Heute

Luke

Adoptierte versuchen häufig, die biologischen Eltern zu schnell in ihr Leben zu integrieren. Es drängt sie, die fehlenden Jahre so rasch wie möglich aufzuholen und eine starke Eltern-Kind-Bindung aufzubauen. Ein Vorhaben, das zwangsläufig zum Scheitern verurteilt ist.

Joel Harris, Wer bin ich? Das verborgene Trauma adoptierter Kinder

Alice wird unsere Tagesmutter. Sooft ich mir das auch vorsage, ich kann es immer noch nicht richtig begreifen. Mit anderen Worten, meine biologische Mutter Alice, die ich seit knapp zwei Monaten kenne, wird Woche für Woche hier sein, bei uns, eingebunden in unser Familienleben. Was Eltern-Kind-Zusammenführungen angeht, ist unsere ein ziemlicher Erfolg, würde ich sagen.

Wir, also Alice, Hannah und ich – plus Samuel natürlich, in den Schoß seiner Großmutter gekuschelt –, haben die Vereinbarung bei Tee und Eclairs im French Café getroffen. Alice wird um 9.30 Uhr morgens kommen und bis 18 Uhr bleiben, dienstags bis donnerstags, hat sich aber bereit erklärt, falls nötig auch an anderen Tagen einzuspringen. Sie will nicht mehr als hundert Pfund pro Woche dafür nehmen, was erheblich weniger ist als sämtliche professionellen Tagesmütter verlangten. Wir haben darauf bestanden, mehr zu bezahlen, aber sie wollte nichts davon hören.

»Seht ihn euch nur an«, sagte sie und streichelte Samuels Hals mit dem Zeigefinger. »Er ist so bezaubernd, eigentlich müsste ich euch bezahlen.«

»Das sagst du nur, damit wir kein schlechtes Gewissen haben«, erwiderte ich, worauf sie lachte.

»Luke, wir gewinnen alle dabei. Ihr braucht jemanden, dem ihr vertrauen könnt, und ich brauche eine Veränderung in meinem Leben. Ist doch perfekt.«

An dem Abend, bevor Hannah wieder anfängt zu arbeiten, brate ich Filetsteaks und mache eine Flasche von unserem bevorzugten Rioja auf. Kerzenschein, Samuel hellwach und über den Tisch hin und her gereicht, während wir abwechselnd essen.

»Ich werde ihn vermissen.«

»Natürlich, aber es sind ja nur drei Tage. Und wenn du erst mal im Büro bist und an einem Artikel arbeitest, wirst du ihn schnell vergessen.«

»Nein, das werde ich nicht«, sagt Hannah, leicht aufbrausend. »Aber wenigstens brauche ich mir keine Sorgen um ihn zu machen. Ich könnte mir niemand Verlässlicheren vorstellen.«

»Verlangen wir nicht ein bisschen viel von Alice?«

»Nein, ich glaube, sie möchte das wirklich gern machen. Sie hat jetzt schon eine so enge Beziehung zu Samuel, es ist fast unheimlich.«

»Ich hoffe nur, dass meine Beziehung zu ihr dadurch auch etwas enger wird.«

»Alice hat Samuel ja gerade deshalb so schnell lieb gewonnen, weil er sie an dich erinnert.«

»Ist halt einfacher, mit einem Baby umzugehen, als mit der komischen, verkorksten Erwachsenenversion.«

Hannah lacht. »Genau.«

Wir machen uns gerade einen Tee und bereiten uns langsam aufs Schlafengehen vor, als das Telefon klingelt. Es ist halb zehn, also wahrscheinlich meine Mutter, ebenfalls mit ihren Ritualen vor dem Zubettgehen beschäftigt, wozu auch ihr abendlicher Anruf gehört.

»Hallo, Liebling, ich rufe nur kurz an, um Hannah alles Gute für morgen zu wünschen.«

»Hallo, Mum. Möchtest du sie selbst sprechen?«

»Nein, nein, sie hat bestimmt noch zu tun. Sag ihr liebe Grüße. Eure Tagesmutter fängt also morgen an? Wie heißt sie denn?«

Verstellen ist schwierig. Es verschlägt einem die Sprache und lässt den Atem stocken.

»Alice.«

»Alice?«, sagt meine Mutter. In meinem Zustand erhöhter Wachsamkeit, um nicht zu sagen der Paranoia, frage ich mich, ob sie gerade in Gedanken all die Alice’ durchgeht, die sie je gekannt hat. Alice, Alice, sollte mir der Name nicht etwas sagen?

»Alice und weiter?«

»Ach, äh, puh, der Nachname fällt mir gerade nicht ein.«

»Liebling, du bist wirklich ein hoffnungsloser Fall.« Meine Mutter lacht. »Wie alt ist sie?«

»Hm, so in den Vierzigern, glaube ich.«

»Aha, also schon etwas älter. Wie sind ihre Verhältnisse?«

Hätte ich doch nur darauf bestanden, das Telefon an Hannah weiterzureichen, sie wäre viel besser mit diesem Verhör zurechtgekommen als ich. Sie hockt auf der Sitzbank, den schlafenden Samuel in den Armen, und lässt mich nicht aus den Augen.

»Was meinst du damit, Mum? Sie malt nebenbei. Will ihr Einkommen aufbessern, schätze ich.«

»Aber hat sie denn Erfahrung mit Babys? Sie ist doch eine richtige Kinderfrau, oder?«

»Natürlich, Mum. Lass uns morgen weiterreden, ja? Hannah möchte heute früh ins Bett.«

Ich lege auf und setze mich zu Hannah auf die Bank, etwas gebeugt von der Dramatik des Ganzen.

»Oh, Babe«, sagt sie, »das ist alles so schwierig, was? Aber wenn deine Mutter erst mal Bescheid weiß, wird es leichter.«

»Ich kann es ihr nicht sagen.«

»Noch nicht. Aber bald. Alles wird sehr viel einfacher, sobald Christina erfährt, wer Alice wirklich ist.«

Was für vorausschauende Worte. Hätte ich nur auf sie gehört. Hätte ich meiner Mutter nur gleich die Wahrheit gesagt.