Heute
Luke
Meine Mutter und ich machen gerade Abendessen in der Küche, als Hannah hereinkommt und eine Bombe platzen lässt.
»Ich habe heute gekündigt.«
»Oh, Hannah, bist du sicher, dass du das willst?«, fragt meine Mutter überraschend taktvoll (sie lernt dazu, wie wir alle).
»Ich bin mir noch nie so sicher gewesen. Diese ganze Situation mit Alice hat mir bewusst gemacht, wie ich mich wirklich dabei fühle, Samuel so oft anderen zu überlassen. Ehrlich gesagt, ich hasse es. Ich will nicht mehr auf so viel Zeit mit meinem Sohn verzichten.«
»Aber du bist so gut in deinem Job«, sage ich. »Und du liebst deine Arbeit.«
»Es ist ja nicht für immer. Nur bis Samuel in die Schule kommt. Und die Zeitung hat großartig reagiert. Mark hat mir einen wöchentlichen Beitrag als freie Mitarbeiterin zugesagt, und ich behalte meinen Journalistenstatus. Ich kann meine Telefonate erledigen, während Samuel schläft, und abends schreiben.«
»Also, wenn du das so siehst, freue ich mich für dich«, sagt meine Mutter. »Ich hoffe, du wirst mir erlauben, dein Einkommen aufzustocken. Und wenn ihr einen Babysitter braucht, sagt einfach Bescheid. Samuel und ich haben uns ja inzwischen aneinander gewöhnt.«
Wir haben große Fortschritte gemacht in den letzten zwei Wochen, meine Mutter, Hannah und ich. Christina hat mir praktisch allein durch diesen beängstigenden Zusammenbruch hindurchgeholfen, hat an den schlimmsten Tagen bei mir gesessen und mich zu meinen Terminen im Priory gefahren. Ich fühle mich ihr jetzt näher als während meiner gesamten Kindheit. Und ich bin stolz darauf, wie sie für Samuel sorgt, zugleich beschämt, dass ich sie für altmodisch und hinterwäldlerisch gehalten habe.
Hannah geht zu ihr hin und umarmt sie, was noch vor Kurzem undenkbar gewesen wäre.
»Christina, du bist unsere Rettung«, sagt sie. »Wir sind so froh, dich zu haben.«
Zwei bemerkenswerte Dinge passieren in meiner ersten Woche zurück in der Firma.
Gleich am ersten Tag zitiert Michael mich in gewohnt knapper Manier zu sich – »Kannst du mal kurz kommen?« –, und wie immer betrete ich sein gläsernes Büro mit einer Mischung aus Furcht und Erwartung.
»Setz dich, Luke.« Er deutet auf einen Stuhl. »Wie geht’s dir? Erzähl mir, was los war.«
»Es wurde mir alles irgendwie zu viel, schätze ich. Ist schwer zu erklären. Verschiedene Dinge zu Hause, bei der Arbeit. Der Arzt meinte, ich wäre emotional ausgebrannt, und so hat es sich auch angefühlt.«
»Kann ich verstehen. Ich habe manchmal auch Probleme mit dem Druck. Der Therapiesessel ist mir nicht fremd.«
Er lacht über meine verblüffte Miene.
»Tja, sogar ein harter alter Knochen wie ich. Okay, du wirst dich freuen zu hören, dass ich eine ausgezeichnete Rückmeldung von Reborn bekommen habe. Sie sind so kurz davor …« – er deutet einen winzigen Abstand mit Daumen und Zeigefinger an – »bei uns zu unterschreiben. Ich habe ihnen zugesagt, dass du ein Konzept zusammenstellst, um den Sack zuzumachen. Sieh zu, dass du diese Woche deine Ideen sortierst und ausarbeitest, dann können wir sie ihnen nächste Woche präsentieren.«
Dienstag, Mittwoch und Donnerstag gehe ich voll und ganz in meinen Recherchen auf. Ich höre Bowies Sachen aus den Siebzigern, Chic und James Brown, nehme die Kompositionen auseinander, horche auf Sounds, die auch im neuen Jahrtausend noch funktionieren könnten. The Dark Side of the Moon liegt ständig auf meinem Plattenteller, ebenso Dylan und die Stones. Das ist der Teil meines Jobs, den ich am meisten liebe.
Am Freitag, gerade als der Rest des Büros zum wöchentlichen Besäufnis in den Pub aufbricht, kommt ein Kurier mit einer Sendung in einer flachen, quadratischen Papphülle. So weit nichts Ungewöhnliches, wir sind eine Plattenfirma und bekommen täglich Vinyl geschickt. Doch etwas an der Handschrift auf der Vorderseite bewirkt, dass ich erst einmal lange darauf starre. Ich kenne sie irgendwoher, und mein Herz fängt schon an zu klopfen, bevor ich den Umschlag aufgemacht und eine Karte und eine alte Platte aus den Siebzigern herausgeholt habe. Das Album heißt Apparition, es kletterte damals nach dem Tod meines Vaters auf Platz eins. Ich habe meine Hausaufgaben gemacht und es nachgeprüft.
Worauf ich jedoch überhaupt nicht gefasst bin, ist das Bild von meinen jungen, schönen Eltern auf dem Cover. Die Reproduktion eines Ölgemäldes, auf dem eine jugendliche Alice den Kopf ihres Liebsten im Schoß hält. Er schläft oder tut zumindest so, die Augen sind geschlossen, die Lippen leicht geöffnet, seine langen dunklen Haare fallen ihr übers Knie. Sie lehnt an einer terrakottafarbenen Wand und trägt ein tannengrünes Kleid mit Spaghettiträgern, von denen einer über die Schulter gerutscht ist. Kühne, knallige Farben, es ist ein fantastisches Cover. Vor allem von Alice kann ich den Blick kaum abwenden. Sie lächelt nicht auf diesem Porträt, sondern blickt mit einem Ausdruck absoluter Zufriedenheit vor sich hin, ihre glatten, fast noch kindlichen Züge leuchten von einer inneren Freude.
Mit zitternden Händen klappe ich Ricks Karte auf.
Es tut mir sehr leid, wie sich die Dinge zwischen dir und Alice entwickelt haben. Ich hoffe von ganzem Herzen, dass ihr euch wieder versöhnt. In der Zwischenzeit schicke ich dir diese Platte, sie gehört dir.
Vorsichtig nehme ich sie aus der Hülle. Ich gehe damit zum Plattenspieler und lege sie mit der Sorgfalt und Andacht eines Hohepriesters auf.
Dann setze ich mich auf den Boden, an die Bürowand gelehnt, das Cover mit der Vorderseite nach oben im Schoß. Ich zwinge mich, diese beiden Liebenden anzusehen und Jacobs Stimme zu lauschen, der Stimme meines Vaters, und sage mir, während mich wieder die Trauer überwältigt, dass ich ihnen das zumindest schuldig bin.