Heute

Luke

Die Abwesenheit der biologischen Eltern kann sich auf ein Adoptivkind ähnlich auswirken wie ein Todesfall. Es leidet unter einem unerklärlichen Verlust. Und sofern man nicht offen mit ihm über die Umstände seiner Geburt spricht, wird dieser Kummer seine Persönlichkeit prägen.

Joel Harris, Wer bin ich? Das verborgene Trauma adoptierter Kinder

Ich würde das nie offen zugeben, aber ich bin ein bisschen sauer, als Hannah zu ihrem zweiten Treffen mit Rick abschwirrt. Sie darf ihn näher kennenlernen und ich nicht.

Die Sunday Times bringt ihr Interview tatsächlich als Hauptbeitrag im Feuilleton und verweist schon auf der Titelseite darauf. In der Redaktionskonferenz hat ihr Chef es als »Story des Jahres« bezeichnet.

Rick ist offenbar ungewöhnlich indiskret gewesen und hat Privates über Grace Jones, Mick Jagger und Lucian Freud ausgeplaudert, nichts davon streng vertraulich.

»Ist alles wahr«, sagte er. »Also schreib, was du willst.«

Für einen Mann, der so auf den Schutz seiner Privatsphäre bedacht ist, war er außerordentlich gesprächig.

Ich bin ungeheuer stolz auf Hannah und ein wenig pikiert. Und meine Eifersucht – ja, ich gebe es zu – wird noch durch den freundschaftlichen Umgang verstärkt, den Alice und Hannah miteinander haben. Alice hört sich furchtbar gern Hannahs Geschichten über ihre Journalistenkollegen an, über die Ausstellungen, die sie bespricht, die Künstlerinnen und Künstler, die sie trifft. Wenn Hannah früher von der Arbeit kommt, bleibt Alice oft noch auf eine Tasse Tee, während sie bei mir jedes Mal davonstürzt, sobald ich zur Tür hereinkomme. Sie scheint sich überhaupt nicht dafür zu interessieren, dass ich mir den Arsch aufreiße, um Reborn unter Vertrag zu bekommen, dabei hat sie die Band doch selbst gesehen und offensichtlich gemocht.

Es ist ungerecht, so zu denken, das weiß ich. Als Hannah diese Woche zusätzliche Tage arbeiten musste, um ihr Feature über Richard Fields fertigzustellen, ist Alice klaglos eingesprungen und wollte noch nicht mal mehr Geld dafür annehmen.

»Ich kümmere mich so gern um Samuel«, sagte sie. »Ihr braucht nie ein schlechtes Gewissen zu haben, wenn ihr mich fragt.«

Sie ist wunderbar, aber immer ein wenig verschlossen.

»Du kannst eine Lücke von siebenundzwanzig Jahren nicht von heute auf morgen schließen«, meinte Hannah gestern, als ich versuchte, ihr zu erklären, wie ich mich fühle. »Ich weiß, es ist schwer, aber du musst euch ein bisschen Zeit geben.«

Heute jedoch ist keine Zeit zum Grübeln. In der Branche geht das Gerücht um, dass Reborn ein Wahnsinnsangebot von Universal bekommen hat. Konkrete Zahlen sind nicht bekannt, man rechnet aber mit rund einer Million. Spirit, mein Label, kann da nie und nimmer mithalten. Allerdings habe ich noch eine Idee, die ich ihnen präsentieren will. Und ich kann der Band anbieten, dass sie das letzte Wort haben dürfen, wenn es ans Abmischen der Platte geht. Bei Universal könnten sie genauso gut zu Simon Cowell, dem X-Factor-Typen, gehen. Jede Menge Kohle und die Entscheidungsgewalt eines Affen. Das ist doch keine Option.

Um jeden Zweifel über die Lage auszuräumen, bestellt mich Michael, mein Boss, nachmittags um vier in sein Büro, als der Rest der Firma schon zum traditionellen Freitagsbesäufnis in den Pub abgewandert ist. Er bietet mir etwas zu trinken aus dem Kühlschrank hinter seinem Schreibtisch an, säuberlich aufgereihte Flaschen von Red Stripe, Chablis und Bollinger, doch ich lehne ab. In Michaels Gegenwart bleibe ich lieber nüchtern.

»Ich bin ein Risiko mit dir eingegangen, Luke. Hab dir ein eigenes Label anvertraut, obwohl du noch ein Grünschnabel warst, stimmt’s?«

»Das stimmt. Und dafür bin ich dir dankbar.«

»Also, ich komme mal gleich zur Sache. Wir hatten heute eine Vorstandssitzung. Die Finanztypen waren dabei, und zwei der Vorstandsmitglieder – ich will hier keine Namen nennen – waren dafür, Spirit dichtzumachen. Die Verluste mindern, sozusagen.«

»Michael …« Ich will etwas entgegnen, bringe aber kein Wort heraus.

