Damals

Alice

Jake zeigt mir eine neue Welt. Er sorgt sich um nichts und will alles ausprobieren. Zu sagen, dass er mir innerhalb von wenigen Tagen sexuell die Augen geöffnet hat, wäre eine gewaltige Untertreibung. Aber es ist noch mehr als das. Er kostet die kleinen, schönen Momente des Lebens voll und ganz aus, angefangen von dem täglichen italienischen Cappuccino bis hin zum Sternschnuppengucken im Hyde Park (eines Nachts sind wir über das verschlossene Tor geklettert und haben stundenlang in Decken eingehüllt auf einer Bank gesessen; ich glaube, das ist das Romantischste, was ich getan habe und je tun werde).

Es ist auch seine Idee, ein ganzes Wochenende im Bett zu verbringen, achtundvierzig Stunden dekadentes Herumlungern, bei dem wir uns nur ein Mal anziehen dürfen, um in dem kleinen Laden gegenüber Proviant einzukaufen.

Amir, der Inhaber, lacht, als er sieht, was wir auf der Theke aufgereiht haben.

Eine Flasche Cava, eine Flasche Weißwein, Milch, ein Glas Nescafé Blend 37, eine Packung Mother’s- Pride-Toastbrot, PG-Tips-Tee und ein Päckchen Ingwerkekse.

»Nur das Lebensnotwendigste, ja?«, sagt er.

»Ja, ich glaube, sonst haben wir alles«, sagt Jake und legt den Arm um mich.

In der Küche packen wir zusammen die Einkäufe aus wie ein altes Ehepaar: Milch in den Kühlschrank, Kaffee, Tee und Kekse in den Schrank, Sekt in den Kühlschrank. Ich setze gerade den Kessel für Tee auf, als Jake plötzlich von hinten seine Hände in meinen Ausschnitt schiebt – der Kälteschock zweier Eiswürfel an meinen Brustwarzen.

Ich schreie auf, spüre dann aber die Wärme seines Munds an meinem Hals, sodass ein lustvolles Japsen daraus wird.

Als ich mich umdrehen will, um ihn zu küssen, flüstert er »Nein«, und mittlerweile kenne ich dieses Spiel. Ich liebe es. Ich lebe dafür.

»Wir werden noch viel Zeit brauchen, viele Wochenenden«, sagt er später, als wir auf dem braunen Sofa liegen und eine Zukunft hingebungsvoller Erotik sich vor uns erstreckt, eine Unendlichkeit aus Liebesakten.

Jake trägt den Fernseher ins Schlafzimmer, und wir schauen uns eine Serie nach der anderen an: Doctor Who, The Goodies, Parkinson. Es gibt eine Omnibus-Folge über Andy Warhol, die wir gebannt verfolgen. Wie alle sind wir fasziniert von Warhol. Es ist schon so viel über ihn geschrieben worden, aber man sieht ihn nur selten im Fernsehen, diesen Mann, der nicht zuletzt für die erbitterte Verteidigung seiner Privatsphäre berühmt ist.

»Rick wird mal so groß rauskommen wie Warhol, mindestens«, bemerke ich. »Das habe ich Gordon neulich sagen hören.«

Jake nimmt meine Hand und küsst sie, ohne die Augen vom Bildschirm abzuwenden.

»Ich hoffe schwer, Alice Garland, dass du eines Tages auch an dich selbst glaubst. Du bist genauso begabt wie er.«

Den spanischen Sekt trinken wir um zwei Uhr morgens aus billigen, mit Rabattmarken gekauften Wassergläsern. Ich kenne sie, denn wir haben zu Hause die gleichen. Mein Vater mixt meiner Mutter gern einen Gin Tonic in diesen Gläsern, während er seinen Abendwhisky aus edlem Kristall, Familienerbstücken, trinkt. Kleine, alltägliche Gemeinheiten, um sie zu demütigen.

»Warum ertragt ihr ihn?«

»Weil wir Angst vor ihm haben. Seinem Jähzorn. Den Wutanfällen aus heiterem Himmel. Meistens kann man es mit ihm aushalten, aber wenn er getrunken hat, ist es ein Albtraum.«

»Alkoholiker?«

»Ich weiß nicht. Er muss gar nicht so viel getrunken haben, damit seine Stimmung kippt. Drei Gläser Wein, und er rastet völlig aus. Dann wartet er nur darauf, dass meine Mutter oder ich ein falsches Wort sagen, damit er losbrüllen kann. Nach einer Weile gewöhnt man sich daran. Meine Mutter driftet einfach in ihre Traumwelt ab, und ich habe mich jedes Mal ein bisschen mehr innerlich abgeschottet. Ich musste ja irgendwie die Zeit überstehen, bis ich ausziehen konnte.«

»Armer Schatz«, sagt Jake und küsst mich. »Ich hoffe, er hat dir nie wehgetan. Körperlich, meine ich.«

»Nein, Gott sei Dank. Manchmal dachte ich, er wäre kurz davor. Aber er hat sich immer in letzter Sekunde beherrscht.«

Jake schweigt einen Moment.

