Damals
Alice
Im Herbst arbeiten wir beide so viel, dass wir uns kaum sehen. Jake ist abends meist weg, um die Platte abzumischen, während ich oft bis zehn oder elf im College bleibe und male wie im Fieber. All meine Ideen und Skizzen aus Italien nehmen jetzt in Farbe Gestalt an, Schnappschuss trifft auf Renaissancemalerei, ein Stil, den zu perfektionieren ich mich ständig bemühe.
Falls ich eine Vorzugsbehandlung an der Slade erwartet hatte – das Mädchen mit der Ausstellung in der bekannten Galerie –, werde ich rasch wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Die Dozenten lassen mich schuften wie ein Pferd, selbst Rita Miller.
Inzwischen habe ich sechzehn Zeichnungen und fünf Ölgemälde, die ich als ausstellungsreif betrachte.
»Gut, aber nicht gut genug«, urteilt Rita. »Du kannst es besser.«
Gordon geht durchs Atelier und mustert jedes Werk schweigend.
»Noch nicht das Wahre«, sagt er, obwohl ihm immerhin meine Pietà-Version, Jake schlafend in meinem Schoß, gut gefällt.
»Das da ist brillant, Alice, und ich sage dir auch, warum. Weil ich verschiedene Ebenen in diesem Gemälde erkenne. Da ist eine emotionale Eindringlichkeit vorhanden, der Eindruck, dass du diesen Jungen in deinen Armen beinahe bemutterst. Es ist mit Sorge gemalt, so sehe ich es zumindest. Und so eine Wirkung sollte jedes der Bilder auf mich haben. Ich möchte sie betrachten, darauf starren, bis die verborgene Bedeutung offenbar wird.«
Ich lerne, zuerst in ein bestimmtes Gefühl einzutauchen, ehe ich zu malen beginne. Jeden Tag nehme ich mir eine andere Zeichnung vor – heute ist es die von Jake, wie er an die verspielten Spitzenkissen unseres italienischen Betts gelehnt liegt, sein Gesicht eingerahmt vom schmiedeeisernen Bettgestell – und überlege, was er mir in diesem Moment bedeutet hat. Ich habe viel Zeit gebraucht für diese Skizzen, teilweise eine volle Stunde, und man erkennt, dass er meine Anwesenheit völlig vergessen hat, ganz in Gedanken versunken ist. Bei genauer Betrachtung sehe ich jetzt, dass ich tatsächlich seine Melancholie erfasst habe, diese tief sitzende Traurigkeit, die er meistens so gut überspielt. Ich bin auf einer Reise an Bord meiner Vorstellungskraft. Jake ist wegen seines guten Aussehens in den Medien als Sexobjekt dargestellt worden, ich dagegen sehe etwas anderes. Ich sehe einen Mann kurz vor dem großen Erfolg, wenn nur seine inneren Kämpfe es ihm erlauben. Ich wünschte, er würde seinen Schmerz nicht in sich verschließen, für alle außer Reichweite. Es gibt Möglichkeiten, wie ich ihm helfen könnte, das spüre ich, das weiß ich.
All das fließt in mein Bild mit ein. Ich habe Jacobs Schönheit dargestellt, aber auch seine dunkle Seite, die Seite, die zu zeigen er sich weigert.
Als Gordon King das nächste Mal ins Atelier kommt, betrachtet er das Gemälde lange schweigend.
Schließlich sagt er: »Bravo, Alice. Das ist es, was dich hervorhebt. Gefühlsintensität. Emotionen so stark, dass man glaubt, sie greifen zu können.«
Zusammen mit dem Producer Brian Eno legt die Band letzte Hand an ihr Album. Wenn alles nach Plan verläuft, wird es nächsten Monat gemastert und im Februar veröffentlicht, an einem Datum, das mit der Eröffnung meiner Ausstellung zusammenfällt.
Brian glaubt, dass es vier garantierte Hits auf der LP gibt, einer davon eine Ballade mit dem Titel »Cassiopeia«, die nach unserer Sternennacht am Strand geschrieben wurde. Ein bittersüßer Song, nicht über Jakes und meine Liebe, sondern über Rick und Tom, ihre Schmach nach der giftigen Bemerkung der Passanten. Jedes Mal, wenn ich den Refrain höre, »Sie haben sich gegenseitig aufgebaut, doch ihr habt das kaputt gemacht«, könnte ich heulen.
Wir verfallen in so etwas wie eine Alltagsroutine, als der September in den Oktober übergeht. Um acht wachen wir auf und frühstücken, immer zusammen, immer in der Bar Italia. Mit Luigi sind wir inzwischen befreundet, und er bringt uns unsere Cappuccinos und Cornettos unaufgefordert. Oft will er uns nicht mal dafür bezahlen lassen.