Dass dieser Fall eintritt, habe ich schon tausendfach befürchtet, prognostiziert, schwarzgemalt. Nehmt mir Spirit weg – mein eigenes Plattenlabel, das, was mir auf der Welt am meisten bedeutet (abgesehen von Hannah und Samuel) –, und ich garantiere für nichts mehr. Spirit gibt mir Stabilität, gibt mir Halt. Es gibt mir eine Orientierung im Leben.

»Sieh mich nicht so an, Luke. Du hast meine hundertprozentige Unterstützung. Ich will nur sagen, dass du diesen Deal mit Reborn unter Dach und Fach bringen musst. Du hast sie am Haken, aber die ganze Branche will sie an Land ziehen. Sorg dafür, dass du es schaffst.«

»Was ist, wenn nicht?«

»Dann sehen wir weiter. Aber wir brauchen jetzt einen Erfolg.«

Um kurz nach fünf rufe ich Steve Harris an, den Manager der Band, einen missmutigen, mickrigen Schotten, den niemand leiden kann.

»Hey, Luke! Wie geht’s?«

Er klingt untypisch jovial, und mir wird schnell klar, dass Reborn wie alle anderen ihren Freitagnachmittag im Pub verbringen.

Ablehnen ist keine Option, als Steve sagt: »Komm her und trink was mit uns«, auch wenn ich um sechs zu Hause sein müsste, um Alice abzulösen (Hannah macht wieder Überstunden). Ich nehme mir vor, nur auf ein Bier zu bleiben und mir dann ein Taxi zu nehmen, so kann ich immer noch pünktlich zurück sein.

Allerdings hatte ich nicht damit gerechnet, dass sie so gut drauf sind, optimale Bedingungen, um ihnen mein Angebot zu unterbreiten. Steve steht auf und umarmt mich, und die anderen tun es ihm nach, Umarmungen und Schulterklopfen reihum.

»Soll ich eine Flasche Schampus für uns holen?«, frage ich.

Getränke gehen grundsätzlich auf die Firma, und mit Champagner kann man junge, aufstrebende Musiker immer beeindrucken.

Daniel, der Leadsänger, folgt mir zum Tresen.

»Gut, dass du gekommen bist«, sagt er, während ich nicht nur eine, sondern gleich zwei Flaschen ordere. »Die Sache ist die, wir mögen dich echt alle und vertrauen dir, aber wir haben gerade ein unglaubliches Angebot bekommen.«

»Ja, das hat sich schon rumgesprochen. Aber ich habe eine Idee, mit der euer nächstes Album wirklich der Hammer werden könnte.«

Nachdem der Champagner eingeschenkt ist und die Flaschen – um besonders dick aufzutragen – in die zugehörigen Eiskübel zurückgestellt wurden, erzähle ich ihnen von meinem Plan.

»Eure Songs haben ja schon diesen Discosound«, sage ich. »Und ich finde, den sollten wir noch verstärken, ein richtiges tanzbares Disco-Album daraus machen, aber natürlich mehr 21. Jahrhundert. Eure Texte, eure politische Message, werden so erst beim zweiten oder dritten Hören durchdringen. Das passiert unterschwellig, und auf diese Weise erreichen wir die breite Masse, auch die Leute, die denken, dass ihnen alles egal ist, und dann merken, dass sie sich doch für was interessieren.«

»Das gefällt mir«, sagt Daniel. »Gefällt mir sehr.«

»Ach was«, ruft Bex, die Bassistin, und knallt ihr Glas auf den Tisch, dass der Champagner herausschwappt. »Das ist genial!«

Ich schenke allen nach und sonne mich ein wenig in ihrem Beifall. Mir ist beinahe schwindelig von der Aussicht auf Erfolg. Niemand spricht es aus, aber ich spüre, dass ich ganz kurz davor bin, den Deal abzuschließen.

Erst auf der Heimfahrt, hinten im Taxi, merke ich, wie verdammt spät es ist. Schon nach sieben. Hannah wird stinksauer sein, sie predigt beinahe täglich, dass wir Alice nicht ausnutzen dürfen.

Beim Anblick des dunkelblauen Golfs vorm Haus erstarre ich. Das Auto meiner Mutter. Schreckstarr glotze ich darauf, während der Champagner durch meine Blutbahn zischt. Wie konnte das passieren? Mir fällt ein, dass sie einen Urlaub mit Malkurs an der Südküste machen wollte und meinte, sie würde auf dem Rückweg gern bei uns übernachten. Ich Idiot hatte das völlig vergessen. Mein Herz hämmert gegen meine Rippen, als ich in banger Erwartung die Haustür aufschließe.

