Heute
Luke
Das Aufeinandertreffen eines erwachsenen Adoptivkinds mit einem biologischen Elternteil wird meist von einer intensiven, erwartungsvollen Hoch-Phase begleitet, ähnlich wie bei einer Liebesaffäre. Der normale Bindungsprozess, wie er in den ersten sechs Lebensjahren eines Kindes stattfindet, hat geruht und wird reaktiviert, sobald beide sich als Erwachsene wiederbegegnen.
Joel Harris, Wer bin ich? Das verborgene Trauma adoptierter Kinder
Samuel liegt auf seinem kleinen Schaffell in einer Ecke der Küche. Hannah arrangiert ständig die Blumen neu, die sie vorhin im Blumenladen gekauft hat, während ich das Apfelmus rühre, nach dem im Ofen schmorenden Schweinebraten sehe und die Kartoffeln salze, alles mit leicht hektischer Nervosität. Alice kommt heute zum Mittagessen.
Am Morgen habe ich den Farbtopf aus dem Schrank unter der Treppe hervorgeholt und jeden schwarzen Fingerabdruck und jeden Schmutzstreifen, den ich an den Wänden finden konnte, übermalt. Hannah hat die dunkelbraunen Stilmöbel abgestaubt, ein Geschenk meiner Mutter, sperrige Stücke aus Mahagoni, die eigentlich zu altmodisch für unser Zuhause sind. Vor ein paar Minuten hat sie die Diptyque-Duftkerze angezündet, die sie zum Geburtstag bekommen hat, und nun riecht es in der Küche herrlich nach einer Mischung aus Braten, Feigen und Farnkraut. Der Tisch ist mit schnell noch im Geschenkeladen um die Ecke erstandenen weißen Leinenservietten gedeckt, und ich habe sogar die Weingläser poliert. Lächerlich übertriebene Vorbereitungen, aber sie helfen uns, Ruhe zu bewahren.
Als es um eins an der Haustür klopft – sie ist pünktlich auf die Minute –, bin ich für einen Moment wie gelähmt. Ich weiß, dass ich aufmachen muss, möchte aber am liebsten in die andere Richtung davonlaufen.
»Es wird alles gut«, sagt Hannah. Sie zieht mich hinaus in den Flur und gibt mir einen sanften Schubs, damit ich vorangehe.
Ich öffne die Tür und stehe Alice gegenüber. Ein Andrang von chemischen Stoffen rauscht durch meine Adern, es ist nicht anders zu beschreiben, eine Woge starker Emotionen, die nichts so sehr gleichkommt wie dem Gefühl des Verliebtseins.
Sie trägt ein blaues Denimhemd zu weißen Jeans und hält einen Strauß Wicken vor der Brust.
»Die sind für dich.« Beim Hereinkommen drückt sie ihn Hannah in die Hand, die daran schnuppert.
»Meine Lieblingsblumen! Oh, Alice«, sagt sie und mustert meine biologische Mutter. »Luke sieht dir ja so ähnlich. Und Samuel auch.«
Ihre Stimme schwankt bedenklich, woraufhin Alice sie in eine kurze, herzliche Umarmung zieht.
»Glaub mir«, sagt sie, »ich habe in den vergangenen paar Tage kaum etwas anderes gemacht als zu weinen.«
Dann wendet sie sich mir zu. Ein kaum merkliches beiderseitiges Zögern, und wir umarmen uns ebenfalls. Schwer zu erklären, woher das kommt, diese Befangenheit, dieses »Sollen wir oder sollen wir nicht« zwischen Mutter und Sohn, wie bei einem ersten Rendezvous. Für Hannah ist es natürlich leichter.
In unserer hellen Küche entdeckt Alice sofort Samuel auf seinem Fell und stößt einen kurzen gepeinigten Schrei aus, der mir vertraut vorkommt, als hätte ich ihn vor einer Ewigkeit schon einmal gehört, als wäre er irgendwo in meinem Gedächtnis gespeichert. Wer weiß?
