Heute
Luke
Die Wiederbegegnungen zwischen Adoptivkindern und ihren leiblichen Eltern lösen zunächst meist ein trügerisches Hochgefühl aus. Es besteht Erleichterung auf beiden Seiten und der dringende Wunsch zueinanderzufinden. Wird die Entwicklung dieser neuen zerbrechlichen Bindung zu schnell vorangetrieben, kann das jedoch katastrophale Folgen haben.
Joel Harris, Wer bin ich? Das verborgene Trauma adoptierter Kinder
Wenn wir Gäste haben, bin ich immer fürs Essen zuständig, und heute habe ich beschlossen, alles möglichst einfach zu halten. Es wäre dumm, es mit Ricks Kochkünsten aufnehmen zu wollen, also habe ich einen schlichten Schmorbraten gemacht. Wadschinken von M. Moen & Sons in Clapham, drei Stunden lang in einer teuflischen Mischung aus Sherry und Rotwein gegart, zum Schluss frischen Thymian daran für einen Touch Haute Cuisine. Dazu werde ich Kartoffelpüree servieren, die cholesterinreiche Variante mit untergeschlagener Butter und Sahne, damit es so cremig und locker wird wie eine Mousse. Außerdem haben wir köstlichen Käse und jede Menge Rotwein, einen exzellenten Chianti Classico, für den ich gerade schwärme. Der Tisch ist mit unserem Lieblingsgeschirr, Blumen und sechs orangefarbenen Kerzen gedeckt, die Hannah im Design Museum erworben hat. Langsam komme ich in Partystimmung.
»So soll es sein, ein richtiges Fest«, sagt Hannah, die wie immer meine Gedanken liest. »Dass Ben und Elizabeth auch kommen, macht es zu etwas Besonderem. Wir stellen deinen besten Freund deinen neuen Eltern vor.«
Die Absurdität dieser Bemerkung bringt uns zum Lachen, und wir geben uns kurz der Ausgelassenheit hin.
»Oje«, sage ich dann, »ich muss die Kartoffeln abstellen, ehe sie zu Matsch verkochen.«
Alice kommt als Erste. Sobald sie Samuel sieht, schnappt sie ihn sich von seiner kleinen Matte, hebt sein Hemdchen an und prustet geräuschvoll gegen seinen Bauch. Wir machen das auch manchmal, aber bei Alice lacht er am lautesten. Man kann süchtig werden nach diesem Geräusch, diesem fröhlich-kehligen Glucksen. Als sie aufgehört hat, sitzt er zufrieden lächelnd auf ihrem Schoß und wartet geduldig auf den nächsten Spaß. Sie tut ihm den Gefallen und spielt »Kuckuck« hinter ihrer erhobenen Hand.
Heute hat sie ihm auch etwas zu spielen mitgebracht, einen Kraken, bei dem sich in jedem Bein ein anderes Geräusch verbirgt – ein Glöckchen, eine Rassel, das Knistern von zusammengeknülltem Papier. Es ist ein ziemlich hässliches Ding, knallblau mit schwarzen und weißen Streifen und finsterem Blick, aber Samuel liebt es. Er schnappt sich sogleich eines der Beine und lässt es nicht mehr los.
Rick trifft zwanzig Minuten später mit einem Taxi ein. Er überreicht mir eine Flasche Champagner und sagt: »Ich hatte eigentlich vor, das Auto zu nehmen, habe es mir aber anders überlegt für den Fall, dass wir uns besaufen wollen.«
»Wäre direkt unhöflich, es nicht zu tun«, entgegne ich und zeige auf die Reihe der sechs Weinflaschen auf der Arbeitsplatte in der Küche.
»Oh, Rick, sieh nur, Chianti Classico«, sagt Alice. »Die Etiketten sehen immer noch genauso aus.«
»Den haben wir immer in Italien getrunken«, erklärt Rick. »Alice hat mal einen ganzen Sommer dort verbracht, und ich habe sie besucht. Ist schon lange her.«
Ich höre da etwas heraus, mehr als Nostalgie, eher eine Spur von Melancholie bei beiden. Doch es bleibt keine Zeit nachzuforschen, denn Ben und Elizabeth kommen gerade hereingewirbelt, wie immer lärmend und aufgeregt plappernd. Ben steckt in seinem gelb-schwarz karierten Rupert-Bear-Anzug, den er vor zehn Jahren mal in einem Caritas-Laden gekauft hat und seitdem unerbittlich trägt, und Elizabeth hält einen riesigen Blumenstrauß und einen selbst gebackenen Schokoladenkuchen in den Händen.
Ben und Rick fangen sofort ein Gespräch miteinander an, und während ich herumflitze, Wein einschenke, nach dem Braten sehe und die Kartoffeln zerstampfe, spitze ich die Ohren.
»Ich habe mir heute Morgen deine Website angesehen«, sagt Rick. »Gefällt mir, was du machst. Bist du bei einer Galerie unter Vertrag?«
Mit leisem Stolz höre ich Ben erzählen, dass er bereits zwei Einzelausstellungen in London und eine in New York hatte.