Meine beiden Mütter sitzen zusammen am Küchentisch.

»Da bist du ja, Liebling«, sagt Christina. »Wir fingen schon an, uns Sorgen zu machen. Ist was in der Arbeit dazwischengekommen?«

»Hallo, Mum«, sage ich schwach. »Alice, es tut mir furchtbar leid. Ich wollte anrufen und Bescheid sagen, aber mein Akku war leer. In letzter Minute hat sich noch ein Treffen mit Reborn ergeben. Es sieht so aus, als wollten sie bei uns unterschreiben, und ich konnte unmöglich weg, ohne unhöflich zu erscheinen.«

»Ist schon gut, Luke. Ich verstehe das. Samuel schläft in seinem Bettchen. Deine Mutter hat ihn vor zehn Minuten hingelegt. Ich wollte gerade gehen.«

»Es war schön, Samuels Kindermädchen mal kennenzulernen«, bemerkt meine Mutter, und ich zucke zusammen, weil sich das so beleidigend, herabsetzend anhört. »Vernünftig von euch, jemand Älteres zu nehmen. Es macht Ihnen doch nichts aus, dass ich das sage, Alice, oder?« Christina lacht, Alice nicht.

»Ist schon in Ordnung.«

»Sie können so gut mit dem Kleinen umgehen. Er himmelt Sie an. Haben Sie eigene Kinder?«

O nein. Ich heule innerlich auf wie ein getretener Hund. Nein, bitte nicht. Ich suche Alice’ Blick. Der Kummer, den ich darin lesen werde, soll meine Strafe sein, aber sie sieht mich nicht an.

»Es tut mir leid, dass ich so in Eile bin, Christina«, sagt sie, die Frage übergehend. »Aber ich muss jetzt wirklich los. Ich bin noch verabredet und spät dran. Schönen Abend noch, ihr braucht mich nicht zur Tür zu bringen.«

Meine Mutter steht auf, um mir einen ihrer Luftküsse zu geben – »Hallo, Liebling« –, und mich überkommt eine plötzliche Niedergeschlagenheit, als ich die Haustür zuklicken höre.

»Weißt du, ich hatte das komische Gefühl, Alice schon mal irgendwo begegnet zu sein. Aber das ist nicht möglich, oder? Sie ist ganz anders, als ich sie mir vorgestellt habe. Wie habt ihr sie gefunden? Über eine Agentur?«

Ich kann jetzt nicht mit ihr reden, ich bekomme keine Luft vor Panik und Schuldgefühlen. Ein regelrechter Schwall von Selbstekel, der von meiner Brust in meinen Hals in mein Hirn aufsteigt.

»Mum, ich sehe mal eben nach Samuel. Du weißt doch, dass wir ihn nie in sein Kinderbett legen.«

»Ist gut, Liebling.« Meine Mutter lacht. »Aber es geht ihm bestens. Der Malurlaub war schön, danke der Nachfrage.«

Wir haben Samuels Zimmer an einem Wochenende kurz vor seiner Geburt gestrichen, zu einer Zeit also, als Alice noch nicht mehr als ein Fantasiegebilde für mich war. In einem strahlenden Zitronengelb, da wir beide nichts von den lieblichen Pastellfarben halten, die man oft für Babys nimmt. Die Fußleisten und Fensterrahmen in Lindgrün. Wir haben secondhand eine kleine Kommode gekauft, die wir orange lackiert haben, und einen Sessel und eine Leselampe für Hannah, die vorhatte, ein wenig Romanlektüre nachzuholen, während das Baby schlief – eine Idee, die im Nachhinein lächerlich naiv wirkt. In den ersten Wochen mit dem neugeborenen Samuel hatte sie kaum Zeit, sich die Haare zu bürsten, geschweige denn, Tolstoi von ihrer Leseliste zu streichen.

Ich beuge mich über das Gitter zu meinem wunderhübschen schlafenden Sohn, der einen Arm nach oben geworfen und den anderen um ein Plüschtier geschlungen hat, das ich nicht kenne. Es ist ein altmodischer Teddy mit aufgenähten Glasaugen, einer von der Sorte, die Hannah als potenziell gefährlich eingestuft und verboten hat. Ich löse ihn sachte aus Samuels Griff und setze mich damit in den Sessel. Sein Fell fühlt sich rau und verfilzt an. Einem Impuls nachgebend, drücke ich ihn an mein Gesicht und atme seinen Geruch ein. Ein bisschen muffig vom Alter, aber da ist noch etwas anderes, ein schwacher, würziger Zitrusduft. Alice’ Parfüm. Er muss einmal ihr gehört haben.

Dann aber fällt es mir wie Schuppen von den Augen, woher dieser Teddybär ursprünglich stammt.