sekunden treffen musste: die Frau retten oder das Kind.
»Ich dachte, ich könnte danach auch sie holen«, sagte er später zu mir im Krankenhaus, bleich und erschüttert, Alice’ letzte Momente unauslöschlich in sein Gedächtnis geprägt. Ich sagte nicht, was ich im Stillen dachte: Alice wollte nicht gerettet werden.
Manchmal weint Rick, manchmal weine ich, aber mit den Jahren, während die Kinder heranwachsen und unsere seltsame Familie mit ihrer Überzahl an Großeltern – lebenden wie toten – gedeiht, glauben wir, hoffen wir immer mehr, dass Jacob und Alice sich dieses Ende gewünscht hätten.