»Eine kleine Spende«, sagt er, »für den Musiker und die Künstlerin, die bald reich sein werden. Ihr könnt für mich sorgen, wenn ich alt bin.«
Eine halbe Stunde später gehe ich zur Slade, und Jake begleitet mich noch ein Stück. Auf der Wellington Street geben wir uns einen Abschiedskuss, manchmal einen sehr langen, leidenschaftlichen, sodass es Pfiffe von Vorübergehenden gibt.
»Wie soll ich mich jetzt noch konzentrieren?«, sagt er jedes Mal.
Sobald ich im College bin, denke ich nur noch an meine Arbeit und habe kaum von der Leinwand aufgesehen, wenn Rick mich mittags abholt, um eine Kleinigkeit essen zu gehen. In einer dieser Mittagspausen Anfang Oktober, das Laub der Bäume beginnt gerade in Rot- und Goldtönen zu entflammen, überkommt mich plötzlich eine heftige Übelkeit und ich muss mich mitten auf der Straße hinsetzen, meine schweißnasse Stirn in die Hand stützen.
»Alice, was ist?«
Rick hockt sich neben mich.
»Ich glaube, ich muss …« Der Rest geht unter, als ich meinen wässerigen Mageninhalt auf den Bürgersteig erbreche.
»Hast du was Falsches gegessen?«, fragt er, zieht mich hoch und manövriert uns geschickt um die Kotze herum.
»Ich habe in den letzten Tagen kaum etwas gegessen. Vielleicht liegt es daran.«
Doch als wir zu unserem Lieblingsladen kommen und ich meine gewohntes Sandwich mit Thunfisch und Gurke in den Händen halten, wird mir wieder schlecht, und ich stürze hinaus auf die Straße. Nachdem ich mich übergeben habe, geht es mir etwas besser.
»Ich bin nicht krank«, sage ich zu Rick.
Er mustert mich mit schräg gelegtem Kopf und beißt dabei in sein Schinken-Käse-Brötchen.
»Also, du bist ein bisschen grün im Gesicht. Und nimm’s mir nicht übel, aber mir scheint, du hast etwas zugenommen. Sonst warst du immer so dünn.«
»Ja, hat Jake auch schon gesagt. Er meint, er mag üppige Frauen.«
Alle Anzeichen sind da, wirbeln um uns herum, aber wir brauchen trotzdem eine Weile, um sie zu der richtigen Schlussfolgerung zusammenzusetzen.
»Ich bin erschöpft, das ist alles. Wir arbeiten beide wie die Verrückten.«
Rick sieht mich skeptisch an.
»Was ist?«
»Alice, Liebste, ist es möglich, dass du schwanger bist?«
»Ich nehme die Pille, wie kann ich da schwanger sein?«
»Süße, ich bin schwul, woher soll ich das wissen? Aber komm mit, wir finden es heraus.«
Rick, der schon ein paar harmlose Geschlechtskrankheiten hinter sich hat, ist ein bekanntes Gesicht in der Marie Stopes Clinic an der Tottenham Court Road. »O nein, Richard, nicht du schon wieder«, sagt die Arzthelferin am Empfang, lächelt aber dabei.
»Diesmal«, sagt er mit leiser, verschwörerischer Stimme, »geht es um meine Freundin. Sie hat ein etwas, äh, anderes Problem.«
Wir müssen eine Stunde auf das Ergebnis warten, und statt zurück zum College zu gehen, setzen Rick und ich uns in einen Pub, jeder mit einem kleinen Bier vor sich, nur dass ich meins nicht anrühre.
»Ich bin schwanger«, sage ich. »Ich weiß es.«
Da ist diese neue Wölbung meines Bauchs, die volleren Brüste, die manchmal schmerzen, das Ausbleiben der Periode, das schon Signal genug hätte sein sollen. Wenn ich nicht so von meiner Arbeit in Anspruch genommen wäre, hätte ich eher darauf geachtet.
»Ist aber kein großes Drama heutzutage«, sagt Rick.
Er beäugt mich, versucht, meine Reaktion zu deuten, um nicht das Falsche zu sagen. Keiner von uns beiden nimmt das Wort Abtreibung in den Mund, erst die Schwester in der Klinik spricht die Möglichkeit an, als sie mir die Schwangerschaft bestätigt, während Rick dabeisitzt wie ein nervöser Ehemann.
»Neun Wochen würde ich sagen, vielleicht auch zehn. Kommt das hin?«
»Nichts kommt hin, ich nehme die Pille.«
Sie hatte schon mit mir darüber gesprochen, dass die Pille nur zu neunundneunzig Prozent wirksam ist und es empfohlen wird, zusätzlich Kondome zu benutzen, was aber niemand macht. Außerdem muss ich mir eingestehen, dass ich nicht sehr gewissenhaft darauf geachtet habe, jeden Tag eine zu nehmen. Ich bin ein Dummkopf. Ich bin selbst daran schuld.