»Sieh dir nur deinen Sohn an«, sagt sie. »Er ist wirklich dein Ebenbild, oder? Diese Augen, mein Gott.«
Sie geht zum Fenster, um in unseren kleinen Garten hinauszusehen, dessen Miniblumenbeet in voller Blüte steht. Schwertlilien, Freesien, Rittersporn (das Werk meiner anderen Mutter, sie ist eine fanatische Gärtnerin).
»Was für ein schönes Zuhause ihr habt«, sagt sie. Ob auch Hannah merkt, wie ihre Stimme bebt, wie sie um Fassung ringt? Die Bewunderung des Gartens ist nur ein Ablenkungsmanöver, während sie versucht, sich wieder in den Griff zu bekommen.
Trotz allem verläuft dieses Mittagessen, hier in der entspannten Umgebung bei mir zu Hause und mit Hannah und Samuel dabei, vollkommen anders als unser erstes.
Die Mahlzeit ist ein voller Erfolg. Braten sind meine Spezialität, und bei diesem habe ich mich richtig ins Zeug gelegt. Das Schweinefleisch ist mit Fenchelsamen und Nelken gewürzt, die Kartoffeln sind heiße, knusprige Bissen von leichter Süße.
Innerhalb kürzester Zeit wirken Alice und Hannah wie alte Freundinnen. Sie haben die Kunst gemeinsam und eine besondere Vorliebe für Rodin. Alice erzählt, dass sie immer noch mindestens einmal pro Monat ins V&A geht, um einen Rodin-Akt zu zeichnen.
Sie unterhalten sich über die Young British Artists, Hirst, Emin, Jake und Dinos Chapman, und Charles Saatchis Ausstellung Sensation vor drei Jahren, die Hannah großartig fand und Alice furchtbar.
»Ich hasse diesen Trend zu kurzlebiger, effekthascherischer Kunst. Das Porträt von Myra Hindley hat schockiert, na und? Was hat man davon? Marc Quinn hat einen Abguss seines Kopfs mit eigenem Blut gefüllt. Billige, austauschbare Emotionen, nichts Bleibendes, nichts, was wirklich zum Nachdenken anregt, finde ich.«
Als sie von ihrer Zeit mit Richard an der Slade erzählt, höre ich gebannt zu.
»Es gab damals einen Nobelitaliener, zu dem alle gingen, also alle, die irgendwie berühmt waren, keine armen Studenten wie wir. San Lorenzo, ihr habt vielleicht davon gehört? Jedenfalls hatten die eins von Ricks Selbstporträts gekauft und im Restaurant aufgehängt, und danach fingen Sammler und Galerien an, um ihn herumzuschnüffeln, schon in unserem ersten Studienjahr. Das kommt nicht oft vor. Rick war ein Star vom ersten Tag an.«
»Wir konnten es nicht glauben, als wir herausfanden, dass er Lukes Vater ist«, sagt Hannah. »Für mich ist er der Größte.«
»Ich muss euch mal mit ihm zusammenbringen. Er möchte Luke unbedingt kennenlernen, aber wir dachten, dass es besser ist, wenn wir uns erst einmal allein treffen.«
»Warum habt ihr euch getrennt, Rick und du? Macht es dir etwas aus, wenn ich frage?«, bohrt Hannah.
»Ihr wisst sicher, dass er schwul ist?«
»Ja, aber wie …?«
»Damals war es noch so viel schwieriger, schwul zu sein, wisst ihr. Homophobie war weit verbreitet. Und Rick hoffte immer noch darauf, hetero zu werden, das war das Ziel.«
Sie unterbricht sich seufzend.
»Armer Rick. Niemand kann aus seiner Haut heraus. Du sollst wissen, Luke, dass wir dich beide behalten wollten und alles dafür getan haben. Aber mein Vater bestand darauf, dass du adoptiert werden solltest.«
»Wieso das denn? Wenn ihr mich behalten wolltet, du und Rick, was hatte er sich dann einzumischen?«
»Du müsstest meinen Vater kennenlernen, um das zu verstehen, und dazu wird es nicht kommen. Ich habe ihn seit deiner Geburt nicht mehr gesehen.«
»Wie furchtbar«, sagt Hannah.