»Setzt euch, wohin ihr wollt«, sage ich, als ich den Braten zum Tisch trage. Ben und Rick nehmen am einen Ende Platz, während Alice, Hannah und Elizabeth sich um das andere gruppieren. Ich hocke mich in die Mitte, die perfekte Position, um an beiden Unterhaltungen teilzunehmen.
Braten und Wein werden für gut befunden, und der Geräuschpegel steigt und steigt, wie immer, wenn alte Freunde zu Besuch sind. Schon jetzt gibt es da eine seltsame Vertrautheit im Umgang mit Rick und Alice, als hätten wir seit Jahren Kontakt miteinander.
Hannah bemerkt das offenbar auch, denn ich höre sie zu Alice sagen: »Verrückt, wie schnell du Teil unserer Familie geworden bist. Es ist, als würden wir uns schon ewig kennen.«
Diese kleine Illoyalität meiner Freundin gegenüber meiner Adoptivmutter schmerzt mich ein wenig. Hannah und ihre Familie, diese unkonventionellen Freigeister von der Küste, haben lange vergeblich versucht, mit Christina warm zu werden.
Als Hannah schwanger wurde, und wir beschlossen, das Baby zu behalten, luden ihre Eltern meine Mutter und mich zu sich nach Cornwall ein. Ich war vorher schon einmal dort gewesen, über ein wunderbares Wochenende, an dem ich surfen lernte und Hannahs Mutter Maggie uns zu einem Spaziergang über die Klippen mitnahm und mir die Namen der dort wachsenden Wildblumen erklärte. Abends machten wir ein Feuer am Strand und tranken heißen Cider aus einer Thermosflasche, und als die Flut einsetzte, watete Peter, ihr Vater, mit uns durch die Höhlen in der Nähe, ein gefährliches Unterfangen im Licht einer Taschenlampe, bei dem wir am Ende bis zum Hals in eiskaltem Wasser standen. Auf der Zugfahrt zurück nach London fühlte ich mich merkwürdig beraubt und sehnte mich nach einer Gegend und einer Familie zurück, die ich gerade erst kennengelernt hatte.
Als meine Mutter zu Besuch kam, traf sie nach der achtstündigen Fahrt von Yorkshire mit ihrem Jack Russell auf dem Beifahrersitz ihres Golfs ein. Sie allein irgendwo ankommen oder abfahren zu sehen macht mich immer ganz traurig, ich kann es nicht ändern. Und als sie Hannahs herrlich abgewohntes Elternhaus betrat und im Flur über Surfboards und hingeworfene Neoprenanzüge hinwegstieg, schien auch das Übersprudelnde der Familie nach und nach zu versiegen. Sie hatten mit einem selbst gebackenen Karottenkuchen und der gefüllten Teekanne auf sie gewartet, voller Vorfreude auf das bevorstehende Treffen, das Ausmalen unserer gemeinsamen Zukunft, das Reden über den Familienzuwachs. Doch die Förmlichkeit meiner Mutter (hinter der sie ihre Schüchternheit verbirgt, wie ich vermute) schlug allen auf die Stimmung, und auf einmal benahm sich niemand mehr wie sonst. Peter, einer der besten Gesprächspartner, die ich kenne, brachte nur ein, zwei Fragen nach ihrer Fahrt heraus, während Maggie ein paar Themen anschnitt – Gartenarbeit, Tony Blair, das marode staatliche Gesundheitssystem – und eines nach dem anderen wieder fallen ließ, bis praktisch Schweigen herrschte. Ich war hin- und hergerissen. Wollte so gern zu dieser Familie gehören, fühlte mich aber wie durch einen Meeresarm von ihr getrennt, meine Mutter und ich auf der einen Seite, die rotwangigen, lockenköpfigen Robinsons auf der anderen. Ich möchte nicht auf der Insel meiner Mutter leben, will sie aber auch nicht allein dort zurücklassen. Schon kompliziert, ich zu sein.
Während dieses Essens nun, bei dem es mit jeder Flasche Wein lautstarker und lustiger zugeht, lehne ich mich zwischendurch einfach zurück und genieße es zuzuhören. Will es auf mich wirken lassen, wie meine alten, neuen Eltern sich mit meinem besten Freund unterhalten. Rick und Ben sprechen natürlich über Porträtmalerei und was nötig ist, damit ein Bild die Zeit überdauert.