»Mein Großvater war gewalttätig. Die ganze Zeit über. Aber ich habe mich nie von ihm unterkriegen lassen.«

»Du hasst ihn ziemlich, oder?«

Er zuckt die Achseln. »Er ist tot, also … Ich schätze, ich muss das alles einfach hinter mir lassen.«

Unwillkürlich will ich nach seinen armen, vernarbten Handgelenken greifen, aber ich halte mich zurück und versuche, diesem Umhang aus Unerschütterlichkeit zu vertrauen, den er jedes Mal überwirft, wenn ich ihn nach seiner Vergangenheit frage, so als könnte sie ihm dann nichts anhaben. Doch ich glaube, seine Narben sind der Beweis des Gegenteils: Die Vergangenheit hat ihn untergekriegt.

Am nächsten Morgen, als Jake sich vor dem Spiegel im Bad rasiert und ich gerade duschen will, mache ich auf der Suche nach Duschgel das Schränkchen auf. Zwei Medikamentenpackungen stehen darin, die mir sofort ins Auge fallen. Ich nehme sie heraus. Phenelzin und Largactil. Sie machen einen ganz anderen Eindruck als die Antibiotika, die ich während eines Großteils meiner Kindheit wegen häufiger Mandelentzündungen verschrieben bekam.

»Phen-el-zin«, buchstabiere ich. »Das sieht nach starkem Zeug aus. Was ist das?«

Jake legt seinen Rasierer ab und dreht sich zu mir um, sein halb rasiertes Kinn unterteilt von weißem Schaum.

»Antidepressiva und Antipsychotika. Ich habe sie jahrelang genommen, seit ich sechzehn war.«

»Antipsychotika?«

»Deshalb bin ich noch kein Psycho, falls du das denkst. Höchstens depressiv. Aber auch das ist vorbei. Ich nehme die schon seit einer Weile nicht mehr. Ich hasse es, wie sie meinen Verstand vernebeln. Wenn in meinem Kopf alles verschwimmt, kann ich keine Songs schreiben, das Zeug macht mich langsam und träge.«

Er nimmt mir die erste Packung ab und fängt an, die Tabletten eine nach der anderen herauszudrücken und ins Waschbecken fallen zu lassen.

»Was machst du da?«

»Einen Schnitt. Hätte ich schon vor langer Zeit tun sollen.«

Das geht mir alles zu schnell. Ich will ihn aufhalten, ihm die Tabletten entreißen und wieder in den Schrank legen. Für alle Fälle. Ich bin noch dabei zu verarbeiten, dass er die vergangenen zehn Jahre Psychopharmaka genommen hat, und jetzt wirft er die einfach so weg. Was ist, wenn es wiederkommt? Ich fühle mich total überfordert.

»Jake, hör auf! Solltest du nicht zuerst mit deinem Arzt darüber reden?«

»Komme ich dir depressiv vor? Oder übertrieben euphorisch?«

»Na ja, glücklich im Moment, aber …«

Hilflos sehe ich zu, wie er die andere Packung nimmt und den Inhalt ebenfalls wegwirft.

»Komm her«, sagt er.

Er klappt den Klodeckel zu und setzt sich, zieht mich auf seinen Schoß.

»Glaub mir, es gibt keinen Grund zur Sorge.«

»Wie fühlt sich das an?«

»Depressionen?«

Ich nicke, zu aufgewühlt, um zu sprechen, zu bange vor dem, was ich erfahren werde.

»Es ist, als wäre man unter Wasser, während die ganze Welt an einem vorbeizieht. Man möchte auftauchen und Luft holen, aber man hat nicht die Energie dafür, zu gar nichts mehr, als wäre man innerlich gelähmt. Also vegetiert man in einer Blase der Hoffnungslosigkeit vor sich hin.«

Ich schmiege mich an ihn, kneife die Augen zusammen. Meine Tränen sind lächerlich, wenn ich bedenke, wie viel er durchgemacht hat.

»Alice, sieh mich an.«

Ich öffne die Augen, und er küsst mich.

»Du musst nicht traurig sein. Bitte glaub mir, wenn ich dir sage, dass es vorbei ist. Es ging mir schon vorher gut, schon bevor du aufgetaucht bist und meine Welt auf den Kopf gestellt hast. Vertraust du mir?«

»Ja.«

»Gut. In dem Fall – zwei Regeln für den Rest des Wochenendes«, sagt er. »Keine Kleider, zu keinem Zeitpunkt. Und keine Fragen mehr.«

Ich war verliebt, muss man bedenken. Nichts wollte ich mehr, als ihm glauben.