»Es wäre noch Zeit für einen Abbruch«, sagt sie. »Dazu müssten wir aber einen Termin vereinbaren. Kommen Sie morgen wieder, falls Sie sich dazu entschließen, dann können wir die Formulare ausfüllen.«
Rick führt mich aus der Klinik, einen Arm um mich gelegt.
»Soll ich mit zu dir nach Hause kommen?«
»Nein. Du warst großartig, danke. Ich muss es Jake allein sagen.«
»Er liebt dich, Al. Es wird alles gut, egal wie du dich entscheidest.«
Das neue Album der Disciples ist endlich fertig, und zur Feier des Tages brät Jake ein Hähnchen und hat eine Flasche Cava in einen improvisierten Eiseimer gelegt, Betonung auf Eimer, den er bis zum Rand mit Wasser und Eiswürfeln gefüllt hat.
Er wickelt die Alukappe ab und lässt den Korken knallen, ich sehe zu, wie der Sekt über den Rand unserer Gläser sprudelt. Jake nimmt seines, und wir stoßen an.
»Auf uns. Auf Apparition. Auf deine erste Ausstellung.«
Er ist fiebrig glücklich heute. Es hat etwas Manisches, wie er redet und redet und in unserer kleinen Wohnung umhergeht. Und während ich ihm zuhöre, denke ich: Wie soll ich es ihm je sagen?
Nach Meinung seiner Plattenfirma, Island Records, hat Brian Eno ein schon vorher tolles Album in einen »Kracher« verwandelt.
»Sie glauben, dass es ein Riesenerfolg wird«, sagt Jake. »Das haben sie wortwörtlich gesagt, und normalerweise wagen sie keine Prognosen. Deshalb drängt Island jetzt auf eine frühere Veröffentlichung. Sie wollen, dass ›Cassiopeia‹ Anfang Februar auf die Playlist von Radio 1 kommt. Könnte sein, dass wir die Präsentation früher machen müssen, falls du das schaffst.«
Ich folge ihm in die Küche, wo ich mich an die Arbeitsplatte lehne und zusehe, wie er das Hähnchen aus dem Ofen zieht und bestreicht, mein Kopf voll von den Dingen, die ich nicht sagen kann.
»Du bist so still«, bemerkt er, als er den Vogel wieder in den Ofen schiebt. »Nur müde«, sage ich, obwohl es in mir schreit: Schwanger. Abtreibung. Abtreibung. Baby.
Jake geht ins Wohnzimmer und sieht wie jeden Abend seine Plattensammlung durch, hockt sich vor eine der Kisten, zieht eine LP heraus, überlegt, steckt sie wieder rein. Das gehört zur täglichen Routine, es kann fünf Minuten oder länger dauern, bis er sich entscheidet. In Italien haben Tom und Eddie ihn »Vibes-Master« getauft, aber manchmal brauchte er so lange, dass wir alle drei schrien: »Leg einfach irgendwas auf!« Für Jake jedoch muss es immer genau das Passende sein. Als er jetzt Leonard Cohens Songs from a Room auswählt und den ersten Titel, »Bird on the Wire« spielt, eine Freiheitshymne, die wir beide lieben, breche ich unvermittelt in Tränen aus. In unserer Beziehung dreht sich so vieles um Freiheit und Befreiung, um Selbstfindung und Selbstverwirklichung, und jetzt ist da dieses winzige Klümpchen Mensch, das alles verändern könnte. Und verrückterweise wünsche ich mir das sogar irgendwie.
Jake ertappt mich, wie ich mir die Tränen wegwische, und ist sofort bei mir, kniet sich vor mich hin, nimmt meine Hände.
»Ist es der Druck wegen der Ausstellung? Wenn es dir zu viel wird, können wir mit der Veröffentlichung bestimmt noch warten. Manchmal vergesse ich, wie jung du noch bist, Alice. Es tut mir leid.«
»Das ist es nicht. Ich freue mich auf die Ausstellung.«
»Was dann? Sag’s mir.«
»Ich kann nicht.«
»Alice, was es auch ist, du musst es mir sagen.«
Sag es einfach klar und direkt, so wie sie es in der Klinik gemacht haben.
»Okay. Ich bin schwanger. Zehnte Woche. Fast drei Monate.«
Die Bombe ist geplatzt.
»Schwanger?«
»Ja.«
»Wie das denn?«
»Ich weiß es nicht. Manchmal vergesse ich es, die Pille zu nehmen. Es ist meine Schuld, es tut mir leid.«
»Es tut dir leid?«
Ich stehe noch zu sehr unter Schock, um zu begreifen, weshalb er auf einmal so strahlt.
»Warum um alles in der Welt sollte dir das leidtun?«
Er grinst bis über beide Ohren und küsst meine Hände, und nun lächele ich auch, nein, ich lache laut.
»Du freust dich darüber?«
»Und wie. Das ist fantastisch. Wunderbar. Großartig. Du bekommst ein Baby. Wir bekommen ein Baby. Alice Garland, das ist die beste Neuigkeit, die ich je gehört habe.«