Heute
Luke
Wenn Alice morgens kommt, warten Samuel und ich schon auf sie. Sie klopft immer an, benutzt nie ihren Schlüssel, und ich öffne ihr schwungvoll. Das gehört zu unserem Morgenritual. Alice zieht eine ihrer komischen Grimassen, Mund und Augen zu einem überraschten »Oh!« aufgerissen, und wird sogleich mit einem Kichern belohnt. Samuel streckt die Arme aus und reckt sich ihr mit dem ganzen Oberkörper entgegen. Jeden Tag geht das so.
»Verräter«, sage ich und übergebe ihn ihr mit einem Abschiedskuss, worauf Alice sagt, was sie immer sagt: »Mach dir keine Sorgen um uns, wir kommen bestens zurecht.«
Wir wissen jetzt schon nicht mehr, wie wir es ohne sie geschafft haben. Sie kümmert sich nicht nur um Samuel, sondern wäscht und bügelt auch seine Sachen, putzt und kocht für uns. Beim Nachhausekommen warten liebevoll zubereitete Mahlzeiten auf Hannah und mich – Shepherd’s Pie, Tagine, Lasagne –, die beliebten Klassiker, aber immer mit einer scharfen, frischen Note, mit Chili oder Ingwer oder eingelegter Zitrone. Ich ertappe mich manchmal dabei, wie ich mich schon nachmittags aufs Abendessen freue.
Obendrein beschenkt sie uns gern, obwohl wir sie immer wieder bitten, das nicht zu tun. Jede Woche frische Blumen, Kleider und Spielsachen für Samuel, feine kleine Schokoladen aus dem Delikatessenladen.
Heute soll Hannah Rick interviewen, als Aufmacher für den Kulturteil der Sunday Times. Mit einem Exklusiv-Feature über Richard Fields im Gepäck ist sie gleich an ihrem ersten Arbeitstag zur Mitarbeiterin des Jahres gekürt worden. »Ein Glück, dass du zurück bist, wir haben dich wirklich vermisst«, lautete die Begrüßung des Feuilletonchefs, wie sie abends jubilierend berichtete.
Um kurz nach sechs bin ich zurück, rechtzeitig zu Alice’ offiziellem Feierabend. Sie rührt in der Küche in einem Hühnereintopf, und Samuel lehnt frisch gebadet und in einem sauberen Schlafstrampler an seinem Sitzsack.
Es hat etwas Tröstliches, mit welcher Sorgfalt sie das beste Essen für mich, ihren Sohn, zubereitet, mit dem sie nach siebenundzwanzig Jahren wieder vereint wurde. Sie erweist sich als zurückhaltender, als ich erwartet hatte, und ich denke gern, dass sie ihre Liebe eben durch das Kochen für uns ausdrückt.
Abends möchten wir sie oft noch ein bisschen dabehalten, doch sie eilt jedes Mal davon und schlägt das angebotene Glas Wein aus.
»Ihr braucht eure Zeit mit Samuel«, sagt sie.
Einmal konnte ich sie bisher überreden, noch etwas mit uns zu trinken, nur um es hinterher zu bereuen. Sie saß mit ihrem Glas am Tisch und zählte auf, was sie mit Samuel unternommen hatte, ein Besuch in der Bibliothek, um Bilderbücher anzuschauen, ein Spaziergang im Park, und dieses Beisammensein, das ich ihr aufgezwungen hatte, fühlte sich genauso an, wie es von außen wirken musste: zwei Eltern, die sich von ihrer Tagesmutter Bericht erstatten lassen. Nicht mehr und nicht weniger. Also bin ich zu dem Entschluss gelangt, dass unsere Beziehung, Alice’ und meine, außerhalb der Eltern-Nanny-Dynamik weiterentwickelt werden muss.
Als Hannah wenig später nach Hause kommt, schwärmt sie euphorisch von ihrem Tag in Ricks Atelier.
»Oh, Alice«, sagt sie, schwingt ihre Umhängetasche auf den Boden und streckt die Arme nach Samuel aus, »er war großartig. Wir haben stundenlang miteinander geredet. Über alles Mögliche. Seine Zeit an der Slade. Seine Liebesbeziehungen oder vielmehr darüber, dass er keine hat. Er meinte, eigentlich hätte es immer nur dich gegeben.«
»Hat er über unsere erste Zeit mit Luke gesprochen? Als wir zu dritt waren?«, fragt Alice.
»Nein, das weniger.«
Hannah wirft mir einen Blick zu. Sie weiß, wie sehr ich mich danach sehne, mehr über meine ersten Lebenswochen zu erfahren.
»Es ist für uns beide schwierig, an diese Tage zurückzudenken. Solch schmerzliche Erinnerungen.«
»Ich verstehe«, sage ich, obwohl ich es eigentlich nicht verstehe.
Meiner Ansicht nach haben meine biologischen Eltern die Pflicht, alles mit mir zu teilen, woran sie sich an mich als Baby erinnern. An dieses Selbst, das mir fehlt. Das Selbst, zu dem ich keinen Zugang bekomme. Es geht mir nicht darum, ihnen ein schlechtes Gewissen zu machen, sie leiden zu lassen, keineswegs, aber diese Suche nach Identität nimmt immer mehr Raum ein. Manchmal kann ich an nichts anderes mehr denken.
»Wie war dein Tag?«, fragt Hannah, also erzähle ich ihr von Reborn, der neuen Band, die mir nicht mehr aus dem Kopf geht.
»Ich habe mich über Mittag mit den Bandmitgliedern getroffen, sie gefallen mir noch besser als erwartet. Sie sind so politisch wie The Clash, aber mit einem Discosound, passend zum neuen Jahrtausend. Nach so was suche ich schon seit Langem.«
Hannah küsst mich und legt mir Samuel in die Arme.
»Das behauptest du jedes Mal.«
»Der Eintopf steht fertig auf dem Herd«, sagt Alice, »ihr könnt ihn essen, wann ihr wollt.«
»Setz dich doch noch fünf Minuten zu uns«, fordert Hannah sie auf.
»Ich kann leider nicht, ich habe noch eine Verabredung. Muss mich beeilen.«
Schon geht sie, Mantel an, gestreiften Leinenbeutel über dem Arm, und ich sehe sie mit einer Mischung aus Dankbarkeit und Bedauern die Küche verlassen. Will etwas von ihr, ohne genau zu wissen, was.