»Ich denke immer, dass gute Kunst sich erst im Laufe der Zeit offenbart«, sagt Rick. »Das ist es auch, was Sammler wollen. Sie wollen ein Werk, das bei jedem Betrachten ein bisschen mehr von seinem Entstehungsprozess preisgibt. Für jede Stunde Arbeit an einem Bild versuche ich, eine nur mit Schauen zu verbringen. Das Entscheidende ist, was man bemerkt, wenn man dann weitermalt.«
»Rick, wenn ich dir so zuhöre – genau deshalb solltest du ab und zu mal ein Interview geben«, sagt Hannah. »Die Leute finden es spannend, etwas über diesen Prozess zu erfahren.«
»Ach, ich hasse die Presse. Ich brauche sie nicht, meine Arbeiten verkaufen sich auch so. Warum sollte ich der Öffentlichkeit etwas über mein Privatleben erzählen?«
»Weil du in gewisser Weise sowieso zum Gemeingut zählst. Die Leute sind fasziniert von dir, deiner Kunst, deinen Einflüssen und Inspirationen. Ist es nicht ein bisschen hartherzig, solche Dinge nicht mit anderen zu teilen?«
»Ich teile sie durchaus. Es gibt immer eine Pressemitteilung vor jeder Ausstellung.«
»Ach, ich bitte dich. Richard Fields, der Mensch hinter den Porträts – den kennt niemand. Es ist praktisch nie etwas Wahres, Ehrliches über dich veröffentlicht worden, alles nur Spekulation.«
»Vielleicht könnte Hannah dich ja mal interviewen?«, mischt Alice sich ein. »Ihr kannst du vertrauen, sie würde nichts schreiben, mit dem du nicht einverstanden bist.«
»Oh, Rick, würdest du das tun? Ich wollte dich schon die ganze Zeit fragen, habe mich aber nicht getraut. Du würdest auch alles vorher absegnen, es geht nichts ohne deine Zustimmung raus.«
Hannahs Gesicht leuchtet so hoffnungsvoll, wie könnte er da widerstehen? Alle Blicke sind auf ihn gerichtet, während er überlegt, und es ist offensichtlich, wie sehr er mit sich hadert. Doch schließlich lächelt er.
»Okay, Hannah, gern. Für dich mache ich eine Ausnahme. Vielleicht habe ich ja sogar Spaß daran. Wann sollen wir loslegen?«
»Ich fange in zwei Wochen wieder an zu arbeiten, und es wäre fantastisch, wenn ich gleich etwas präsentieren könnte. Mein Chef wird Augen machen …«
»Habt ihr eigentlich inzwischen eine Tagesmutter gefunden?«, fragt Elizabeth.
»Nein, keine, die wir mögen und uns leisten können. Langsam bekomme ich Panik deswegen. Immerhin würde Lukes Mutter« – sie zögert kaum merklich bei dem Wort – »einspringen, wenn es hart auf hart kommt.«
Samuel sitzt wieder auf Alice’ Schoß und spielt mit ihrer langen Jettkette, schmiegt seinen Kopf an ihre Brust. Wir denken bestimmt alle dasselbe, doch es ist Elizabeth, die es ausspricht.
»Sieh nur, wie wohl er sich bei dir fühlt, Alice. Schade eigentlich, dass du dich nicht um ihn kümmern kannst.«
Eine Art Beben geht um den Tisch, und Hannah und ich vermeiden es, uns anzusehen.
»Ach, du meine Güte, wäre das nicht toll? Er ist so ein entzückendes Kind. Ich überlege, ob es nicht vielleicht eine Möglichkeit gibt.«
»Meinst du wirklich, Alice?«, fragt Hannah. »Selbst so kurzfristig? Ich wäre überglücklich, ihn bei dir lassen zu können.«
»Ich würde euch gern helfen.«
»Wir würden dich natürlich bezahlen.«
»Aber was ist mit deiner Arbeit, Alice?«, fragt Rick dazwischen.
»Pah. Köter von reichen alten Damen malen? Das kann ich im Schlaf, wie du weißt.«
»Ich bin nicht sicher, ob das so eine gute Idee ist. Du hast selbst gesagt, dass du dir Zeit lassen willst.«
»Aber hat der Gedanke, dass Alice sich um den Sohn ihres Sohnes kümmert, nicht etwas Wunderbares?«, wirft Elizabeth ein. »Als würde sich ein Kreis schließen.«
Neues Schweigen am Tisch. Alice haucht einen Kuss auf Samuels Kopf.
»Es muss sehr schwer für dich gewesen sein, Luke wegzugeben«, sagt Elizabeth, und ich merke, wie Alice um Fassung ringt. Ein Kampf, den ich gerade selbst durchmache.
»Das könnt ihr euch nicht vorstellen.«
Der Schmerz in ihrem Gesicht ist kaum zu ertragen. Ich habe Elizabeth sehr gern, aber für eine Frau, deren Beruf eine hohe soziale Kompetenz voraussetzt, kann sie unglaublich taktlos sein.
Alice hat mit ihren Armen eine Wiege für Samuel geformt, seine Füße und der Kopf ruhen auf ihren Ellbogen. Als sie seine Wange streichelt, strahlt er sie an.
»Ist schon verlockend, mein Vögelchen, nicht?«, sagt sie, worauf Hannah nicht mehr zu halten ist und vom Tisch aufspringt.
»Luke, wäre das nicht die ideale Lösung? So, jetzt trinken wir Tee und essen was von Elizabeths köstlichem Kuchen«, sagt sie, und mir scheint, sie verkneift es sich gerade noch hinzuzufügen, »um das zu feiern«.