»Er hatte die Adoptionsagentur hinter meinem Rücken eingeschaltet. Das werde ich ihm nie verzeihen. Er weigerte sich, mich finanziell zu unterstützen, und wir hätten nur zurechtkommen können, wenn Rick sein Studium abgebrochen und sich einen Job gesucht hätte. Letzten Endes konnte ich das nicht zulassen. Er musste seinen Abschluss an der Slade machen, er musste zu Richard Fields werden. Und wir beide allein wären bettelarm gewesen, du und ich, wir hätten in einer Sozialwohnung und von Sozialhilfe leben müssen, von Almosen. Das wollte ich nicht für dich, Luke. Es tut mir leid.«
Alice wirkt erschöpft nach diesem Geständnis, erschöpft und ein wenig niedergeschmettert. Hannah, die Samuel auf ihrem Schoß gefüttert hat, reicht ihn ihr spontan. Ich bemerke Alice’ Scheu, als sie den Kleinen in die Arme nimmt, es ist nur ein leichtes Zaudern, aber ich registriere es. Genauso wie den Kummer, der kurz in ihren Augen aufschimmert.
»Du lieber Himmel«, sagt sie, »wie schwer er schon ist. Wie er sich anfühlt.« Sie schnuppert an seinem Kopf. »Dieser wunderbare Babygeruch. Was ist das nur, Milch, Seife? Irgendetwas Süßes, nicht wahr? Hatte ich ganz vergessen.«
Sie trägt eine lange Kette aus schwarzen Perlen um den Hals, die Samuel mit seiner kleinen Faust packt, um daran zu ziehen.
»Hey, du kleiner Frechdachs«, sagt sie und schneidet Grimassen wie im Puppentheater, aufgerissene Augen, der Mund zu einem übertriebenen O geformt. Und Samuel lacht zum ersten Mal, ein tief aus dem Bauch kommendes Glucksen, das wir bisher noch nicht gehört haben.
»Oh Alice«, ruft Hannah, »du hast ihn zum Lachen gebracht!«
Ohne eine Spur von Verlegenheit macht Alice weiter: Augen auf, Augen zu, eine vereinfachte Version von »Kuckuck, hier bin ich«, die neues Kichern hervorruft.
»Du bist ja so ein süßer Junge.« Sie drückt ihm einen Kuss auf den Kopf.
Mir krampft sich das Herz zusammen, ich kann es nicht leugnen. Damals hätte Alice auch für mich Grimassen geschnitten.
Vielleicht denken wir alle das Gleiche in dem Schweigen, das sich auf einmal breitmacht.
Hannah beugt sich über den Tisch und sagt leise: »Ach, Alice. Du Ärmste.«
Alice schließt kurz die Augen, nickt.
»Ich habe es versucht, Luke, wirklich. Aber am Ende konnte ich dich nicht behalten. Und nachdem du fort warst, also, zu sagen, dass ich es bereut habe …«
Hannah murmelt: »Es tut mir leid«, und ich höre ihr an, dass sie mit den Tränen kämpft. Höre das, was sie ungesagt lässt. Es tut mir leid, dass ich gefragt habe. Es tut mir leid, dass es so gekommen ist, dass du deinen Sohn verloren hast.
»Du hast das Richtige für mich getan«, sage ich, obwohl ich das Gegenteil glaube. Ein Kind von seiner leiblichen Mutter trennen? Wie sollte das je das Richtige sein? Doch ich ahne, dass diese Frau, meine echte Mutter, die Wahrheit nicht verkraften könnte. »Das war tapfer von dir. Du hast mir ein Leben in Sicherheit bei einem gefestigten Elternpaar ermöglicht, obwohl es dir furchtbar schwergefallen ist.«
Alice tätschelt meine Hand, und das ist der erste unverkrampfte körperliche Kontakt zwischen uns.
»Luke«, sagt sie, »du bist zu einem sehr freundlichen Menschen herangewachsen.«