Heute
Luke
Hysterisch, rasend, außer sich – ich finde nicht die richtige Beschreibung für meine sonst so heitere, harmoniebedürftige Freundin. Sie ist am Boden zerstört durch das Verschwinden unseres Sohns. Sobald ich die Küche betrete, schreit sie mich an: »Scheiße, wo warst du denn?«, um sich dann weinend in die Arme meiner Mutter zu werfen.
»Die Polizei war gerade da«, sagt Christina über Hannahs Kopf hinweg. »Und Rick ist unterwegs, er will aber zuerst noch bei Alice zu Hause und ihrem Atelier vorbeifahren.«
»Die Polizei? Jetzt schon? Du lieber Gott. Was haben sie gesagt?«
»Sie nehmen es zum Glück ernst. Werten es als Kindesentführung, auch wenn Alice zur Familie gehört. Biologisch gesehen, jedenfalls.«
»Sind wir sicher, dass es Alice ist?«
»Natürlich, wer denn sonst!«, schreit Hannah. »Wer sonst hat einen Schlüssel? Wer sonst würde so etwas tun? Du hast selbst gesagt, dass sie total besessen ist von Samuel. Ich hoffe nur …«
Ihre Stimme versagt, und ich nehme sie in die Arme.
»Hannah?«
Sie blickt zu mir auf, auf den Wangen schwarze Schlieren vom Mascara.
»Das ist das Schlimmste, was passieren konnte, aber wir müssen jetzt stark sein für Samuel. Wir müssen einen klaren Kopf bewahren, damit wir ihn finden. Und wir müssen uns vor Augen halten, wie sehr Alice ihn liebt. Das ist immerhin etwas Gutes, stimmt’s?«
Samuel ist überall um uns herum präsent – in den sauberen Fläschchen auf der Spüle, der blauen Babywippe, für die er jetzt zu groß ist, der selbst bemalten, ungleichmäßig mit seinen winzigen Neugeborenenfüßen bedruckten Obstschale. Wir haben so gelacht an dem Tag, als wir seine nackten Füßchen in Farbtöpfe tunkten, dieser hochmütig-angewiderte Ausdruck auf seinem Gesicht beim Kontakt mit der klebrig kalten Masse.
»Wann hast du gemerkt, dass er verschwunden ist?«
Meine Mutter legt eine Hand an die Stirn, wie um zu fühlen, ob sie Fieber hat.
»Ich lege ihn immer um halb elf für sein Vormittagsschläfchen hin und wecke ihn gegen Viertel nach elf. Ich lasse ihn nie länger als eine Dreiviertelstunde schlafen. Es war so ein schöner Tag, und ich dachte, ich könnte ein bisschen mit der Gartenarbeit weitermachen. Und als ich reingegangen bin, um ihn zu holen … war er weg. Ich habe bei dir im Büro angerufen, aber die Sekretärin durfte dich nicht bei deiner Besprechung stören. Also habe ich Hannah verständigt und dann die Polizei.«
Ich sehe auf meine Uhr, es ist halb zwei. Demnach könnte er seit fast drei Stunden weg sein.
»Luke, sie sind inzwischen vielleicht sonst wo. In einem Flugzeug, Schiff, Zug. Wie sollen wir ihn je finden? Was sollen wir machen?«
»Ich finde ihn«, sage ich. »Vertrau mir, Hannah. Wir müssen rausgehen und sie suchen. Hast du es schon im Café probiert, auf dem Spielplatz?«
»Ich habe bei Stefano im Deli angerufen, aber er hat Alice seit Wochen nicht gesehen. Sarah und ihre Freundinnen suchen den Park und die Bücherei und die High Street ab. Was vermutlich zwecklos ist, sie werden nicht an den üblichen Orten sein.«
»Wir müssen überlegen, warum Alice das getan hat. Aus Rache? Um uns einen Schreck einzujagen? Oder glaubt sie tatsächlich, sie könnte ihn stehlen?«
»Traust du ihr das zu?«, fragt meine Mutter. »Sie kam mir eigentlich ziemlich vernünftig vor.«
»Unserem Kind komische alte Kleider anziehen, damit er aussieht wie Luke? Das ist wohl kaum vernünftig.«
»Aber auch nicht gefährlich«, sagt Christina. »Daran können wir uns festhalten.«
Es klopft an der Haustür, kurz und fordernd. Wir zucken alle drei zusammen.
»Die Polizei«, sagt meine Mutter.
»Ich gehe hin.«
Ich muss dringend ein bisschen Kontrolle über diese schlimme Situation zurückgewinnen. In Erwartung von zwei Polizisten reiße ich die Tür auf, sehe mich jedoch Rick gegenüber, der noch in seinen Malsachen steckt, Farbspritzer auch auf den Wangen, den Händen, in den Haaren.
»Herrgott, Luke, es tut mir leid.«
Wir umarmen uns, und jetzt kann ich zum ersten Mal weinen, spontane Tränen, die mir übers Gesicht laufen. Ungehemmt heule ich in den Armen dieses Mannes, den ich kurze Zeit für meinen Vater hielt und der immer noch alle Karten in der Hand hält.
»Ich habe in Alice’ Wohnung und in ihrem Atelier nachgesehen«, sagt er, als wir uns loslassen, »und sie zigmal auf dem Handy angerufen. Außerdem bin ich alle Orte abgefahren, die ihr was bedeuten, vorwiegend in Soho. Die Bar Italia. Kettner’s. Das French House. Niemand hat sie gesehen.«
Wir gehen in die Küche, wo Rick sich bei meiner Mutter für seinen Aufzug entschuldigt und Hannah umarmt, die wie ich in seinen Armen weint.
»Es ist eindeutig Alice, oder?«, fragt sie, und er nickt.
»Da bin ich sicher. Es ging ihr zunehmend schlechter in den letzten Monaten, und seit eurem Zerwürfnis ist sie ziemlich neben der Spur. Sie konnte nur noch über Samuel reden und dass sie sich richtig von ihm verabschieden wolle. Ich fürchte, sie durchlebt auf irgendeine verquere Art noch einmal das, was vor all den Jahren mit dir geschehen ist, Luke. Sie ist in eine Fantasiewelt abgedriftet.«
»Aber wo würde sie mit ihm hingehen? Hast du eine Ahnung?«
»Ich glaube, ja. Es ist ein Wagnis, ich könnte mich irren …«
Er zögert, bis Hannah ruft: »Sag es uns, Rick. Bitte!«
»Ich glaube, sie ist nach Southwold gefahren.«
»Southwold?«, fragen Hannah und ich wie aus einem Mund.
»Das ist doch meilenweit weg. Was um Himmels willen sollte sie dort wollen?«
Rick sieht nicht uns an, sondern meine Mutter, und sie starrt mit einem Ausdruck zurück, den ich nicht deuten kann.
»Zeit, Farbe zu bekennen, meinen Sie nicht auch, Christina?«, sagt Rick, worauf meine Mutter nickt. »Alice hat das schon einmal gemacht, versteht ihr. Nur dass du, Luke, das Baby warst, das sie entführt hat.«